9punkt - Die Debattenrundschau

Dann erzähl mal das Ende

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2015. Der Tod des Autors führte zur Geburt des Lesers, schreibt Jochen Schimmang in der taz zum Hundertsten von Roland Barthes. Die SZ mokiert sich über Frankreich, das den iranischen Präsidenten hungern ließ. Die NZZ fragt: Ist das Schwarze Meer eine eigene kulturelle Region? In der Zeit spricht sich Bundesjustizminister Heiko Maas fünfmal hintereinander gegen eine allzu liberale Idee des Sharing aus. Bei Vice verrät Charlotte Roche die intimsten Geheimnisse deutscher Talkshows.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2015 finden Sie hier

Europa

Eine einfache Wahrheit sagt Stefan Laurin bei den Ruhraronen: "Ob Iran, Saudia Arabien oder China - die Europäische Union lässt kaum eine Gelegenheit aus, wenn es darum gilt, einer Diktatur in den Hintern zu kriechen. Geht es um Israel, zeigt sich die EU weniger offen. Eine neue EU-Richtlinie schreibt vor, israelische Waren aus den Gebieten jenseits der Grenzen von 1967 kennzeichnen zu lassen."

Ist das Schwarze Meer eine eigene kulturelle Region? Derzeit wohl nicht, diesen Eindruck hatte Andreas Ernst, der für die NZZ eine Debatte über diese Frage im New Europe College in Bukarest verfolgte: "Die EU, damals noch in guter Verfassung, beschloss 2003 eine östliche 'Nachbarschaftspolitik' mit dem Ziel, im Schwarzmeerraum einen Ring von Freunden zu schaffen. Ihnen wollte man 'mehr als Partnerschaft, aber weniger als Mitgliedschaft' anbieten. Die west-östlichen Verwerfungen der letzten zwei Jahre sprengten den geplanten Ring, bevor er Gestalt annehmen konnte. Heute ist man auf klassische bilaterale Beziehungen zurückgeworfen... Vielleicht befindet sich das Schwarze Meer einfach wieder dort, wo es lange lag: am Kreuzpunkt dreier Mächte."

Gustav Seibt erinnert in der SZ an den Krisenbewältiger Helmut Schmidt, der sich besonders in der RAF-Zeit bewies: "Schmidts damals altmodisch anmutendes, kirchlich geprägtes Staatsethos bewährte sich in der Krise der Schleyer-Entführung und bei der Befreiung der Lufthansa-Maschine Landshut in Mogadischu. Dass Schmidt fest blieb, war das eine; dass er glaubhaft unzynisch handelte, als er ein Menschenleben opferte und andere in Gefahr brachte, das andere, vielleicht wichtigere." Religion spielt auch eine große Rolle in dem FAZ-Gespräch über "letzte Dinge", das Jürgen Kaube und Patrick Bahners vor ein paar Jahren mit Schmidt führten und offenbar für den Tag nach seinem Tod aufbewahrten. Die SZ bringt außerdem ein Gespräch mit dem Historiker Fritz Stern, der mit Schmidt befeundet war.

Nicholas Vinocur erzählt in politico.eu, wie Marine Le Pen mit "linken" Parolen im französischen Norden auf Wählerfang geht - Ihr Diskurs, laut Vinocur: "Wählt mich, ich bringe Frankreichs soziale Sicherungen zurück und rette euch vor der von amerika betriebenen Globalisierung."

Weiteres: In Spiegel online erklärt Sascha Lobo, warum man im Kontext von Fremdenfeindlichkeit durchaus mit der "Nazikeule" hantieren solle. Ein Aufrechter: Jeremy Corbyn hat bei der Vereidigung des Kronrats nicht vor der Queen gekniet und damit gegen eine Tradition verstoßen, meldet der Guardian.
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Überwachung

In den USA sind 70 Millionen Telefongespräche von Inhaftierten abgehört worden, berichten Jordan Smith und Micah Lee in Glenn Greenwalds The Intercept: "Besonders bemerkenswert in diesem Wust von Aufzeichnungen scheinen mindestens 14.000 aufgenommene Unterhaltungen zwischen Strafgefangenen und ihren Anwälten zu sein, ein starker Hinweis, dass zumindest einige der Aufnahmen vertraulich sind und sie als gesetzlich geschützte Kommunikationen niemals hätten aufgezeichnet werden dürfen."
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Religion

Irans Staatspräsident Hassan Rohani bekam in Frankreich kein Staatsdiner, weil er auf Halal und den Verzicht auf Alkohol (auch für die anderen) bestand. Christian Wernicke schreibt darüber in der SZ in leicht mokantem Ton: "Da zeigte sich auch die Fünfte Republik von ihrer dogmatischen Seite. Ein Mittag- oder Abendessen mit Präsident, aber ohne Alkohol auf dem Tisch - das untergrabe die Prinzipien der Trennung von Religion und Staat. Im Namen des Laizismus verweigerte der Palast jedwede kulinarische Abrüstung." Und im Namen von was hätte man sich den iranischen Forderungen anpassen sollen?
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Medien

Wie es in deutschen Talkshows zugeht, erzählt die ehemalige Talkmasterin Charlotte Roche im Interview mit Lisa Ludwig von Vice: "Ich will jetzt keine Namen nennen, aber es ist ja absolut klar, dass wenn man in Deutschland in einer Talkshow eingeladen ist, der Moderator beispielsweise dein Buch nicht gelesen hat. Das ist ja schon der größte Eiertanz überhaupt. Der Gästebetreuer oder Gästeredakteur hat das Buch gelesen, dem Moderator ein Briefchen geschrieben und der Moderator schauspielt schlecht, dass er das gelesen hat und dass das aus dem Briefing seine Meinung ist. Ich könnte ihn ja auch voll auffliegen lassen und sagen: 'Dann erzähl mal das Ende'."

(Via Slate.fr) Schlimm, wenn Kunst in die züchtige Welt der Finanzen eindringt. Ein Akt von Modigliani hat bei einer Versteigerung 170 Millionen Dollar gebracht, aber in der Financial Times und vielen amerikanischen Medien durfte er nicht gezeigt werden:

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Ideen

Iris Radisch hat für die Zeit mit Daniel Cohn-Bendit gesprochen, der nochmal auf André Glucksmanns Voltaire-Buch (Auszug beim Perlentaucher) zurückkommt: "Für mich ist das sein größtes Buch und die Quintessenz seines Denkens. Als es erschien, hat es in Frankreich niemand interessiert. Erst als fünf Monate später das Attentat auf Charlie Hebdo verübt wurde und Voltaire in aller Munde war, hat man gesehen, wie sensibel Glucksmann seine Gegenwart wahrnahm."

Bei Zeit online schreibt Hans Hütt mit Blick auf die Flüchtlingskrise und den Tod Glucksmanns sehr zutreffend: "Seinem Land und der Welt ist dieser unentwegte Interventionist jetzt im falschen historischen Augenblick verloren gegangen."

Der von Roland Barthes verfochtene "Tod des Autors" war vor allem eine Geburt des Lesers, meint Jochen Schimmang in einem taz-Essay zu Barthes' Hundertstem: "Der gute Leser, der mit dem Tod des Autors geboren wird, lässt sich nicht überwältigen und sinkt nicht ohnmächtig dahin. Keineswegs 'verschlingt' er einen Roman, diese gefräßige Lektüreart ist ihm zuwider. Er liest, indem er 'fortwährend den Kopf hebt, um zu träumen', sein "Lesen löst sich vom Buch, um die Welt zu erforschen: ihre Zeichen, ihre kleinen Sätze, ihre Bilder, ihre Mythen . . ." Barthe ist heute überall: Sowohl FAZ und SZ besprechen neue Bücher über den pffbar auch als Toter faszinierenden Autor.
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Urheberrecht

Thomas E. Schmidt unterhält sich in der Zeit mit Bundesjustizminister Heiko Maas über die vorgesehene Reform des Urheberrechts. Neben den üblichen Floskeln (der Urheber stehe im Mittelpunkt) fällt vor allem die Passage über die Idee des Sharing auf: "Sharing-Modelle können in einzelnen Bereichen sinnvoll sein, aber sie dürfen nicht dazu führen, dass Urheber komplett ihre Rechte verlieren. Ich kann nicht jede Plattform, auf der ich etwas streamen oder downloaden kann, als Teil einer Sharing-Economy augeben. Rechte zu verletzen, bleibt illegal; dagegen muss man auch vorgehen können. Die Idealisierung des Sharing darf nicht allein der Versuch sein, Vergütungsmodelle zu umgehen. Wenn Sharing gleich Klauen ist, kann es für uns kein Zukunftsmodell sein." Hat er jetzt nicht fünfmal hintereinander genau dasselbe gesagt?
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