9punkt - Die Debattenrundschau

Wie Kätzchen im Bunker

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2016. Charlie Hebdo stellt das Cover zum Jahrestag der Pariser Massaker vor: "Der Mörder ist immer noch auf der Flucht." Im Guardian beschreibt Robert McLiam Wilson die Arbeitssituation der Charlie-Redaktion in den neuen Redaktionsräumen. In der FAZ kritisiert der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm das Demokratieverständnis der neuen EU-Länder. Die SZ schildert den Widerstand malischer Musiker gegen religiösen Terror. Auf critic.de verzweifelt der Filmemacher Robert Brankamp an der deutschen Fernseh- und Förderlandschaft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.01.2016 finden Sie hier

Europa

Charlie Hebdo hat das Cover seiner Nummer zum Jahrestag der Pariser Massaker veröffentlicht: "Ein Jahr danach - Der Mörder ist immer noch auf der Flucht."

"Ich fürchte diesen neuen 7. Januar", schreibt der nordirische Autor und Charlie-Hebdo-Mitarbeiter Robert McLiam Wilson im Guardian, "ich fürchte selbstgewisse Diagnosen der englischsprachigen Welt." McLiam Wilson kritisiert die häufig ignoranten Artikel britischer und amerikanischer Medien über Charlie Hebdo. Und er beschreibt die Situation in der Redaktion jetzt: "Vor ein paar Tagen ging ich zum ersten Mal in die neuen supergeheimen Redaktionsräume von Charlie Hebdo. Als Nordire ist Security nichts Neues für mich, aber dies ist was anderes. Es ist wie die Kulisse des Schurken in schlechteren Bond-Filmen, hermetisch abgeschlossen. Aber im Inneren ein typisches kleines Magazin - nicht viele Leute, unordentliche Küche..., eine Truppe nerdiger Sweethearts in konzentrischen Kreisen titanischer Sicherheit. Wie Kätzchen im Bunker."

Verfassungen überwölben die Gegensätze in Demokratien und können darum nicht einfach zum Mittel der Tagespolitik gemacht werden, schreibt der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm in der FAZ mit Blick auf Polen. "Diese Vorstellung hat sich in vielen Neu-Demokratien bisher nicht etablieren können. Jede Seite wähnt sich im Alleinbesitz des Gemeinwohls, kann also im politischen Konkurrenten nur den Feind sehen. Der Wahlsieger identifiziert sich mit dem Volk. Die Minderheit wird dann zum Volksfeind, und unabhängige Veto- oder Kritikinstanzen erscheinen als ihre Bundesgenossen, die unschädlich zu machen sind."

Marko Martin weist in der Welt auf überraschende und dann doch wieder nicht so überraschende Traditionslinien in der aktuellen polnischen Regierung hin: "Als Detail am Rande: Der PiS-Politiker Piotrowicz, der in Kaczynskis Auftrag das Gesetz zur Schwächung des Verfassungsgerichts im Parlament vorstellte, war zu Jaruzelski-Zeiten Mitglied der KP und Staatsanwalt!"

Alexander Smoltczyk unternimmt für Spiegel online eine lange Rundreise durch das zerbrechliche Europa und lässt sie in eine Liebeserklärung münden: "So wie es Transgender gibt, gibt es auch Transnationale. Menschen, denen plötzlich gewiss wird, am falschen Ort geboren zu sein. Manchmal erst sehr spät, aber immer ohne jeden Zweifel. Sie wissen, dass sie nach Cordoba gehören, nach Finnland oder Cork und nicht nach Bielefeld. Dann fahren sie los. Die fremde Sprache fliegt ihnen zu, ihre Gesten und Bewegungen wandeln sich, mancher denkt nach kurzer Zeit mallorquinischer als jeder Spanier, deutscher als ein Deutscher... Europa ist für diese Transnationalen da."
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Gesellschaft

Jonathan Fischer erzählt in der SZ, wie sich Malis Weltklasse-Musiker gegen die wahabitische Imame wehren, die immer mehr Macht und Ämter im eigentlich tolerant-sufistischen Land an sich reißen: "Selbst Musiker, die bisher nur die Liebe besangen, forderten die Jugendlichen auf, zu demonstrieren. Manche mischten sich gar - in Mali unerhört - in die religiöse Diskussion ein: 'Ich bin Muslim und singe über die Religion', sagt Kouyaté. 'Jeder hat das Recht, sich auszudrücken, sich zu vergnügen. Ich singe über die Rechte der Frauen. Warum hat Gott die Frauen so schön gemacht? Doch nicht, damit wir sie zwingen, sich zu verschleiern. Warum hat Gott den Frauen einen eigenen Kopf gegeben, wenn sie ihn nicht benutzen dürfen?' Mali sei noch immer ein laizistischer Staat und keine islamische Republik."

Elise Graton erzählt in der taz von einem Workshop für intellektuelle Selbstverteidigung, der am Gymnasium Travail Langevin in der Pariser Banlieue-Stadt Bagnolet. Frage: Reden französische Rapper deshalb so oft von 93, weil seit dem Jahr Homosexualität legal ist?
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Medien

In einem Interview auf critic.de verzweifelt der Filmemacher Robert Brankamp an der deutschen Fernseh- und Förderlandschaft, in der jede Ästhetik auf Tatort- oder Talkshow-Format runtergekocht wird: "Die Politik legitimiert die öffentlich-rechtlichen Anstalten, und die öffentlich-rechtlichen Anstalten legitimieren sich gegenüber der Politik am besten in Form von Talkshows. In Talkshows kann in journalistischer Weise gesagt werden: Das hier sind die wichtigen Themen, und dazu kann auch jeder aus jeder Partei etwas sagen. Schlimmer noch ist die Subsumierung von filmischen Erzählungen unter solche Themen... Ich hätte nichts dagegen, wenn 20 Prozent der Fiktion so gesteuert wären. Aber jede komplexere oder spannendere, lustigere, gefährlichere oder überforderndere Ästhetik ist daneben ja abgeschafft worden. Die Macht der journalistischen Fraktionen innerhalb der Sender hat dazu geführt, dass es eigentlich gar keine interessanten fiktionalen Formen mehr gibt."

Smartphones machen unglücklich, lernt Laila Oudray in der taz von Alexander Markowtz: "Wer ständig unterbrochen werde, könne sich nicht konzentrieren und komme nicht in den 'Flow'. Damit wird in der Psychologie das Gefühl des völligen Aufgehens in eine Tätigkeit beschrieben. Dieser Zustand ist eine Quelle für Glück."
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Religion

Der Antisemitismus wurde maßgeblich von Nazis und den Sowjets in die islamischen Länder getragen, meint Alan Posener, der überzeugt ist, dass man "den Antisemitismus nicht bekämpfen kann, ohne den Islamhass zu bekämpfen", in einer Polemik gegen die Islamwissenschaftlerin und Religionskritikerin Barbara Köster auf starke-meinungen.de: "Indem man diesen Einfluss - und den Einfluss des sowjetischen Antizionismus auf die arabischen Klientel-Staaten des Ostblocks wie Irak und Syrien - leugnet, spricht man sich selbst jeglicher Verantwortung frei. Der Islam kann - wie ehedem das Judentum - als das unbedingt und unvermittelt Fremde dämonisiert werden." Posener bezieht sich auf Kösters Artikel "Scharia - Arbeit am Endsieg" in Roland Tichys Blog.

Necla Kelek beharrt im Gespäch mit Doris Schäfer-Noske vom Deutschlandfunk auf Trennung von Religion und Politik im Islam: "Nur wenn der Islam es schafft, tatsächlich innerhalb des europäischen Gedankens darüber, was mittlerweile als religiös verstanden wird - dass es eine private Entscheidung ist zu glauben... -, nur wenn er ein Glaube und Religion wird, kann ein Islam auch als Religion hier für uns gelten."
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Kulturpolitik

In der Berliner Zeitung bemerkt Nikolaus Bernau zu Neil MacGregors Amtsantritt am Berliner Humboldt-Forum, dass die eine oder andere Frage bisher nicht geklärt wurde: "Für manches wird die Einsicht der Politik, dass ohne Inhaltsidee nicht gut bauen ist, zu spät kommen. Wie viele dem Zweck des Gebäudes, ein Museums- und Veranstaltungszentrum zu sein, skandalös widersprechende Planungen hätten vermieden werden können, wenn es von Anfang an eine mit Vetorecht versehene, nur für die Inhalte zuständige Person in der Schlossbaustiftung gegeben hätte. Kaum wäre dann das Hauptgeschoss für Bibliotheken reserviert worden, sicher wären angemessen hohe und weite Ausstellungssäle für die Museen geschaffen worden. Stattdessen wurde jahrelang über die leidige Fassadenfrage debattiert."
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Kulturmarkt

In der SZ beschreibt Lothar Müller, wie sich Buchhandlungen zu modernen Literaturhäusern umwandeln, um im digitalen Geschäft zu überleben: "Der Gegensatz von stationärem Buchhandel und Online-Buchhandel hat ausgedient. Alle nutzen möglichst alle Verkaufskanäle."

In Berlin hat der kubanische Künstler Roberto Diago seine erste Ausstellung eröffnet, Boris Pofalla berichtet in der Zeit über eine regelrechte Goldgräberstimmung auf Havannas Kunstmarkt.
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Stichwörter: Diago, Roberto, Kuba, Havanna