9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Krise europäischer Männlichkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.01.2016. Mehr Erklärungen für die Kölner Übergriffe: Im Spiegel macht Slavoj Zizek Aggression und Neid dafür verantwortlich. Täter waren vor allem heterosexuelle Männer, gibt die taz zu bedenken. In der FAZ nimmt die Ethnologieprofessorin Susanne Schröter die patriarchalen Strukturen bei vielen Flüchtlingen aufs Korn. Die Berliner Zeitung erkundet die neue Kulturhauptstadt Breslau. Politico zeigt mit Donald Trump die Unterschiede zwischen Britannien und den USA auf. In der SZ beschimpft Evgeny Morozov Silicon Valley als technikaffine Version der Tea Party.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.01.2016 finden Sie hier

Gesellschaft

Jenseits der Polemik, auf die sie im Perlentaucher nochmals ausführlich eingeht, ist eine ungeheure Integrationsarbeit zu leisten, meint Eva Quistorp im Perlentaucher - und das geht alle an: "Wie erklären unsere Kulturinstitutionen und Literaturfeste und Universitäten den 'Neuen', wie Frau Künast und Käßmann sie gern vereinfachend nennen, die modernen Sitten liberaler Kreise in Deutschland, die Homoehe, die ja bis in die CDU hinein vertreten wird, Religionsfreiheiten, Religionskritik auch gegenüber dem Islam?"

Ganz anders beschreibt Slavoj Zizek im Spiegel und im New Statesman auf Englisch die Übergriffe von Köln als einen obszönen Karneval der Underdogs, die nicht nur ihren sexuellen Hunger befriedigen, sondern in einem öffentlichen Spektakel Angst verbreiten wollten: "Na­tür­lich ist bei ei­nem sol­chen Kar­ne­val nichts Er­lö­sen­des oder Emanzipa­to­ri­sches, nichts wirk­sam Be­frei­en­des - aber so funk­tio­nie­ren ech­te Kar­ne­vals. Des­halb sind die Bemühungen, Mi­gran­ten auf­zu­klä­ren, ih­nen zu er­läu­tern, dass bei uns an­de­re se­xu­el­le Sit­ten und Ge­bräu­che herrschen, dass bei­spiels­wei­se eine Frau, die in der Öffent­lich­keit ei­nen Mi­ni­rock trägt und lä­chelt, da­mit kei­ne se­xu­el­le Ein­la­dung aus­spricht, Bei­spie­le atem­be­rau­ben­der Dumm­heit. Sie wis­sen das, und des­halb tun sie es. Es kann also nicht dar­um ge­hen, ih­nen bei­zu­brin­gen, was sie schon wis­sen, son­dern ihre Hal­tun­gen, ihre Ein­stel­lun­gen, ih­ren Neid und ihre Ag­gres­si­on zu ver­än­dern und ab­zu­bau­en... Um sie wirk­lich zu eman­zi­pie­ren, müss­ten sie zur Frei­heit er­zo­gen wer­den."

In der taz untersucht Jan Feddersen die giftige Mischung, die immer wieder Frauen, Schwule und Transsexuelle zu Opfern sexueller Gewalt wie in Köln macht: "Jene, die in Köln und anderswo schockierten, waren und sind Jäger: nach Materiellem, nach Sexuellem in vergewaltigender Absicht. Diese Männer eint nicht, grob gesagt, dass sie muslimisch sind. Vielmehr, dass sie aus Gesellschaften kommen, in der der Islam die absolute Dominanzreligion abgibt - und diese liefert jeden Vorwand zur Gewalt gegen Frauen, gegen Homosexuelle, gegen Schwächere überhaupt."

In der taz weiß Elisabeth Lehmann zudem ein Lied über sexuelle Belästigungen in Nordafrika zu singen: "'Taharrush', also Belästigung, war das erste arabische Wort, das ich in Kairo gelernt habe."

Susanne Schröter, Professorin für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt, macht im Interview mit der FAZ ebenfalls in erster Linie die patriarchalen Strukturen und die repressive Sexualmoral in muslimischen Ländern verantwortlich für sexuelle Übergriffe wie in Köln oder Hamburg. Sie setzt auf stärkere Aufklärung in den Integrationskursen. Den Aufruf #ausnahmslos findet sie dagegen wenig hilfreich, weil er die Übergriffe in Köln banalisiert: "Ich halte das für eine Verharmlosung. Anzüglichkeiten und Anmache werden hier teilweise mit massiver sexueller Gewalt gleichgesetzt. Diesen Unterschied muss man benennen, und hier ist auch ein klares kulturelles Muster zu erkennen. Wer das nicht benennt, hat kein Mittel in der Hand, es zu bekämpfen. Das heißt noch lange nicht, dass die deutsche Gesellschaft nicht sexistisch ist."

Polizisten im Dienst werden immer häufiger verletzt, erklärt auf Zeit online die Polizistin Tania Kambouri im Interview. Die Täter "kommen aus allen Gruppen, aber die Mehrzahl sind junge, muslimisch geprägte Migranten. Und immer häufiger sind sie bewaffnet, vor allem mit Messern." Besonders frustrierend für die Polizei: "Die meisten Strafverfahren werden eingestellt, oder die Täter kommen mit solch einer geringen Strafe davon, dass sie uns ins Gesicht lachen. Da fühlt man sich als Polizist eher allein gelassen. Und manche Kollegen überlegen sich dann schon, ob sie beim nächsten Mal wirklich durchgreifen oder sich nicht besser zurückziehen. Aber damit überlässt man denen die Straße."

In der Leitglosse der FAZ meldet Kerstin Holm, dass russische Aktivistinnen mit Unverständnis auf die Ereignisse in Köln reagieren. "Für eine andere russische Amazone, die Schriftstellerin Maria Golowaniwskaja, vergegenwärtigen die Kölner Ereignisse vor allem eine Krise europäischer Männlichkeit. Unter den Opfern jener Nacht habe es anscheinend keine 'zerschlagenen männlichen Physiognomien' gegeben, stellt Golowaniwskaja fest. Die Bewohnerin eines Landes, wo man sich zivile Freiheiten täglich erkämpfen muss, findet das höchst verstörend."
Archiv: Gesellschaft

Europa

Dass Breslau ausgerechnet in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas ist, hält Jan Opielka in der Berliner Zeitung angesichts der Flüchtlingsströme für einen irgendwie gelungen Streich der Geschichte: "Wohl kaum eine andere Stadt Europas kann von sich behaupten, dass sich die nationale Zusammensetzung ihrer Einwohnerschaft innerhalb kürzester Zeit nahezu zu 100 Prozent verändert hat - aufgrund von Flucht, Vertreibung, Heimatverlust. Davon konnten nach 1945 jahrzehntelang sowohl die alten deutschen Breslauer, als auch die neuen polnischen 'Wroclawiacy', die meist aus ehemals polnischen Ostgebieten stammten, viel berichten. Ihre Erzählungen waren getränkt von Leid, Hass, Nostalgie."

In Britannien gibt es den Versuch, Donald Trump die Einreise ins Land zu verbieten. Das, meint der Brite Robert Colvile in Politico, wirft ein Schlaglicht auf die Unterschiede zwischen Britannien und den USA, "und es ist nicht sehr schmeichelhaft für unser Land. In den USA gibt es große Empörung über Trumps rassistische Sprüche. Aber es wird auch anerkannt, dass der erste Verfassungszusatz ihm das Recht dazu gibt. In Britannien gibt es kein derartiges Bekenntnis zur Meinungsfreiheit. Statt dessen hat die Regierung die positive Pflicht das, was als 'hate speech' erachtet wird, zu überwachen und zu bestrafen. Daher hat die Innenministerin Theresa May tatsächlich die Macht, Trump die Einreise zu verbieten, wenn sie entscheidet, dass er 'Hass fördert, der zu Gewalt zwischen den Communities führen kann'."

Im Guardian guckt der Historiker Neal Ascherson mit größter Besorgnis auf Polen, das mit der neuen Regierung autoritär nach innen und höchst agressiv nach außen gegen Deutschland und Russland zugleich agiert. Zugleich halten die Kaczyński-Bewunderer sich für die besseren EU-Bürger: "Die jüngste Kritik aus Brüssel inspirierte einen rechten Magazin Titel, europäische Führer in Naziuniform zu zeigen: 'Wieder wollen sie Polen erobern.' Die PiS-Regierung ist 'antieuropäisch'. Aber das bedeutet nicht, dass ihre Unterstützer Europa verlassen wollen. Die Polen glauben, dass ihre 'christlichen Werte' sie europäischer machen als jeden anderen auf dem Kontinent. Und darum, will eine erstaunliche Mehrheit von 75 Prozent von ihnen in der EU bleiben, obwohl sie sie des Atheismus, Individualismus und der Unmoral anklagt."
Archiv: Europa

Internet

In der SZ greift Evgeny Morozov noch einmal auf Mike Bulajewskis Essay "The Cult of Sharing" zurück, um den Konzernen des Silicon Valleys vorzuwerfen, im Kampf gegen staatliche Regulierung ihre Kunden einzuspannen: "Silicon Valley ist wie eine kosmopolitische und technikaffine Version der Tea Party: Die Start-up-Fraktion will uns glauben machen, dass der Kapitalismus zwar theoretisch funktioniere, dessen heute existierende Version davon jedoch weit entfernt sei. Die staatlichen Institutionen stünden unter der Macht der großen, alten Konzerne, und die Bürger müssten den Preis dafür bezahlen. Sei es in Form höherer Kosten für Transport und Miete, sei es in Form von Beschränkungen der Freiheit, über ihr Eigentum und ihre Zeit zu verfügen." (Hier Morozovs Text auf Englisch.)
Archiv: Internet

Geschichte

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts strömten tausende deutsche Auswanderer - vor allem aus der völlig verarmten Pfalz - nach England in der Hoffnung, dort Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Wie viele Briten fragte sich auch Daniel Defoe, wie man all diese Leute unterbringen sollte, erzählt Christian Staas auf Zeit online. Den Brief konnte er in einer Ausstellung in Bremerhaven über deutsche Auswanderer lesen: "Daniel Defoe betrachtete die Krise in seiner Review als Chance. Doch die Sache ging nicht so aus, wie er es sich wünschte: Die britische Regierung verhängte einen Aufnahmestopp. Die Katholiken unter den Flüchtlingen, die sich weigerten zu konvertieren, expedierte man schon im Sommer 1709 zurück nach Rotterdam - ihnen wollte man im protestantischen England kein Asyl gewähren (zumal man im Krieg mit dem katholischen Frankreich lag). Auch als sich herausstellte, dass die meisten protestantischen Pfälzer nicht akuter religiöser oder politischer Unterdrückung entronnen waren, sondern als 'Wirtschaftsflüchtlinge' kamen, waren die Engländer not amused."
Archiv: Geschichte