9punkt - Die Debattenrundschau

Die sogenannten Fünf-Mao-Armeen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2015. Auch in Frankreich wird über die Veröffentlichung von "Mein Kampf" diskutiert. Der Historiker Christian Ingrao erklärt in Libération, warum man vor dem "erbärmlichen Pamphlet" keine Angst haben muss. In der Welt fordert Timothy Snyder einen neuen Blick auf den Holocaust. Netzpolitik wirf einen kritischen Blick auf den Google Innovationsfonds. Peter Raue und den Kunsthändlern geht's ums Geld, aber ihr geht's beim Kulturgutschutzgesetz um die Kunst, schreibt Monika Grütters im Tagesspiegel. Große Sorgen machen sich auch die belgischen Mayonnaise-Hersteller.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.10.2015 finden Sie hier

Geschichte

Der Holocaust und andere Genozide sind stets vor dem Hintergrund von Ernährungskrisen und zusammenbrechenden Staaten geschehen, meint Timothy Snyder im Gespräch über sein neues Buch "Black Earth" mit der Welt am Sonntag: "Der Massenmord in Ruanda ereignete sich während eines Bürgerkriegs, ein Jahr nach einer Erntekrise. Die Massentötungen im Südsudan fanden nach einer Dürre statt. Der gegenwärtige Völkermord an den Jesiden in Syrien tritt nach vier aufeinanderfolgenden Jahren von Missernten, der Zerstörung des irakischen Staats und dem Zusammenbruch des syrischen Staats auf. Ich sage nicht, dass sich der Holocaust genauso wiederholen könnte, weil bestimmte Vorbedingungen für ihn auch heute gültig sind. Aber es gibt bestimmte gefährliche Tendenzen, die wir besser und früher wahrnehmen können, wenn wir den Holocaust genauer und breiter interpretieren."

Auch in Frankreich wird über die Publikation von Hitlers Buch "Mein Kampf" gestritten, dessen Urheberrechte Endes des Jahres auslaufen. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon hat sich in einem offenen Brief an den Verlag Fayard gewandt, mit der Aufforderung, die Publikation zu unterlassen. In Libération antwortet der Historiker Christian Ingrao, dass die Veröffentlichung des "erbärmlichen Pamphlets" sich gerade" an Leser wie Sie wenden sollte, um sie zu überzeugen, Hitler nicht mehr zu pathologisieren und dämonisieren und schlicht in historischen und politischen Begriffen über ihn nachzudenken. Wir müssen aufhören zu glauben, dass die Lektüre von 'Mein Kampf', jeden, der zufällig darüber stolpert, zum Nazi macht. Das ist ein Buch, das nur Bekehrte überzeugen kann."

Michi Strausfeld, die große Entdeckerin der lateinamerikanischen Literatur bei Suhrkamp, unternimmt in der NZZ eine Tour d'horizon der lateinamerikanisch-europäischen Beziehungen: "Insgesamt sind die Erwartungen der Lateinamerikaner an Europa sehr bescheiden geworden. Aber könnte man nicht die Gemeinsamkeiten der Kulturen vertiefen? Laut Octavio Paz gehört Lateinamerika zu Europa, das gilt unverändert. Es gibt eine kulturelle Kontinuität, die man stärken kann. Und dies gelingt am besten durch das Gespräch mit den Intellektuellen und mithilfe der Literatur, denn darauf ist der Kontinent stolz: für sie das beste Indiz dafür, was Lateinamerika politisch und ökonomisch einmal erreichen kann."

Der Historiker Jon Mathieu stellt in der NZZ eine 500-seitige Geschichte der Berg-Geografie vor, die der Pfarrer Hans Rudolph Rebmann 1606 unter dem Titel "Poetisch Gastmal und Gespräch zweyer alter Bergen" veröffentlichte.
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Medien

Nicht gerade begeistert schreibt Lorenz Matzat bei Netzpolitik über den Google Innovationsfonds, dessen 150 Millionen Euro sich weniger beeindruckend ausnehmen, wenn man bedenkt, dass sie sich über 32 Länder und drei Jahre verteilen. Und der Fonds ist "in seiner Anlage recht eng an Google gekoppelt. Das wird in seiner 'Governance'-Struktur deutlich, die wohl im Wesentlichen über die Vergabe der Mittel bestimmt. Sie besteht aus einem 'Council' und einem 'Project Team'. Von den insgesamt fünfzehn Mitgliedern, darunter fünf Frauen, sind sieben Angestellte von Google. Ob 'Innovationen' zugelassen werden, die konträr zu den Interessen von Google/des Alphabet-Konzerns laufen, wird sich zeigen müssen."

Im Spiegel attackierte Chefredakteur Klaus Brinkbäumer bereits am Samstag seine Kollegen von Springer und Focus, die angesichts der Enthüllungen über den DFB abwiegeln: "In anderen Welten, beispielsweise in der Politik, wäre Joseph Blatter unwählbar und Wolfgang Niersbach nicht gut genug, und Herren wie Alfred Draxler, Chefredakteur von Sport Bild und zugleich Franz Beckenbauers Förderer und Schützling, oder auch Helmut Markwort, Focus-Herausgeber und bis ins hohe Alter Verwaltungsbeirat des FC Bayern, würden dort als Fans und Handlanger der Regierenden entlarvt werden."
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Europa

Beunruhigend ist in der Schweiz nicht allein der Rechtspopulismus, sagt Lukas Bärfuss, der im Gespräch mit der Schweiz am Sonntag nochmal auf seinen FAZ-Essay (unsere Resümees) zurückkommt: "Beunruhigend ist die Verbindung des Extremismus mit unbegrenzten finanziellen Mitteln. In unserem Land, europaweit einzigartig, ist die Parteienfinanzierung nicht gesetzlich geregelt. Es gibt keine Transparenz. Ein Mann mit einem Privatvermögen von mindestens 3,6 Milliarden Franken kann Wahlen und Abstimmungen bezahlen, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Das muss sich ändern."
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Kulturpolitik

Der Streit ums Kulturgutschutzgesetz geht weiter. Bundeskulturministerin Monika Grütters wehrt sich im Tagesspiegel gegen Angriffe des Anwalts und Kunstfreunds Peter Raue. "Peter Raue spricht von 'zahllosen, angesichts des drohenden Gesetzes schon jetzt ins Ausland verfrachteten Werken'. Dieses Gesetz gibt niemandem, der es gelesen hat, Anlass zu derartigen Kurzschlusshandlungen (Achtung: Viele Zielländer haben strengere Kulturgutschutzregeln, auch Zollfreilager in der Schweiz sind keine rechtsfreien Räume). Offensichtlich hat der Kunsthandel andere Interessen als den Schutz des kulturellen Erbes. Wo wir von Kunst reden, geht es dort um Geld."

In der FAZ erklärt Philipp Herzog von Württemberg, Europa-Chef des amerikanischen Auktionshauses Sotheby's, seine Vorbehallte gegen das Gesetz.

Regina Mönch beklagt in der FAZ die Schäden an Schinkels Friedrichswerderscher Kirche, unter anderem durch das grässlich "schinkelnden" Kronprinzenpalais für reiche Investoren, das nebenan errichtet wird und qua Tiefgarage den Grund unsicher macht: "Seit drei Jahren schon ist die Museumskirche darum unbetretbar und die Anmutung einer Kathedrale Vergangenheit, denn das Innere ist seitdem und auf unbestimmt lange Zeit nur noch ein Gewirr aus Gerüststreben, die hoffentlich verhindern, dass es die Kirche endgültig zerreißt. Der Aufschrei der Bewunderer und Liebhaber dieser Kirche war leise, bis ins Rathaus oder in die Denkmalschutzbehörde kann er nicht gedrungen sein..."
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Ideen

Wer sich am Montagfrüh gern ein bisschen Kapitalismus- und Israelkritik reinziehen will, findet Stoff bei der Zeit, die Etienne Balibars Ausführungen über die Frage, was Angela Merkel machen muss, um die europäische Flüchtlingsfrage zu lösen (hier), und Omri Boehms Ruf nach offenerer Kritik an Israel in Deutschland (hier) online stellt.
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Politik

Die französische Intervention in der Elfenbeinküste mit klarem UN-Mandat könnte ein Vorbild für die Konfliktlösung in Syrien und Afghanistan sein, meint Dominic Johnson in der taz. Dort stand der legitime Präsident fest und es ging darum, ihm zu seinem Recht zu verhelfen: "Manche Kriege in Afrika enden eindeutig und endgültig, manche enden nie und führen in die Dauerkrise. Eine militärische Entscheidung, mit klaren Siegern und Besiegten, führt in der Regel zu einem dauerhafteren Frieden als eine sogenannte friedliche Lösung, die alle Seiten unzufrieden zurücklässt."

Peter Burghardt widmet sich in der SZ den Spielarten des Peronismus und erklärt, warum Argentinien nicht davon loskommt: "Im Grunde, so meinen Peronisten, ist jeder Argentinier irgendwie Peronist."
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Internet

Chinas KP scheitert kläglich bei dem Versuch, ihre Propaganda in die sozialen Netze zu bringen, spottet Felix Lee in der taz über Tweets wie: "Die Vertiefung der Beziehungen zwischen Großbritannien und China hilft beiden Staaten ebenso wie der Weltgemeinschaft insgesamt." Und ebenfalls erfolglos: "Landesweit in Verruf geraten sind die sogenannten Fünf-Mao-Armeen. Mao ist eine Währungseinheit und entspricht etwa 7 Cent. Für umgerechnet rund 35 Cent pro Eintrag hat die KP angeblich Zehntausende Blogger angeheuert, die mit regierungsfreundlichen Einträgen und Kommentaren die Debatten in den sozialen Medien beeinflussen sollen."

Weiteres: Bei Netzpolitik warnt die Juristin und Netz-Expertin Barbara van Schewick vor der Abschaffung der Neutzneutralität, die morgen im Europäischen Parlament beschlossen werden soll. Monika Ermert berichtet in der SZ vom Icann-Treffen in Dublin, wo über großen Umbau der Internet-Regulierungsfirma gestritten wurde. Michael Moorstedt erklärt ebenda, wie das Internet künftig per Interplanetary File System dezentralisiert werden könnte.
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Gesellschaft

Im Guardian kommentiert Zoe Williams die Empörung über die australische Feministin Germaine Greer, die erklärt hatte, postoperative Transgender-Frauen seien eigentlich keine Frauen. Misogyne Stimmen müssten per Argument ausgehebelt werden, nicht jedoch durch Sprechverbote.

In der SZ erzählt Alexander Mühlauer, dass sich belgische Mayonnaise-Hersteller diskriminiert fühlen, weil für sie schärfere Regelungen gelten als für ausländische: "Seit 60 Jahren ist in Belgien klar geregelt, was echte Mayo ausmacht. Sie muss zu 80 Prozent aus Fett und zu 7,5 Prozent aus Eigelb bestehen. So wurde es im Jahr 1955 beschlossen - per königlichem Dekret."
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