9punkt - Die Debattenrundschau

Die Güte des Weins ist ein Mythos

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2015. Die FAZ hat einen Verdacht, worauf der unkritische "Willkommens-Journalismus" der Öffentlich-Rechtlichen eigentlich abzielt: auf 1,6 Milliarden Euro. Die taz hat einen Verdacht, worauf die Aushöhlung der Netzneutralität eigentlich abzielt. Außerdem fordert die taz mehrwertsteuerfreien gemeinnützigen Journalismus. In Rom haben Navid Kermani und Erzbischof Georg Gänswein über Sexualität und Kirche diskutiert, berichtet die Berliner Zeitung. Und die NZZ trinkt ein Glas objektiv guten Wein auf den vor bald hundert Jahren geborenen Roland Barthes.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.11.2015 finden Sie hier

Medien

Weil das Geschäftsmodell der Finanzierung von Journalismus durch Werbung im digitalen Medienzeitalter nicht mehr funktioniert, plädiert Karl-Heinz Ruch in der taz dafür, für Presse, Funk und Film neben den privatwirtschaftlichen und den öffentlich-rechtlichen Angeboten auch gemeinnützig organisierten Strukturen zuzulassen: "Ein solcher Journalismus würde nicht mehr durch Werbung finanziert werden und auch nicht durch Zwangsbeiträge. Es müsste ein von LeserInnen freiwillig finanzierter Journalismus sein unter steuerrechtlich förderlichen Rahmenbedingungen, die sich aus dem Artikel 5 des Grundgesetzes eindeutig begründen ließen... Die notwendige Forderung heißt aber nicht 7 statt 19 Prozent für Journalismus, sondern keine Mehrwertsteuer auf Journalismus, also null Prozent."

Merkels Mantra "Wir schaffen das" wird von den öffentlich-rechtlichen Sendern unentwegt und unwidersprochen runtergebetet, kritisiert Michael Hanfeld in der FAZ. Hinter diesem "Willkommens-Journalismus" vermutet er eigennützige Motive: "Dafür dürften sie belohnt werden, wenn es darum geht, die 1,6 Milliarden Euro, die der seit 2013 geltende Rundfunkbeitrag an Mehreinnahmen erbracht hat, auszuschütten. Eigentlich hatte es geheißen, die Anstalten sollten nicht mehr bekommen als zuvor. Inzwischen haben die Sender das Geld für sich beansprucht, die ARD hat sogar vierhundert Millionen Euro mehr beantragt, und man darf darauf wetten, dass die Bundesländer das Geld freigeben. Die Ministerpräsidenten wissen nur noch nicht, wie sie diesen Schritt der Öffentlichkeit verkaufen sollen."
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Europa

"Die Integrationsleistung der Schweiz [ist], von den USA einmal abgesehen, weltweit einzigartig", hebt der Politische Philosoph Georg Kohler im Gespräch mit Linus Schöpfer im Tages-Anzeiger hervor. Den bei den jüngsten Wahlen zu verzeichnenden Rechtsruck sieht er als Ausdruck einer "bemerkenswerten Doppelbewegung", die die Schweiz traditionell kennzeichnet: "An der Oberfläche wird über die Zuwanderung geschimpft; faktisch aber werden Neuankömmlinge in großer Zahl staunenswert rasch und meist problemlos integriert... Daran ändern die stets wiederkommenden Wellen konservativer Abwehr, wie wir sie derzeit in Form der SVP erleben, nichts."
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Geschichte

In der taz unterhält sich der Historiker Timothy Snyder mit Tania Martini über sein neues Buch "Black Earth", in dem er als Voraussetzung für den Holocaust die Zerstörung staatlicher Strukturen ausmacht: "Wenn man Jude war und den Pass eines Staates hatte, den die Nazis anerkannten, überlebte man. Ein US-amerikanischer Jude in Warschau war nicht in Gefahr. Die Nazis töteten keinen rumänischen oder ungarischen Juden ohne Zutun des rumänischen oder ungarischen Staats. In Deutschland hat man versucht, den Juden die Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Bis zum Ende des Kriegs überlebten Juden, die mit Nichtjuden verheiratet waren. Wir denken immer vor allem an die lange Prozedur der Ausbürgerung deutscher Juden nach. Aber der schnellste Weg zur Ausbürgerung war die Vernichtung anderer Staaten."

Nachrufe auf Hans Mommsen schreiben Ulrich Herbert (FAZ), Arno Widmann (FR), Christoph Jahr (NZZ) und Sven Felix Kellerhoff (Welt).
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Ideen

In der NZZ erinnert Peter Geimer an den großen Spurenleser Roland Barthes, der vor bald hundert Jahren geboren wurde. Seit dessen "Mythen des Alltags" ist dem Bedeuten nicht mehr zu entkommen, seufzt Geimer, selbst der gute Wein ist ein französischer Nationalmythos: "Es ist aber nicht allein die Unmöglichkeit, unbeschwert am Mythos teilzuhaben, die Barthes beschäftigt hat. Die Unvereinbarkeit von Praktizieren und Entziffern des Mythos bezeichnet eine Paradoxie, die tief in der Struktur des semiologischen Unternehmens angelegt war: 'Der Wein ist objektiv gut, und gleichzeitig ist die Güte des Weins ein Mythos. Darin liegt die Aporie. Der Mythologe versucht, so gut er kann, aus ihr herauszukommen: Er befasst sich mit der Güte des Weins, nicht mit dem Wein selbst.'"

Aus sehr amerikanischer Perspektive blickt Hannes Stein auf die zimperliche deutsche Debatte über Meinungsfreiheit, die seiner Meinung auch für Bekloppte und Bescheuerte zu gelten habe. "Mich verblüfft aber auch, wenn Anhänger von Pegida und ähnlichen Vereinen weinerlich behaupten, man dürfe ja überhaupt nichts mehr sagen, denn Deutschland sei heute - schluchz - kein freies Land mehr. Doch! Man darf alles sagen! Nur eben nicht unwidersprochen. Am meisten hat mich vielleicht die Forderung verwundert, die Flüchtlinge, die jetzt in Deutschland eintreffen, müssten sich 'zu unseren Werten bekennen'. Zunächst frage ich mich ganz praktisch, wie man feststellt, zu welchen Werten sich ein Mensch bekennt? ... Meine Werte gehen den Staat einen feuchten Schmutz an."
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Gesellschaft

Im Gespräch mit Irene Rapp in der Tiroler Tageszeitung macht der Kulturwissenschaftler Thomas Macho auf eine interessante Verschiebung im Umgang mit dem Tod aufmerksam: "Früher waren die Adressaten und Akteure von Bestattungsritualen die Angehörigen. Sie haben sich überlegt, wo bestatten wir den Liebsten, was schreiben wir auf die Parte oder auf den Grabstein. Heute ist es so, dass diese Verantwortung zunehmend auf den künftigen Toten selbst übertragen wird. Man beginnt selbst, sein Begräbnis zu planen und überlegt sich die letzten Dinge."
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Internet

Als das Europäische Parlament kürzlich das Prinzip der Netzneutralität aushöhlte, war immer wieder davon die Rede, für die Sicherheit von selbstfahrenden Autos oder Telemedizin sei die Bevorzugung von "Spezialdiensten" unverzichtbar. Unfug, meint Svenja Bergt in der taz, das Problem liegt bei den Netzbetreibern selbst: "Die Datenmengen, die Nutzer über das Internet abrufen und verschicken, nehmen zu. Gut möglich, dass die verfügbare Bandbreite da irgendwann nicht mithalten kann. Und wo Stau ist, werden Überholspuren für Mehrzahler auf einmal interessant. Die Alternative ist der Ausbau des Netzes. Doch der kostet - und die Überholspuren bringen Geld ein. Die Knappheit im Netz würde somit vom Sorgenkind zum Renditebringer."
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Religion

In Rom hat Navid Kermani mit Erzbischof Georg Gänswein über das Verhältnis von Religion und Kultur diskutiert, berichtet Joachim Frank in der Berliner Zeitung: "Wie es denn sein könne, dass die katholische Kirche einerseits Maria und damit 'das Weibliche' so hoch preise und in der Kunst verherrlichen lasse, andererseits aber die Sexualität tabuisiere, einenge, abwerte. Die Finger an Gänsweins linker Hand reiben aneinander, er schiebt die Unterlippe vor. 'Jetzt wird's heiß, langsam', sagt er. Das Publikum lacht, während Gänswein umständlich von dem 'Faktum' spricht, dass sich 'die Kirche, das Lehramt, etwas schwergetan hat' mit der Sexualität. Betonung auf der Vergangenheitsform."
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