9punkt - Die Debattenrundschau

Die Indifferenz ist überwältigend

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2015. Im Blog lesenmitlinks.de erklärt der Historiker Peter Trawny, wie man über Heidegger forscht, wenn man institutionell nicht angebunden ist. Politico.eu stellt die römische Eliteschule Vivarium Novum vor, wo Studenten (aber nicht Studierende) auf Latein parlieren lernen. Die NZZ skizziert das Eigenleben der Big Data in der Wissenschaft. In der FAZ erklärt der Historiker Manfred Hettling, warum er am liebsten deutsche Einwanderer hätte. Die Welt verteidigt Timothy Snyder. Und Historiker streiten über die "lange Dauer".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2015 finden Sie hier

Ideen

Jan Drees unterhält sich in seinem Blog lesenmitlinks.de mit Peter Trawny, dem Herausgeber der "Schwarzen Hefte", die Heideggers Antisemitismus ein für alle Mal bewiesen haben. Wie sich herausstellt, ist Trawny institutionell gar nicht angebunden - ein Fall von akademischem Prekariat: "Ich finanziere mich über Vortragshonorare, über Bücher, über alles, was ich kriegen kann. Die Art des Freilebens hat den Vorteil, dass ich anders als ordentliche Professoren mehr oder weniger frei von irgendwelchen Verwaltungsfragen bin. Trotzdem ist die Situation unerträglich." Und Hilfe von der Uni Wuppertal? "Es gibt einen Raum - ohne Computer. Die Indifferenz ist überwältigend."

Eine große Geschichtsdebatte? Gaelle Verdy stellt in Nonfiction.fr eine Nummer der berühmten Geschichtszeitschrift Annales vor, die sich mit einem vor einem Jahr lancierten und online zu lesenden "History Manifesto" der Historiker Jo Guildi und David Armitage befasst. Diese beiden Historiker wiederholen in der Annales-Nummer ihre These, dass Historiker heute zu wenig über die "lange Dauer" nachdenken (einen zentralen Begriff der Annales-Schule) und zu kleinteilig und spezialistisch werden. Aber "insgesamt sind sich die Autoren der Annales in dem Vorwurf einig, dass die Autoren ihren Begriff der 'langen Dauer' nicht ausreichend definieren, dass sie Temporalitäten wie 'kurze Dauer' und 'longue durée' gegeneinander ausspielen, statt sie als Ergänzung zu sehen. Das wichtigste aber seien die Beziehungen der Geschichtswissenschaft zu anderen Sozialwissenschaften."

Mit Verve schreibt in der Welt Dirk Schümer gegen beleidigte deutsche Akademikerreaktionen auf Timothy Snyders neues Buch "Black Earth" an: "Warum traut sich erst der Yale-Historiker Snyder, die irrwitzige Verschlingung sowjetischer und nationalsozialistischer Massentötungen fein säuberlich aufzuarbeiten?"
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Medien

Der Aggregationsdienst Blendle wird den Zeitungen nichts nützen, weil er sie in die Konkurrenz führt, meint Daniel Leisegang von den Blättern: "Grund dafür sind die unterschiedlichen Strategien der Verlage: So kosten die Artikel der Süddeutschen Zeitung oder des Spiegel fast durchweg 79 bzw. 75 Cent; Beiträge der Zeit oder der Welt am Sonntag hingegen nur etwa ein Drittel. Offenbar plagt nicht alle Verlage die Sorge, mit niedrigen Artikelpreisen die eigenen Abonnements zu kannibalisieren. Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die Verlage - um auf dem Blendle-Marktplatz zu bestehen - ihre Preise nach unten angleichen werden."

Sehr viel zitiert heute auf Twitter: Der Amazon-Manager Jay Carney antwortet in Medium auf einen New York Times-Artikel über den Online-Händler und wirft der Zeitung Manipulationen vor. Dean Baquet, Chefredakteur der New York Times, hat bereits geantwortet. Und hier eine grandiose Spiegel Online-Überschrift, die es verdient festgehalten zu werden: "Westjordanland - Palästinenser sterben bei Messerattacken auf Israelis".

Ein Moderator muss auch schon etwas leisten, meint Ulrike Nimz in der SZ im Rückblick auf die Jauch-Sendung mit dem AfD-Mann Björn Höcke, der ungebremst agieren konnte: "Die Sendung ist fast gelaufen, als Höcke noch einmal auf die angebliche Gleichschaltung der Öffentlich-Rechtlichen zu sprechen kommt und Jauch vorwirft: 'Sie haben sich selbst konditioniert.' Statt die Behauptung zurückzuweisen, tut Jauch das Falsche. Er fragt einfach nur: 'In welche Richtung?'"
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Europa

Schuldzuweisungen helfen nicht, weiß Götz Aly in der Berliner Zeitung, den Flüchtlingen muss geholfen werden. Aber wenn er gefragt werden würde, dann würde er die Flüchtlinge nach dem Verursacherprinzip in Europa verteilen, also alle Flüchtlinge, die über Libyen einreisen, nach Italien oder Frankreich zu schicken, deren Bombardements das Land ins Chaos gestürzt hätten: "Auch unser heutiger Bundespräsident pries seinerzeit die angeblichen Freiheitskämpfer in Libyen überschwänglich. Sein Schloss Bellevue und sein mit Wohncontainern dicht zu bestückender Park stünden also gleichfalls zur Verfügung."

In der FAZ-Reihe mit Texten konservativer Migrationskritiker antwortet der Hallenser Historiker Manfred Hettling auf Kritiker Jörg Baberowskis, die ein optimistisches Bild der Sache entwickelt hatten (mehr hier und hier): "Wie weit reicht die Bereitschaft zu neuen Solidaritätsbindungen bei Migranten, wenn die Zuwanderung fundamentale Veränderungszumutungen an sie stellt? Es gibt Migrationsforscher wie Paul Collier, welche in der Zunahme kultureller Diversität eine wesentliche Ursache für einen Rückgang an Mitgefühl und eine reduzierte Bereitschaft zur Solidarität sehen."

In der SZ erinnert Willi Winkler an den NS-Propagandisten und Salonlöwen Max Walter Clauß, der ebenso den Begriff des Eisernen Vorhangs prägen sollte wie die auftrumpfende Rede vom europäischen Geist, den es gegen Bolschewismus und Amerikanismus bräuchte. Judith Leister berichtet in der NZZ von vielen verschiedenen Bauprojekten in Kaliningrad, die die Stadt im ganzen jedoch nicht voranzubringen scheinen.
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Internet

Auf einer Berner Tagung zu Big Data lernte Urs Hafner, wie sich Wissenschaft verändert. In der NZZ beschreibt er das sehr anschaulich am Beispiel eines Forschungsprojekts auf Spitzbergen: Daten sind nicht da, sondern werden gemacht. "Zunächst registrierten die Biologen das von einer Unterwasserkamera aufgezeichnete und übermittelte Vorkommen von Fischen, Krebsen und anderen Tieren in Ufernähe, indem sie deren Anzahl und Arten, die Wassertemperatur, die Uhrzeit und anderes mehr numerisch festhielten. Die Biologen verwandelten ihre Beobachtungen in Daten: Sie erzeugten sie. Dann werteten sie die tabellarisch aufgezeichneten Daten aus. Sie erforschten also diese, nicht die beobachtete Unterwasserwelt. Dadurch würden Daten zu Belegen, welche die wissenschaftlichen Aussagen absicherten, ja sie würden zu unverrückbaren Tatsachen gemacht."

In der taz gibt Christian Rath zumindest in einem Punkt Entwarnung: Vom Gesetz über Datenhehlerei, das zusammen mit der Vorratsdatenspeicherung am Freitag beschlossen wurde, sind Journalisten nicht betroffen, es gehe allein um den "Handel mit gestohlenen Kreditkartendaten, eBay-PINs oder Software-Lizenzschlüsseln". Ulf Buermeyer sieht das bei Heise allerdings ganz anders: "Journalisten sind nämlich nur dann nicht wegen 'Datenhehlerei' strafbar, wenn sie "berufsmäßig" handeln. Was das im Einzelfall heißt ist eine Frage der Auslegung, und der unklare Begriff schafft die Gefahr, dass ehrenamtliche Blogger nicht geschützt sind - eine Beschränkung, deren Sinnlosigkeit spätestens der Landesverrats-Skandal um das Blog netzpolitik.org deutlich macht."
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Politik

In der Welt erklärt der Politologe Stephan Bierling, wie sich Diktatoren überall auf der Welt von Demokratiebewegungen erobertes Territorium immer brachialer zurückholen.
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Stichwörter: Demokratiebewegung

Kulturpolitik

Im Interview mit Kerstin Krupp in der Berliner Zeitung versichert Kulturstaatsministerin Monika Grütters, dass bei den TTIP-Verhandlungen immer mehr Schutzklauseln für Kultur und Medien erarbeitet werden: "Für das Dienstleistungskapitel, in dem am ehesten das Thema Kultur verortet wird, gibt es eine große Sensibilität."
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Stichwörter: Grütters, Monika, TTIP

Gesellschaft

Immer neue Exerzitien werden den kommenden europäischen Eliten auferlegt! Silvia Marchetti stellt in politico.eu die römische Lateinschule Vivarium Novum vor, die einem Stefan George bestimmt gefallen hätte: "Vivarium Novum, gelegen in einem üppigen Park mit Swimming Pool und Basketball-Feld, ist Teil eines Antwesens, das zu einem religiösen Orden nördlich von Rom gehört. Die Studenten hier studieren nicht nur Latein, sondern lernen es flüssig zu sprechen. Latein ist nicht nur auf den Klassenraum begrenzt - Italienisch, Englisch und Französisch sind tatsächlich überall auf dem Campus verboten. Studenten, die neusprachlich sprechen oder schreiben, riskieren den Schulverweis. Die Schule ist einmalig und nimmt jährlich fünfzig männliche Schüler auf."
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Stichwörter: Latein, George, Stefan, Basketball