9punkt - Die Debattenrundschau

Es geht sozusagen um einen Kant'schen Integrativ

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2016. In der FAZ fragt Monika Maron, wie man eigentlich in Deutschland zwischen Links- und Rechtspopulisten noch agieren kann. Außerdem stellt die FAZ das neue Buch von Gilles Kepel zur Genese des französischen Dschihadismus vor. Ulrike Draesner beobachtet in Freitext die gelungene Integration ihrer Tochter in einer britischen Schule. Die NZZ plädiert für eine verantwortungsvolle Bereitstellung der Tagebücher Anne Franks. Slate.fr und die FR beugen sich über die neueste Karikatur von Charlie Hebdo. Die taz ist enttäuscht von den Ergebnissen der Gurlitt-Taskforce.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.01.2016 finden Sie hier

Gesellschaft

"Anschwellende Missstimmung" beobachtet in der FAZ Monika Maron angesichts von Politikern, die den Rechtspopulisten durch ihre defensive Politik nur zuarbeiteten und so helfen, die Gesellschaft zu spalten: "Aber was tun wir, die weder mit Pegida spazieren gehen noch die AfD wählen wollen und trotzdem davon überzeugt sind, dass ein nicht absehbarer Flüchtlingsstrom Deutschland nicht ökonomisch, aber in seinem politischen und kulturellen Fundament gefährdet? Warum gehen wir nicht wie die freiheitsliebenden Polen auf die Straße, um von der Regierung zu fordern, dass sie das Gesetz nicht bricht? Warum stehen wir nicht an einem Sonnabend vor dem Reichstag und protestieren gegen eine kopflose Flüchtlingspolitik, die zudem rassistischen und rechtsextremen Kräften, die sie bekämpfen will, Vorschub leistet? Wir sind selbst verantwortlich für unser Land."

Ebenfalls in der FAZ mokiert sich Jürgen Kaube über die Sprachregelungsschilder zu Köln, die derzeit rechts und links aus der Erde ploppen.

In der SZ ermuntert der in Berlin lebende syrische Journalist Yahya Alaous, andere Flüchtlinge, zur Aufklärung der Übergriffe in Köln, Hamburg und anderswo wenn möglich beizutragen: "Wir sind nicht alle Terroristen, Belästiger, Vergewaltiger. Die allermeisten Flüchtlinge sind sehr dankbar für die Gastfreundschaft in Deutschland, dafür, dass wir die Chancen bekommen können, hier heimisch zu werden. Sie wollen ein Teil des Landes werden - dazu gehört auch, Konjugationen und Deklinationen zu lernen. Dafür ist es jetzt aber wichtig, dass die große Gruppe der Flüchtlinge, egal ob Syrer, Iraker, Marokkaner, Zeichen setzt. Es geht darum so vorbildlich zu handeln, wie wir hier auch fast immer behandelt werden. Es geht sozusagen um einen Kant'schen Integrativ."

Im Freitext-Blog auf Zeit online empfiehlt Ulrike Draesner, deren Tochter in England zur Schule geht, das britische Schulsystem als vorbildlich für die Integration von Migranten - gerade wegen der strikten Regeln: "Wer in diese Gemeinschaft eintritt, darf seine latente Tradition und Identität behalten. Die Schule gibt eine neue, gemeinsame Identität hinzu, ohne dass die alte verleugnet werden müsste. Die neue Identität bestimmt sich nicht durch Tradition, sondern durch Regeln. Das muss kein Widerspruch sein, selbstverständlich haben auch Regeln Tradition. Entscheidend ist die Gewichtung: Regeln gelten nicht, weil sie (dieser oder dieser) Tradition entspringen, sondern weil sie sich als Instrumente von Förderung und Respekt bewährt haben."
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Europa

In der FAZ stellt Lena Bopp das neue Buch von Gilles Kepel "Terreur dans l'Hexagone" über die "Genese des französischen Dschihadismus" vor, das in Frankreich nach kürzester Zeit ausverkauft war (in Deutschland aber noch keinen Verlag gefunden hat!). Dass den französischen Muslimen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben so wenig ermöglicht wird, ist für ihn der wichtigste Grund der Radikalisierung, so Bopp. Stark dazu beigetragen haben aber auch die "von Nicolas Sarkozy während dessen Präsidentschaft angezettelte Diskussion über die identité nationale, die einen Resonanzraum für den seinerzeit wiedererstarkten rechtsextremen Front National schuf, der sogleich die vermeintliche Islamisierung des Landes ins Visier nahm. Aber auch die 'Ehe für alle' hatte einen beachtlichen Anteil daran, dass der jetzige Präsident Hollande nicht nur die Unterstützung vieler Muslime verlor, die 2012 noch für ihn gestimmt hatten."
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Urheberrecht

Andreas Kilcher schreibt in der NZZ über das Gezerre um das Erbe Anne Franks, unter anderem zwischen den zwei Stiftungen in Basel und in Amsterdam - und er verteidigt den Standpunkt der Basler Stiftung, die die Urheberrechte auf die 1986 erstmals erschienene kommentierte Version des Tagebuchs nicht freigeben will, obwohl sie eigentlich an einer neuen und noch kritischeren Ausgabe arbeitet: Den Baslern gehe es "um die verantwortungsvolle Bereitstellung eines historisch und philologisch gesicherten Textes - was im Fall der Tagebücher von Anne Frank tatsächlich ein höchst anspruchsvolles Vorhaben ist: Das 'Tagebuch' ist nämlich entgegen verbreiteten Vorstellungen keineswegs ein homogener Text; vielmehr liegen Tagebücher in unterschiedlichen fragmentarischen Fassungen vor, die zudem in den historischen Kontext zu stellen sind und eines Kommentars bedürfen, wie Yves Kugelmann, Stiftungsratsmitglied des Fonds, argumentiert." Und warum darf das siebzig Jahre nach der Emordung der Autorin nicht zirkulieren?
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Stichwörter: Frank, Anne, Urheberrecht

Kulturpolitik

Gestern stellte Ingeborg Berggreen-Merkel, die Leiterin der Taskforce zur Erforschung der Gurlitt-Sammlung ihre Ergebnisse vor. Die Bilanz ist dürftig, schreibt Marcus Woeller in der Welt: Lediglich bei elf Werken von über 500 Werken "ist die Provenienz geklärt, bei vieren der Raub durch die Nationalsozialisten bestätigt. Das sind die Gemälde von Liebermann und Matisse sowie eine Zeichnung von Adolph Menzel und eine Arbeit von Carl Spitzweg, deren Identität und Herkunft aber auch schon seit langem bekannt sind (dazu kommt der Pissarro aus Salzburg). Bei zwei der elf Werke hat sich ein starker Verdacht des NS-verfolgungsbedingten Entzugs ergeben, bei fünf Werken konnte er ausgeschlossen werden."

In der taz findet Ronald Berg das Ergebnis der Kommission "ziemlich mager". Aber es wurde auch etwas erreicht, meint Brigitte Werneburg: "Die Provenienzforschung wurde institutionalisiert, dabei zentralisiert und mit den nötigen Geldmitteln ausgestattet. Das wird die Chancen aller Erben von Opfern des NS-Kunstraubs auf Restitution erhöhen."

Nach dem überraschenden Abgang von Schlossbaumeister Manfred Rettig hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters jetzt noch ein Problem beim Humboldt-Forum, meldet im Tagesspiegel Antje Sirleschtov. "Der von Grütters nach Berlin gelotste Gründungsintendant Neil MacGregor ... hat es abgelehnt, als Geschäftsführer der GmbH Verantwortung für die Umsetzung seiner Gestaltungsvisionen zu übernehmen. Grütters muss nun - und zwar in Windeseile - einen anderen Geschäftsführer finden. Man ahnt, dass das nicht leicht werden wird. Schließlich ist Ärger vorherzusehen, wenn einer (MacGregor) kreative Ideen hat und der andere sie umsetzen und den Kopf hinhalten muss. Zumal jetzt, wo es um Raumkonzepte, Nutzungsideen und Exponatauswahl geht, die Zahl derer, die unbedingt mitreden möchten, erwartungsgemäß immer größer werden wird."

Es mag ja vielleicht was kosten, aber irgendjemand muss endlich mal Ideen fürs Forum entwickeln, meint Christiane Peitz: "Ganz schön unbequem, wenn MacGregor fragt, wie denn der Islam im Humboldt-Forum vorkommen soll - in einem derart fortgeschrittenen Stadium. Aber besser spät als nie. Bei ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren fand Grütters eine bauliche Hülle vor, die bislang nur für den engagiert geplanten Umzug der Dahlemer Museen nach Mitte zugerüstet wird. Gesamtkonzepte für eine Neupräsentation der globalen Kulturen in der globalisierten Welt? Fehlanzeige. Das Versäumnis ist Grütters' Vorgängern zuzuschreiben. Sie legte los, in letzter Sekunde."
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Medien

Begierig wird in all jenen Medien, die nicht Charlie sind, die Frage gestellt, ob eine neue Zeichnung von Riss, die den kleinen, in der Türkei gestorbenen Flüchtlingsjungen unter der Frage "Was wäre wenn?" als Frauenbelästiger zeigt, nun endgültig beweist, dass Charlie Hebdo ein rassistisches Magazin sei. Auch Jean-Laurent Cassely ist in Slate.fr nicht gerade ein Fan der Zeichnung, aber er erläutert auch, dass sie in einer Tradition des Blattes steht: "mit den Vorurteilen der extremen Rechten spielen und sie wörtlich nehmen, um eine absurde Situation zu schaffen". Cassely fragt, ob das neue große Publikum der Zeichnung wirklich "bereit" ist für den Humor der Zeitschrift. "Das historische Publikum des 'dummen und bösen' Blattes Charlie Hebdo, das seine anarchistische Ideologie, seine Ablehnung der Religion, seinen bösen und extem geschmacklosen Ton schätzt, ist wesentlich kleiner. Es ist keine Überraschung, dass die Zeitschrift ihre frisch konvertierten Leser mit jedem Heft neu erschreckt."

In der FR fragt sich Thomas Kröter, ob die Zeichnung überhaupt richtig gelesen wird: "Womöglich geht es darin nicht um das Kind und was aus ihm hätte werden können - sondern um uns. Erst idealisieren wir an seinem tragischen Beispiel die Flüchtlinge. Dann verteufeln wir sie alle als Grabscher."

Der Iran wird zwar vom Westen umworben, antwortet darauf aber nicht gerade mit Sympathiebekundungen. Nun schreibt das Land wieder einen antisemitischen Karikaturen-Wettbewerb aus und erhöht das Preisgeld von 12.000 auf 50.000 Dollar, berichtet die Presse mit der Agentur APA. Thema ist natürlich wieder der Holocaust, heißt es in der Meldung, die den Organisator des Wettbewerbs, Masud Shojai-Tabatabai zitiert: "'Unsere Absicht ist es nicht, den Holocaust zu billigen oder zu leugnen', hatte Shojai-Tabatabai im Dezember erklärt. 'Die Hauptfrage ist: warum darf man nicht über den Holocaust reden, wenn doch der Westen so an die Meinungsfreiheit glaubt? Außerdem, warum muss das unterdrückte palästinensische Volk den Preis für den Holocaust zahlen?'"
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