9punkt - Die Debattenrundschau

Elterlich verhängte Ausgangssperre

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.11.2015. In der SZ erklärt Horst Dreier, wie und warum Kunst über Religion steht. In Le Monde gibt Jürgen Habermas dem Westen die Schuld an der Entstehung des islamistischen Terrorismus. In Freitext verzweifelt Lena Gorelik an Deutschland. In Syrien wird zwar der Holocaust geleugnet, so Lamya Kaddor in der taz, aber Judenfeindschaft sei ihr dort kaum begegnet. Für die französischen Kinos und Konzertveranstalter sind die Attentate eine Katastrophe, berichtet die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.11.2015 finden Sie hier

Ideen

Der Staatsrechtler Horst Dreier erzählt in der SZ die faszinierende Geschichte der Säkularisierung in Deutschland mit der Herausbildung von Religions- und Meinungsfreiheit und warnt vor einer Aufweichung dieser mühsam errungenen Werte: "Es gilt der prinzipielle Vorrang der Freiheit. Wenn Muslime sich im Fall einer umstrittenen Operninszenierung über die angebliche Verhöhnung ihrer Religion empören, so ist das ihr Recht. Aber klar muss sein, dass deshalb die Oper nicht verboten oder abgesetzt werden darf. Nicht die empörten Mitglieder der Religionsgemeinschaft sind vor der Aufführung der Oper zu schützen (niemand zwingt sie ja zum Besuch), sondern die Opernaufführung vor Störern."
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Europa

Auch Jügen Habermas gibt im Interview mit Nicolas Weil von Le Monde dem "Westen" eine Hauptschuld an den jüngsten Geschehnissen. "Es ist allgemein bekannt, dass die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten, die Hauptenergiequelle für den fundamentalistischen Antrieb des Islamischen Staats, erst als Folge der (nach internationalem Recht) illegalen Intervention George W. Bushs ausbrach. Es mag auch Barrieren gegen den sich entfaltenden Prozess der Modernisierung innerhalb eigener Aspekte der stolzen arabischen Kultur gegegeben haben. Aber die westliche Politik ist alles andere als unschuldig, was den Mangel an Zukunftsaussichten und die Hoffnunglosigkeit bei der jungen Generation angeht, die ein besseres Leben aufbauen und anerkannt werden will." Und das soll in irgendeiner Weise kommensurabel sein mit der Köpfeabschneiderei dieser entfesselten Idioten?

Die Autorin Lena Gorelik zeigt sich bei Freitext verzweifelt - verzweifelt, darüber, wie unwürdig die Deutschen die Flüchtlinge behandeln und überhaupt, verzweifelt über Deutschland: "Jedes Mal, wenn sich die Prozesse, die wir heute erleben, ankündigten - sei es in der Sarrazin-Debatte, in der entwürdigenden Rhetorik der Beschneidungsdiskussion, in dem erschütternden NSU-Skandal, und selbst als Pegida Anfang des Jahres erwachte, - jedes Mal dachte man: Es wird vorübergehen. Es sind Einzelne. Wir werden sie isolieren und ihnen zeigen, was Deutschland ist, was Demokratie. Währenddessen aber ist der Hass gewachsen, der Hass auf alles, was anders ist..."

Auf Spon unterstellt Margarete Stokowski den Berliner Behörden Absicht bei der unzumutbaren Behandlung der Flüchtlinge, die oft tagelang in der Kälte stehend auf ihre Registrierung warten müssen. Und wenn man ihren Bericht liest, klingt das gar nicht so abwegig: Wartenummern gibt es nicht, wer sich in ein Zelt aufwärmen geht, verliert seinen Platz in der Schlange.

Aber ist das nun deutscher Rassismus oder preußische Unfähigkeit? Letzteres, davon ist Spon-Kommentator buenaire überzeugt, wie er mit Schmackes vorträgt: "Einfach mal in den bösen, konservativen Süden schauen, wo alle die Reichen und Rechten leben und schauen, wie das in Passau so läuft. Täglich 5000 Flüchtlinge, die Stadt ist kleiner als der kleinste Kiez von Berlin. Und nirgendwo Chaos. Der Unterschied ist, dass ein Landrat in Bayern halt nicht um kurz nach 4 den Schreibtisch hochklappt und nach Hause fährt, ('die können mich mal') sondern zur Not bis um 12 Betten, Busse und Decken organisiert. Helfer werden zur Not per SMS Alarm informiert, wenn es mal eng werden sollte. Es gibt digitale Schichtpläne, die Polizei ist freundlich, aber bestimmt, denn Chaos verhindert man auch durch, Achtung böse: Einfordern von Ordnung. Es freut mich immer wieder, wenn dieses selbstgerechte berliner Klischee in sich zusammenbricht und zeigt, was es wirklich ist: Wurschtigkeit und Ignoranz, die sich für besonders liberal hält, aber einfach nur Faulheit ist."

Josef Schuster, der Präsidenten des Zentralrats der Juden hat vor Antisemitismus unter syrischen Flüchtlingen gewarnt. Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor kann dies im Gespräch mit Jan Schapira von der taz aus eigener Anschauung nicht bestätigen: "Als Deutsch-Syrerin wurde ich allerdings manchmal auf Adolf Hitler und den Holocaust angesprochen. Dabei habe ich immer wieder erlebt, dass der Holocaust geleugnet wird. Aber ich hatte nicht die ganze Zeit den Eindruck, mich unter Judenfeinden zu befinden."
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Kulturmarkt

Für den Pariser Kulturmarkt, besonders die Konzertveranstalter, sind die Pariser Massaker eine Katastrophe, schreibt Thomas Hahn in der Welt: "Ähnlich hart trifft es die Kinos in und um Paris. Um mehr als die Hälfte, auf lächerliche 65.000 Besucher pro Tag, sank der Andrang, vor allem am Nachmittag. Und das erklärt auch schon, wer hier vor allem fehlt. Es sind die Kinder und Jugendlichen. Sie stehen praktisch unter elterlich verhängter Ausgangssperre, und Schulausflüge finden im Großraum Paris selbst in dieser Woche nicht statt."
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Stichwörter: Konzertveranstalter

Religion

Sehr diplomatisch liest sich eine Äußerung des Bollywood-Stars Shah Rukh Khan zu den immer schlimmeren Ausschreitungen des Hindunationalismus, und dennoch hat sie in Indien großen und insgesamt positiven Donner ausgelöst, schreibt Sophie Mühlmann in der Welt: "Er glaube fest, sagte 'König Khan' vor Millionen Fernsehzuschauern, die an seinen Lippen hingen, 'wenn es Intoleranz aufgrund von Religion gibt, nehmen wir jeden Vorwärtsschritt zurück, den die Nation getan hat.' Damit brüskierte der muslimische Superstar besonders die radikal denkenden Köpfe innerhalb der regierenden Bharatiya Janata Partei (BJP)." Aamir Khan, ein anderer Bollywood-Star, hat sich mit seinem Kollegen inzwischen solidarisiert.
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Kulturpolitik

In der Welt nimmt der Schwall empörter Kunsthändler, die sich von Monika Grütters "Kulturgutschutzgesetz" enteignet fühlen, nicht ab. Heute polemisiert Bernd Schultz, Geschäftsführer der Villa Griesebach gegen Grütters, Norbert Lammert und die FAZ, die sich für das Gesetz ausgesprochen haben: "Wie sehr müssen sich die Politiker und die Zeitung von ihren Wählern beziehungsweise Lesern entfernt haben, wenn sie meinen, die Besitzer von Kunst des 'Egoismus' zeihen zu dürfen."
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Medien

Der türkische Autokrat Tayyip Erdogan lässt missliebige Journalisten ins Gefängnis sperren, diesmal den Chefredakteur der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und seinen Büroleiter in Ankara, Erdem Gül. Ihnen wird Spionage vorgeworfen, berichtet Spiegel Online mit Agenturen: "Im Sommer hatte Cumhuriyet Fotos veröffentlicht, die eine Waffenlieferung für Extremisten in Syrien aus der Türkei Anfang 2014 belegen sollen. Die Behörden hatten eine Nachrichtensperre über den Fall verhängt. Die türkische Staatsanwaltschaft leitete daraufhin Ermittlungen ein."

Was ist überhaupt Feuilleton, und das einst und jetzt, fragt eine Tagung in Graz. Viel Literatur findet Blogger Jan Drees dazu nicht: "Es gibt ein paar verstreute Aufsätze und diesen lückenhaften Wikipedia-Artikel. Daher ist diese Tagung, die Anfang sein soll für eine noch zu gründende 'Gesellschaft für Feuilletonforschung', als Versuch für die Neubelebung der Disziplin zu verstehen."

Weiteres: Die chinesische Deutsche Welle-Journalistin Gao Yu ist wegen Krankheit aus dem Gefängnis entlassen worden, berichtet Felix Lee in der taz.
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