9punkt - Die Debattenrundschau

Ins freundliche Neu-Hanau

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2015. Botho Strauß erklärt im Spiegel, warum er lieber als letzter Deutscher in Brandenburg verkümmern würde, als "mit fremden Völkern aufgemischt" zu werden. Wesentlich nüchterner antwortet Armin Nassehi in der Welt auf die Frage: Einwanderung ja, aber auch Integration. Heise.de gratuliert der Free Software Foundation zum Dreißigsten. Brendan O'Neill blickt im Spectator erschüttert in die Abgründe der Political Correctness. Politico.eu schildert dänische Stimmungsschwankungen zehn Jahre nach den Mohammed-Karikaturen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.10.2015 finden Sie hier

Europa

Im aktuellen Spiegel gibt sich Botho Strauß als den "letzten Deutschen". Er beklagt den Verlust einer deutschen Geistesidentität, die "immer herrschüchtiger werdenden politisch-moralischen Konformitäten", die Hegemonie der Ökonomie selbst bei deren Kritikern und schließlich auch ein forciertes "Gutheißen und Willkommen": "Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen." (online gibt es nur eine knappe Zusammenfassung des Essays).

Dirk Pilz (Berliner Zeitung) bekommt in seiner mit Zitaten gespickten Zusammenfassung das kalte Grausen: Der Schriftsteller wünsche sich ein Land, "in dem das Strauß"sche Subjekt sich nur mit Seinesgleichen umgibt und die sonstige Gegenwart als Gegenstand der Verachtung dient. Dergleichen nennt man Ressentiment. Man kann es im Falle des großen Dichters Strauß auch Tragik nennen: das Verscherbeln der Dichtung ans Dumpfe." Thomas Steinfeld findet den Text in der SZ dagegen gar nicht so schlimm, wie der Spiegel mit dem Verweis auf Straußens kontroversen Bocksgesang von 1993 es gerne hätte: Strauß richte sich seiner Ansicht nach "zuerst gegen die Ökonomie und die Spekulation, um dann eine Vorstellung von "Volk" dagegenzustellen, die nicht politisch sein, sondern aus Wissen, Dichtung und Gelehrsamkeit bestehen soll."

Wesentlich nüchterner als Strauß argumentiert der Soziologe Armin Nassehi in der Welt: "Es ist legitim, dass die Bundesrepublik Einwanderung nach selektiven Kriterien regelt. Sollte das Ziel tatsächlich sein, die demografische Schieflage in Deutschland durch Einwanderung zu lösen, haben wir eher zu wenig als zu viel Einwanderung. Mehr Einwanderung freilich darf es nur geben, wenn zugleich eine aktive Integrationsstrategie gefahren wird, die auch von den Ankömmlingen etwas verlangt."

In der NZZ warnt Necla Kelek davor, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen: "Die Muslime müssen unsere Werte akzeptieren lernen. Sie sollen die Freiheit des Einzelnen und das Recht auf Religion ebenso erfahren wie das Recht anderer billigen, frei von Religion zu leben. Gelingt dies nicht, werden sie sich in eine Parallelgesellschaft zurückziehen, wie die Erfahrung zeigt."

Christian Geyer erwartet in der FAZ von der Kanzlerin "ein klares Signal, dass die Aufnahmekapazitäten nun absehbar erschöpft sind... Es geht nicht gegen Ausländer, es geht nicht gegen das Asylrecht, es geht gegen die schiere Zahl von Flüchtlingen, die zum Kollaps der Verwaltung führt, wenn eine Begrenzung nicht gelingt."

Zehn Jahre nach den Mohammed-Karikaturen schildert Jacob Mchangama in Politico.eu die Stimmungsschwankungen in Dänemark. Nach dem Massaker bei Charlie Hebdo waren alle Charlie. Dann drehte der Wind wieder: "Der öffentlich-rechtliche Sender Dänemarks verpflichtete seine Journalisten, keine Karikaturen ohne vorherige Autorisierung durch die Leitungsebene zu veröffentlichen. Als ein Journalist diese Anweisung ignorierte und in einem Live-Interview mit Flemming Rose von Jyllands Posten Zeichnungen zeigte, wurde er von seinem Redakteur gerüffelt. Lars Refn, Vorsitzender des dänischen Karikaturistenverbands sagte, dass kein Medium mehr die Karikaturen veröffentlichen dürfe, weil dies einem "terroristischen Anschlag auf alle Muslime in der Welt" gleichkäme. Das sind 1,6 Milliarden Leute."
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Ideen

Brendan O"Neill attackiert in einer Rede, die im Spectator abgedruckt ist, die an britischen und amerikanischen (und wohl auch deutschen) Universitäten um sich greifende Political Correctness, die immer mehr sprachliche Rücksichten fordert: "Das ist das große Paradox der Political Correctness: Sie gibt sich als fair und nett und süß und besorgt und diffamiert dabei so gut wie jeden. Sie behandelt jeden als zerbrechlichlich und leichtgläubig, schwach und böse. Sie zeichnet alle "weißen Männer" - ja, sie benutzt diese Schablone - als selbsternannte Vergewaltiger. Sie behandelt alle "schwarzen Frauen" - ja, sie glaubt, alle schwarzen Frauen seien gleich - als Wesen, die sich von sexistischer und rassistischer Sprache belagert fühlen. Sie sieht alle Muslime - eine Bevölkerungsgruppe, die so vielfältig ist wie alle anderen - als weniger kritikfähig und humorloser als, sagen wir, weiße Christen." Ebenfalls im Spectator schildert O"Neill die Diskussion, die nach dieser Rede am Trinity College in Dublin stattfand und in der Asghar Bukhari vom Muslim Public Affairs Committee Applaus bekam, nachdem er sagte, Charlie Hebdo sei selbst schuld.
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Überwachung

In der taz spricht der Leiter des ZKM Karlsruhe, Bernhard Serexhe über die Ausstellung "Global Control and Censorship" und prangert die total gewordene Überwachung an: "Für mich ist das keine Demokratie, sondern eine Form des smarten Totalitarismus. Jeder darf ein Smartphone benutzen und kommunizieren, mit dem er will - das schon. Jeder gibt seine Daten preis. Offensichtlich ist es so, dass sich viele keine Gedanken mehr darüber machen, was sie dafür in Kauf nehmen: dass die Demokratie abgeschafft wird. Sie wissen es zwar, aber das ist halt so, ich habe ja nichts zu verbergen, ist die Haltung."

In der SZ weist der Berliner Richter Ulf Buermeyer darauf hin, dass sich im neuen Gesetzesentwurf zur Vorratsdatenspeicherung ein brisanter Passus verbirgt, zur "Datenhehlerei". Strafrechtlich, meint Buermeyer, mache das keinen Sinn, denn bei kopierten Daten sei nicht der Besitz das Problem, sondern was man damit anstelle: "Tatsächlich handelt es sich um den eindeutigen Versuch, den Umgang mit Daten, wie sogenannte Whistleblower ihn pflegen, möglichst weitgehend zu kriminalisieren. Denn welches Verhalten wird künftig klar unter Strafe gestellt? Zum Beispiel, dass ein Journalist Daten, die er auf vertraulichem Weg von einem Whistleblower erhalten hat, vertraulich an Experten zur Prüfung oder an einen Zeitungsredakteur zur Einschätzung übergibt."
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Geschichte

Arno Widmann erinnert in der FR an die Aufnahme der aus Frankreich fliehenden Hugenotten, die selbst dem lutherischen Magistrat in Frankfurt mehr als unwillkommen waren: "Als reformierte Christen mussten sie eine zusätzliche Steuer zahlen. Sie durften in der Stadt nicht nur keine Kirche haben. Sie durften nicht einmal Gottesdienste abhalten. Als der Magistrat dann noch versuchte, einige der reicheren Zugezogenen zu zwingen, Frankfurter Bürgertöchter zu ehelichen, wichen viele ins freundliche, aber kommerziell natürlich nicht so interessante Neu-Hanau aus... Wer diese und die späteren Hugenottenansiedlungen betrachtet, dem ist bald klar, dass die entsprechenden Verordnungen zwar Toleranzedikte heißen. Dass es in Wahrheit aber um Einrichtungen ging, die mehr mit der chinesischen Wirtschaftssonderzonen der letzten dreißig Jahre zu tun haben, als mit irgendetwas, was wir uns unter einem Toleranzedikt vorstellen."
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Politik

Die Terroristen des Islamischen Staats haben einen weiteren Triumphbogen in Palmyra gesprengt, meldet Spiegel online: "Wie der Direktor der syrischen Antikensammlungen, Maamoun Abdulkarim, mitteilte, bestätigten Quellen in der Stadt die Zerstörung der historischen Stätte."
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Internet

Leonhard Dobusch stellt bei Netzpolitik.org die Open Library of Humanities (OLH) vor, die einen freien Zugang zu geisteswissenschaftlichen Texten ermöglichen will: "Die Finanzierung erfolgt durch Mittel von Wissenschaftsbibliotheken und anderen Förderern, die unter den bisweilen horrenden Abogebühren klassischer Zeitschriften leiden. Den Aufbau der OLH haben Stiftungen wie die Andrew W. Mellon Foundation unterstützt. Deutsche Einrichtungen zählen bislang nicht zu den Finanziers der OLH."

Die Free Software Foundation, ohne die das Internet in seiner heutigen Form nicht entstanden wäre, wird dreißig Jahre alt. Oliver Diedrich gratuliert bei heise.de und skizziert nochmal das Programm der Bewegung und seine Gefährungen: "Die größten Gefahren für diese Freiheiten erwachsen heutzutage ... nicht mehr aus Unternehmen, die mit Software Geld verdienen wollen - für fast alle proprietären Anwendungen sind freie Alternativen verfügbar. Wichtiger sind mittlerweile technische Entwicklungen wie die zunehmende Verbreitung von Digital Rights Managment - von der FSF interpretiert als Digital Restrictions Management -, das Anwender darin beschränkt, was sie mit ihren Computern tun dürfen."
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