9punkt - Die Debattenrundschau

Mit der Abbildung eines Raucherbeins

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2015. Der Guardian freut sich schon auf den Soja-Braten zu Weihnachten. Die New Republic erklärt, warum die Japaner ihre Moose mit der Lupe betrachten. Die SZ ist erschüttert über die Abwicklung des polnischen Rechtsstaats. In der Zeit gerät Wilhelm Schmid, der populäre Philosoph der Gelassenheit, in Rage über den "feigen und faulen" Michel Houellebecq. Davon abgesehen packt die Zeit heute die wenigen positiven Nachrichten in einen üppig bemessenen Weißraum.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.12.2015 finden Sie hier

Politik

Ai Weiwei bringt in der New York Times eine Hommage auf den Anwalt Pu Zhiqiang, der ihn bei seinem Prozess vertreten hat - und nun selbst wegen angeblicher Aufstachelung zu ethnischem Hass zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde. Dadurch hat er auch das Recht verloren, als Anwalt zu praktizieren und zu bloggen: "Das Urteil ist nicht so schlimm wie befürchtet, vielleicht durch internationalen Druck. Aber Zhiqiangs Leben wird nach seiner Freilassung alles andere als normal sein. Die Polizei wird jede seiner Bewegungen überwachen und kann ihn jederzeit ins Gefängnis werfen, wenn er seine politischen Aktivitäten in den nächsten drei Jahren wieder aufnimmt." Gleichzeitig, so Ai Weiwei, sind viele andere Menschenrechtsanwälte in China verschwunden - wahrscheinlich im Gefängnis, so wie er selbst vor vier Jahren, ohne dass die Angehörigen Nachricht erhalten.

Weiteres: Im Tagesspiegel rekapituliert Kulturstaatsministerin Monika Grütters das zurückliegende anstrengende Jahr. Im Dossier der Zeit verfolgen Malte Henk und Henning Sussebach die Spuren eines christlichen Dorfes in Syrien, dessen Bewohner in alle Teile der Welt verstreut wurden, von Beirut über Chicago bis nach Saarlouis. Adam Soboczynski reist nach Israel und beschreibt ebenfalls in der Zeit ein Land unter Terror. Und der Künstler und Aktivist Philip Ruch vom Zentrum für politische Schönheit antwortet in der Zeit auf einen Verriss seines Buches "Wenn nicht wir, wer dann?" durch Wolfgang Ulrich: "Wir brauchen eine humanistische Revolution. Jetzt."
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Geschichte

Seit dem Krimkrieg rankt sich die Rivalität zwischen der Türkei und Russland, wie Ulrich M. Schmid in der NZZ erinnert, um die Hoheit über Krim, Schwarzes Meer und orthodoxe Christenheit: "Dieser Krieg hat vor allem durch Ilja Repins berühmtes Bild 'Die Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief' aus dem Jahr 1880 Eingang in das kollektive russische Bewusstsein gefunden: Die Kosaken auf diesem Gemälde denken sich mit diebischem Vergnügen immer neue Beleidigungen für den Sultan aus, der sie zur Unterwerfung aufgefordert hatte."
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Gesellschaft

Einen gute und pünktliche Dosis schlechtes Gewissen produziert im Guardian George Monbiot, der den CO2-Wert bestimmter Lieblingsweihnachtsessen misst. Seine Nachricht ist doppelt übel. Wir sollten Soja essen, und wenn schon Fleisch, dann nicht von frei gehaltenen Tieren: "Sie könnten einen Flug nach New York gegen drei Kilo Protein vom Lamm aus den Hügelfarmen in England und Wales tauschen. Sie bräuchten 300 Kilo Soja-Protein, um den gleichen Effekt zu erzielen. Angeblich treffen wir bei der Wahl unseres Weihnachtsessens informierte und rationale Entscheidungen. Aber was richtig aussieht, ist oft das Gegenteil davon. In diesem Fall haben Dinge, die wir gewöhnlich als gut betrachten (freilaufende Tiere, keine Beton- und Stahlmonstrositäten aus der intensiven Tierhaltung) verblüffende Wirkungen."

In Japan ist Moos gerade groß in Mode. Hisako Fujiis Buch "Die Moose, meine Freunde" von 2011 ist ein Bestseller. Die Japaner organiseren Ausflüge in die Wälder, um Moose mit der Lupe zu studieren, berichten Mako Nozu and Brian Thompson in der New Republic und machen im gleichen Atemzug klar: Das ist überhaupt nichts Neues. Die Japaner liebten Moos schon immer, und das nicht ohne Grund: "Es gibt etwa 12.000 Moosarten in der Welt, in Japan sind davon allein 2.500 beheimatet - ein Manna für Enthusiasten, die die verschiedenen Formen studieren und katalogisieren wollen. Das feuchte Klima schafft perfekte Bedingungen für die Pflanzen, und sie anzusehen hat eine beruhigende Wirkung (einer der Gründe, warum viele Japaner Moosbälle über ihre Haustür hängen)."
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Europa

So beginnt autoritäre Herrschaft, fürchtet Andreas Zielcke in der SZ und zitiert schaudernd, mit welchen Worten die polnische Regierungspartei PiS das Verfassungsgericht entmachtet hat: "Für den Rechtsstaat sind es furchterregende Worte: Das Recht ist eine wichtige Sache, aber es ist kein Heiligtum. Über dem Recht steht das Wohl des Volkes."

Der in Deutschland lebende polnische Schriftsteller Artur Becker meint in der FR, dass die bisherige polnische Regierung der Bürgerplattform mit ihrer elitären Politk der neuen polnischen PiS-Regierung viele Argumente geliefert hat: "Leider zeigte sich diese Arroganz auch im öffentlichen Auftreten der polnischen Eliten. Auf die Frage eines jungen Passanten, was nun seine Schwester machen solle, die nach drei Jahren endlich eine Arbeitsstelle gefunden habe, zweitausend Zloty (etwa 460 Euro) verdiene und eine Wohnung kaufen wolle, antwortete der Präsident Bronislaw Komorowski während seiner Wahltour: Sie möge doch bitte die Arbeitsstelle wechseln und einen Kredit aufnehmen. Woody Allen hätte dazu gesagt, das sei die Antwort eines Zwölfjährigen."

In seiner Kolumne in der Berliner Zeitung hofft Götz Aly auf eine weniger spendable EU, deren Geldströme in die einzelnen Hauptstädte seiner Meinung nach nur zu Opportunismus führten: "Die heutigen Regularien der EU und der Eurozone mindern Selbstverantwortung und bewirken wirtschaftliche Stagnation. Sie befeuern den egoistischen Ekelnationalismus, anstatt ihn zu löschen und gefährden so die unbedingt zu verteidigende Idee vom vereinigten Europa."

Bisher versuchte Deutschland, freundliche Bilder von sich zu produzieren, um seine Vergangenheit vegessen zu machen, nun fordern CSU-Politiker, Bilder von Abschiebungen zu veröffentlichen, um Flüchtlinge abzuschrecken. Niklas Maak sieht darin in der FAZ einen Bruch mit deutscher Bildpolitik, "Deutschland soll, so wie der Raucher vom Rauchen mit der Abbildung eines Raucherbeins auf der Zigarettenpackung abgehalten werden soll, einen Warnaufkleber bekommen, auf dem die hässliche Möglichkeit der Abschiebung in aller Drastik abgebildet wird." Im Artikel darunter auf Seite 1 des Feuilletons vergleicht Kerstin Holm Russlands Nationalismus mit Deutschlands "historischer Selbstpreisgabe, die angesichts der Flüchtlingsströme offenbar als gutes Beispiel für andere dienen soll".
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Ideen

Der Bestseller-Philosoph Wilhelm Schmid erklärt im Zeit-Interview mit Iris Radisch seine Lebenskunst der Gelassenheit, rät selbstbewusst zu mehr Kleinklein und schimpft auf "idealistische" Sozialdemokraten oder moderne Tragiker wie Michel Houellebecq: "Er ist zu feige und zu faul, eine andere Lebensform zu finden, sich mit dem Alltag zu beschäftigen, darum, wie man Kinder aufzieht, wie man Essen macht, wie man lebt. Er macht lieber große Theorien über den Untergang der westlichen Welt."
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Medien

In der taz erklärt sich Peter Weißenburger das Bedürfnis nach dem Positiven vor Weihnachten recht nüchtern: "Die Medien bedienen das nur zu gern. Haben zum Jahresende selber keine Lust mehr auf die Kalamitäten, die sie täglich verwalten. Und sind letztlich auch von ganz pragmatischen Überlegungen geleitet. Denn an Weihnachten klickt sich am besten das, was friedliche Unterhaltung verspricht, und nicht das, was schlechte Laune macht." Die Zeit druckt heute in ihrem Politikteil nur gute Nachrichten, (worunter sie auch die Wiederverheiratung von Christian und Bettina Wulff zählt, sonst gäbe es ja noch mehr Weißraum).
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Stichwörter: Gute Nachrichten