9punkt - Die Debattenrundschau

In einem fremden, bösen Orkan

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2015. Die FR spürt dem besonderen Gusto der Fremdenfeindlichkeit in den Neuen Ländern nach. Die New York Times erklärt, warum sie nur noch zwanzig Blogs hat und nicht mehr achtzig. Die SZ schildert das Grauen des endlosen Wehrdiensts in Eritrea. Die französische Huffpo verteidigt die Idee des Laizismus. Die FAZ möchte Meinungsfreiheit nicht mit "zivilreligiöser Inbrunst" verfechten. Im Guardian erklärt Brian Eno, warum er Israel boykottiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.10.2015 finden Sie hier

Gesellschaft

Fremdenfeindlichkeit ist keine Erfindung des Ostens, aber nur im Osten ist sie mit dieser seltsamen Wende-Stimmung verbunden, stellt Dirk Pilz in der FR fest: "Das ist eine Parallele: Sozialismus, Antifaschismus, Solidarität - das waren am Ende der DDR leere Begriffe; Demokratie, Grundrechte, Freiheit - das sind für die 'Besorgten' heute bloße Schlagworte. Sie hören Politiker reden und fühlen sich, als wären sie in einen fremden, bösen Orkan geraten. Sie schlagen die Zeitung auf, schalten den Fernseher und das Radio an - und haben den Eindruck, auf eine entrückte Medienblase, eine ideologisch vorgeprägte Scheinwelt zu treffen. Sie fühlen sich unverstanden, betrogen."

Sehr einleuchtend findet Isolde Charim in der taz das Projekt des französischen Demokratietheoretikers Pierre Rosanvallon, der auf der Seite "Raconter la vie" Menschen aus ihrem Leben erzählen lässt: Im Zeitalter der Singularitäten hingegen mit ihrem Streben "nach einer zur Gänze persönlichen Existenz" funktioniert diese Integration nicht mehr. Hier gibt es keine adäquate Repräsentation der radikal Einzelnen mehr. Zugehörigkeit und Ungleichheit haben sich grundlegend verändert. Teil der Gesellschaft zu sein heißt heute, wahrgenommen zu werden. Das ist die Währung der Demokratie."
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Kulturpolitik

In der NZZ versteht Joachim Güntner, warum ausgerechnet der eher aufgeschlossene Deutsche Kulturrat plötzlich Deutsch im Grundgesetz verankern will - was bisher nur der Verein Deutsche Sprache als Hüter der Nationalkultur forderte. Er will Deutschkursen für Einwanderer einen höheren Stellenwert verschaffen. "Wie auch immer man Position bezieht: Ein Missverständnis ist vor aller Diskussion auszuräumen. Ein Verfassungszusatz der gewünschten Art ist kein Sprachgesetz. Er wird den Sprachwandel, den besorgte Geister als Sprachverfall empfinden, nicht aufhalten, nicht einmal regulieren können."

In der Welt konstatiert Stefen Keim, dass skandalös sich verteuernde Theaterrenovierungen mit den Fällen Berlin, Köln und jetzt Düsseldorf so langsam zum Trend werden. In der FAZ schreibt Luisa Maria Schulz über den zaghaften Neubeginn des "Petersburger Dialogs" über Fragen von Beutekunst.
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Europa

Der offene Brief gegen einen Israel-Boykott, der unter anderem von J.K. Rowling und Hilary Mantel unterzeichnet wurde (unser Resümee), hat im Guardian eine Flut von Reaktionen ausgelöst. Brian Eno findet den Brief naiv und erklärt seine Solidarität mit der BDS-Boykottkampagne, denn "welche Art von Dialog ist realistischer Weise möglich zwischen einem unbewaffneten und eingekerkertern Volk, dessen Land vor seinen Augen verschwindet, und dem schwer bewaffneten Staat, der es ihm nimmt?" Und Jenny Tonge, Abgeordnete des britschen Oberhauses, schreibt: Bis sich Israel aus den besetzen Gebieten zurückzieht, "ist der Boykott sämtlicher israelischer Waren notwendig, und nur wir können dies tun, angesichts der Handlungsunfähigkeit unserer Regierung und ihrer Furcht vor der 'Lobby'."
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Politik

In der FAZ kommt David Grossman auf die jüngsten Fehlleistungen Benjamin Netanjahus zurück, der die Idee des Holocaust quasi dem mit den Nazis sympathisierenden Mufti von Jerusalem in die Schuhe schieben wollte: Netanjahus "Weltanschauung ist noch immer die des verfolgten Opfers. Er wirft über alles ein Netz, dem niemand, auch er selbst nicht, zu entfliehen vermag. In der letzten Woche allerdings wurde deutlicher als sonst, in welchem Maße auch wir, die israelischen Bürger, mit ihm in diesem Kescher festsitzen."

In seiner Kolumne in der Berliner Zeitung ahnt Götz Aly, was Netanjahu zu seinen wilden Theorien antreibt: "Warum redet Netanjahu solchen Unsinn? Aus Schwäche! Er weiß nicht, was er tun soll. Nicht nur er. Fragt man die Leute, wie es angesichts der hinterhältigen palästinensischen Messer- und Autoangriffe weitergehen soll, antworten sie schulterzuckend: 'Man kann nichts machen. Nichts.' In den vergangenen 22 Jahren habe ich Israel noch nie derart angespannt, bedrückt und ratlos erlebt."

Inzwischen ist weitgehend klar, dass Wladimir Putin in Syrien nicht die IS-Milizen bombardiert, sondern die Truppen der gemäßigten Opposition, schreibt Richard Herzinger in der Welt. Zehntausende sind auf der Flucht. "Noch bestürzender als die devote Abwartehaltung westlicher Politik selbst ist freilich, mit welcher Verve sie von einer wachsenden Zahl von Kommentatoren zum Ausdruck nüchterner, abgeklärter 'Realpolitik' nobilitiert wird. Man staunt zuweilen, wer sich - bis hin zu eher für feuilletonistische Kompetenz bekannten Autoren - in deutschen Medien alles dazu berufen fühlt, einer bisher vermeintlich weltfremd-idealistischen Außenpolitik des Westens die Totenmesse zu lesen und deren Verfechter darüber aufzuklären, wie die raue Welt der internationalen Politik tatsächlich beschaffen sei."

Stefan Klein schickt für die SZ eine erschreckende Reportage aus Eritrea, wo junge Männer vor allem dem National Service entkommen wollen, der einst ein Wehr- und Zivildienst von 18 Monaten war: "Dann kam Ende der Neunzigerjahre der bis heute schwelende Grenzkrieg mit Äthiopien, und danach wurde der National Service umgewandelt in ein Vorratslager für Menschenmaterial, eine Art Humanreserve, die der Staat einsetzt, wie er es gerade braucht. Keine zeitliche Begrenzung mehr, der Staat entscheidet, wer wie lange seinen Dienst abzuleisten hat."

In der taz staunt Johanna Roth, was in der Türkei vor den Wahlen alles möglich ist: Sogar die Zeitumstellung hält Präsident Erdogan jetzt auf, um die Wähler in Sommerlaune zu halten.
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Ideen

Recht feierlich liest sich Cindy Leonis Verteidigung des Laizismus in der französischen Huffington Post. Einen wichtigen Punkt macht die ehemalige Präsidentin von SOS Racisme aber, wenn sie sagt, dass Laizismus immer auch die eigene Kultur in Frage stellt: "Gewissensfreiheit impliziert die Freiheit zu Kritik und Widerlegung. Das Prinzip der Emanzipation lädt die einzelnen ein, über den Sinn von Traditionen, Werten, kulturellem Erbe nachzudenken. Nicht um sie zurückzuweisen, sondern um eine Wahl zu treffen, in freiem Entschluss und nicht einfach aus Konformität."

Christian Geyer ist in einem ausufernden FAZ-Feuilleton-Aufmacher nicht ganz einig mit sich, ob er nun für Akif Pirincci oder Pegida Meinungsfreiheit oder Beobachtung durch den Verfassungsschutz fordern soll, tritt dann aber für Meinungsfreiheit ein, obwohl er über die "zivilreligiöse Inbrunst", mit der die Meinungsfreiheit im Fall Charlie Hebdo angeblich beschworen wurde, doch die Nase rümpfen muss.
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Medien

(Via Poynter) Die New York Times schließt eines ihrer bekanntesten Blogs, den City Room, der sich der Lokalberichterstattung widmete. Und damit geht das große Blogsterben in der Zeitung weiter. Andy Newman schreibt in einer Mitteilung in eigener Sache: "Nach acht Jahren, 20.000 Posts, 425.000 Leserkommentaren und vielleicht hundert Millionen Klicks teilt City Room mit: Dies ist unser letzter Beitrag. Die Gründe sind vor allem langweiliger Journalistenkram. 2007 waren Blogs die Welle der Zukunft. In ihrer blogmanischen Zeit hatte die New York Times achtzig davon." Und jetzt sind es nur noch zwanzig!
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Geschichte

Timothy Snyder ist mit seinem neuen Buch "Black Earth" recht präsent in diesen Tagen. Im Interview mit Hansjörg Müller von der Basler Zeitung kritisiert er die Provinzialität deutscher Historiker, die internationale Aspekte des Holocaust viel zu wenig wahrgenommen hätten: "Die Frage, inwieweit die Sowjetunion die Bedingungen geschaffen hatte, die zum Holocaust führten, wurde zu einem Tabu. Etwa die Hälfte des Holocaust geschah aber auf sowjetischem Territorium. Praktisch alle Kollaborateure, die Waffen tragen durften, waren Sowjetbürger... Ich sage nicht, dass Josef Stalin oder die Sowjetunion schuld waren, aber ich sage, dass sie ein wichtiger Teil des Kontexts sind. Der Holocaust begann nicht 1933 oder 1939, sondern 1941, als die Deutschen in der Sowjetunion einfielen."

Außerdem: In der Welt berichtet Dankwart Guratz über eine Historikertagung, die sich mit historisierenden Stadtrekonstruktionen in Polen und Deutschland befasste.
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