9punkt - Die Debattenrundschau

Für unser politisches System eine rote Linie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2015. Alle begrüßen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Datenschutz. Nutznießer sind nun allerdings die nationalen Datenschutzagenturen, ergänzt politico.eu. Der Iran droht mit Boykott der Frankfurter Buchmesse, weil Salman Rushdie dort reden soll, berichtet der Guardian. Alle Identitäten verwischen sich, nur dass Schwarze schwarz sind, ist den Diskurswächtern wichtig, wundert sich Wesley Morris in der New York Times. Ilija Trojanow hat in der taz einen klaren Schuldigen für die vielen Flüchtlinge ausgemacht: Wir sind es gewesen wegen des von uns verschuldeten Kapitalismus. Die taz fragt aber auch, was Linke gegen Religionskritik haben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.10.2015 finden Sie hier

Ideen

In der Welt ist Richard Kämmerlings ziemlich angewidert von Botho Strauß" Polemik gegen die Flüchtlinge und "gegen die "Aufmischung" des deutschen Volkes "mit fremden Völkern" zu einem "vitalen"", so der Dramatiker im Spiegel. "Einmal ist die Rede vom "grundsätzlich amusischen Andersgearteten", von dem "man" verdrängt werde, gleich danach kommen die "Islamisten" und dann die "Mediasten, Netzwerker, Begeisterte des Selbst". "Aufmischung", "andersgeartet"? Habermas hat sich einmal als "religiös unmusikalisch" bezeichnet. Sollte ausgerechnet Strauß, der Dichter der Überlieferung, historisch so unmusikalisch sein?"
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Stichwörter: Flüchtlinge, Strauß, Botho

Überwachung

Der Europäische Gerichtshof hat ein klares Urteil gegen das Horten der Daten von Europäern in den USA gefällt. Und Svenja Bergt fasst es in der taz in seiner dankenswerten Einfachheit zusammen: "Ja, das, was die USA praktizieren, ist Massenüberwachung. Ja, das widerspricht den Grundrechten europäischer BürgerInnen. Daher sind persönliche Daten in den USA nicht geschützt und gehören dort folglich nicht hin. Ist eigentlich nicht so kompliziert."

Die Entscheidung hat auch eine Kehrseite, schreibt Nicholas Hirst in politico.eu, der das Urteil als Ohrfeige für die Europäische Kommission ansieht. "Klare Nutznießer des Urteils sind die neu legitimierten und sehr ambitionierten nationalen Datenschutzagenturen. Zumindest wenn man die enorm ansteigende Arbeitsbelastung als einen Gewinn ansieht. "Das Urteil hält fest, dass unabhängige Datenschutzbehörden ein Schlüsselspieler im Schutz dieser Rechte sind", jauchzte die spanische Behörde. Vor fünf Jahren hatte diese Behörde das Recht durchgesetzt, bestimmte Links aus Suchresultaten bei Google zu entfernen und erstritt vor dem Europäischen Gerichtshof das "Recht, vergessen zu werden"."

In der SZ kommentiert Heribert Prantl: "Dieser Tag des Urteils ist ein guter, großer Tag für Europa."
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Kulturpolitik

In der FAZ resümiert Patrick Bahners die aktuellen Münchner Debatten um einen Konzertsaal in der Stadt.
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Stichwörter: München, Bayern

Medien

Der Rechercheverbund von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR, der der SZ viel kostenlose Reklame in den Öffentlich-Rechtlichen und diesen ein bisschen Glamour bringt, findet Nachahmer in einem Verbund zwischen SWR und der Allgemeinen Zeitung aus Mainz, berichtet Björn Czieslik bei turi2. Es klingt nach einem genauso dubiosen Gekungel wie beim Vorbild: "Laut einem SWR-Protokoll, das die Rhein-Zeitung veröffentlicht, beruht die Kooperation auf zwei Säulen: SWR und AZ wollen Themen setzen, diese gemeinsam recherchieren und die Erkenntnisse dann abgestimmt veröffentlichen. Eigene Exklusiv-Recherchen sollen an das jeweils andere Medienhaus weitergeben und mit "gemeinsamer Nachrichtenlinie" verbreitet werden." Andere Zeitungen in der Gegend sind begreiflicher Weise sauer.
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Gesellschaft

Die schwedische Autorin Johanna Holmström findet bei resonanzboden.com, dass es im Westen eine klare Entsprechung zur Unterdrückung muslimischer Frauen durch das Kopftuch gibt, und das seien "die kollektiven, indirekten Forderungen, die die moderne westliche Gesellschaft an die Frauen stellt. Die Forderungen, die durch diese ganze Maschinerie kapitalistischer Denkart hindurchschimmern, in Form von Werbung, Filmen, Dokumentationen usw., die Frauen unablässig mit subtilen bis unverhohlenen Botschaften bombardieren, wie sie auszusehen haben. Der Staat muss gar nicht dafür sorgen, dass Frauen, die nicht attraktiv genug sind, offen und direkt bestraft werden, denn sie werden indirekt und im Verborgenen bestraft."

In der NZZ kann Andrea Köhler es nicht fassen: Während an einigen amerikanischen Unis die Klassiker zensiert werden, damit Studenten nicht von bösen Ideen beunruhigt werden, wurde in Texas vor vier Monaten per Gesetz das Tragen von Waffen auf dem Campus erlaubt.

Gerhard Matzig fordert in der SZ "neuen sozialen Wohnungsbau": "Das Wohnen ist ein öffentliches Anliegen, es kann nicht allein der Privatwirtschaft überantwortet werden. Die Privatisierung städtischer Wohnbauträger in den letzten Jahren war ein Fehler. Weiter dienen die grotesk detaillierten Bauvorschriften vor allem der Bauindustrie - in ihrem bürokratischen Furor stehen sie preisbewusstem wie flexiblem Wohnraum im Weg. Zuletzt: Wer den sozialen Frieden bewahren möchte, und alles andere ist ein übrigens auch jenseits der Humanität kostenintensiver Albtraum, muss das Wohnen auf Platz eins der Agenda setzen."

Für Wesley Morris in der NY Times war dies das Jahr, in dem wir eine Identitäts-Obsession entwickelten. Er kommt nochmal auf die Debatte um Rachel Dolezal (die gerade von Rihanna als "eine Art Heldin" beschrieben wurde) zurück, der von den Diskurswächtern anders als Transgender-Menschen kein Shift in ihrer Identität gestattet wurde und die ihn fragen lässt, "ob schwarz zu sein in Amerika nicht die einzige Identität ist, die sich niemals verändert. Ich glaube an meine komplette individuelle Autonomie, ich fühle mich frei. Aber ich weiß auch, dass diese Autonomie begrenzt, illusorisch, bedingt ist. Mir ist bewusst, dass die Bedeutung meines Schwarzseins für mich selbst immer auch im Konflikt stehen kann, mit dem, was weiße Beobachter darin sehen. So lebe ich mit zwei identitäten, meiner eigenen und der von den anderen wahrgenommenen."
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Europa

Diese Drohung kommt gleich nach künftig zu fürchtenden Atomschlagsdrohungen: Der Iran droht mit einem Boykott der Frrankfurter Buchmesse, weil Salman Rushdie dort reden soll, berichtet Saeed Kamali Dehghan im Guardian und zitiert den iranischen Kulturminister Seyed Abbas Salehi: "Dies wurde von der Frankfurter Buchmesse organisiert und überschreitet für unser politisches System eine rote Linie. Wir betrachten diese Entscheidung als antikulturell." Iranische Verleger könnten sich infolge des Boykotts nicht in Frankfurt präsentieren.

Jan Feddersen antwortet in der taz auf Artikel wie den seines taz-Kollegen Daniel Bax, der Hamed Abdel-Samad für sein religionskritisches neues Buch "Mohamed - Eine Abrechnung" in Spiegel Online als eine Art Sarrazin mit Migrationshintergrund und nützlichen Idioten der Rechtsextremen abgefertigt hatte (unser Resümee), und fragt: "Warum stoßen Bücher von Menschen, die unter dem Islam gelitten haben, auf so wütende Ablehnung der Linken? Weiß es der weiße Mann wieder mal besser?" Und weshalb "nahm kein Rezensent die Mühe auf sich, (am besten: sich) die Frage zu stellen, ob der Autor nicht ziemlich gute Gründe hat, die Welt zu sehen, wie er sie sieht: nicht gerade islamfreundlich."

Bei Twitter viel zitiert: Eine bei zeit.de vorgebrachte Polemik des Bundesrichters Thomas Fischer gegen Heinrich August Winkler, der bei Anne Will eine Einschränkung des Asylrechts gefordert hat.
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Politik

Baschar al-Assad, Boko Haram oder der Islamische Staat spielen in Ilija Trojanows taz-Kolumne keine Rolle. Schuld an den vielen Flüchtlingen ist ausschließlich der Westen: "Die Berichte über das Voranschreiten der Wüste in der gesamten Sahelzone, über Landgrabbing in vielen Regionen Afrikas, über Waffenlieferungen großen Stils seitens der Rüstungskonzerne in führenden Ländern der Nato und nicht zuletzt die Angriffskriege im Nahen Osten hätten uns schon früh auf die kommenden Fluchtbewegungen hinweisen müssen."
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