9punkt - Die Debattenrundschau

Bleibt die Frage, wer die Trottel waren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2016. Die SZ schildert recht anschaulich, wie das polnische Fernsehen gleichgeschaltet wird. Die NZZ liest französische Bücher zum Thema Dschihadismus und verweist besonders auf die Blindheit der Linken für den religiösen Furor. Der Guardian startet eine Serie über Saudi-Arabien und fürchtet wie viele Saudis: Die Prinzen sind noch die Besten unter den Schlechten. Lord Weidenfeld publizierte bis kurz vor seinem Tod - in seinem letzten Interview mit der Welt kritisiert er die deutsche Flüchtlingspolitik. Richard Tofel von propublica bringt alarmierende Zahlen über die Lage der amerikanischen Zeitungen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.01.2016 finden Sie hier

Religion

In der NZZ stellt Marc Zitzmann eine ganze Reihe neuer französischer Bücher zum Dschihadismus vor: von Gilles Kepel, David Thomson oder Pierre-Jean Luizard. "Einen weiteren gewichtigen Beitrag zur Debatte liefert endlich Jean Birnbaum. In seinem Essay 'Un Silence religieux' geißelt der Verantwortliche der Literaturbeilage von Le Monde die Minimierung, wo nicht gar Verdrängung der religiösen Motivation des Jihadismus durch Frankreichs Linke. Ein Phänomen, das er auf den Algerienkrieg zurückführt, als die progressiven Helfer des Front de libération nationale ausblendeten, wie dieser sich auf den Islam berief, um zu mobilisieren. Heute fänden soziologische oder psychologische Erklärungen spontan Zuspruch - aber an die Wirkungsmacht des Glaubens glaube niemand."
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Politik

Ian Black startet im Guardian eine Serie über dieses fatale Land Saudi-Arabien, dessen Prinzen zum Neid vieler Mitbürger gerade eine Menge Grund und Boden kaufen, um noch reicher zu werden, und doch sagen die Leute über sie: "'Die Al Saud sind unter den Schlechten noch die Besten', so ein Regierungsangesteller mittleren Alters. 'Es gibt 40.000 von ihnen. Aber ohne sie wäre es hier wie im Jemen.' Der üble Krieg nebenan, der im letzten Jahr angefacht wurde, wird weithin als eine Sache der Selbstverteidigung gesehen, obwohl er wegen seiner Dauer und der Kosten Unbehagen auslöst."

Das deutsche PEN-Zentrum hat kürzlich einen israelischen Gesetzentwurf kritisiert, der laut PEN die Arbeit regierungskritischer NGOs behindern könne. Daraufhin kündigte der Schriftsteller Thomas Meinecke seine Mitgliedschaft im PEN, meldet Laura Aha in der taz: "Stein des Anstoßes für Meinecke war insbesondere der Satz: 'Während nämlich kritische 'linksgerichtete' NGOs, die öffentliche Fördermittel aus dem Ausland erhalten, verschärften Kontrollen unterliegen sollen, gilt dies nicht für 'rechtsgerichtete' Gruppen, die ihre Spenden oftmals auch aus dem Ausland, aber in der Regel von privaten Sponsoren erhalten.' In der Wortwahl sieht der bekennende linke Schriftsteller ein subtiles Aufgreifen historisch belasteter, jüdischer Klischees."

Die Kritik an Israel ist auch deshalb oft so wenig überzeugend, weil sie so massiv daherkommt, meint Ulrich Schmid in der NZZ. Übeltäter in der arabischen Welt lässt man dagegen gern davonkommen: "Dies ist purer Rassismus. Man nimmt die Missetäter in anderen Weltgegenden nicht ernst. Man erklärt sie für intellektuell nicht satisfaktionsfähig, man verweigert ihnen die Ehre der Kritik."
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Europa

Schon frühere polnische Regierungen griffen in die öffentlich-rechtlichen Sender ein, erzählt Florian Hassel in der SZ: "Die Pis aber geht deutlich weiter. Ende 2015 entmachtete die Regierung das bisherige Aufsichtsgremium, schaffte öffentliche Ausschreibungen für Führungsposten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, Radio und der staatlichen Presseagentur ab und übertrug die Personalhoheit dem Minister für Staatsbesitz. Der ernannte frühere Pis-Parteisoldaten wie den 'Bullterrier Kaczynskis', Jacek Kurski, zu Direktoren."
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Kulturpolitik

Anders als viele Journalisten ist Matthias Frehner, Direktor des Berner Kunstmuseums, dem Cornelius Gurlitt seine Bilder vermacht hat, von der Arbeit der Gurlitt Task Force nicht enttäuscht: Sie habe grundlegende Arbeit geleistet und dass es nur so wenig Raubkunst gebe, sei doch eigentlich eine gute Sache, meint er in der NZZ, denn es zeige: "Was in Cornelius Gurlitts Wohnung und in seinem Salzburger Haus beschlagnahmt oder durch seine Anwälte sichergestellt worden war, ist keine milliardenschwere Raubkunst-Sammlung, mit deren Aufarbeitung sich ein Teil der Schandtaten der Nationalsozialisten in großem Umfang wiedergutmachen ließe. Die durch die Medien verbreiteten Erwartungen waren unrealistisch."
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Gesellschaft

Wie es um sexuelle Belästigung in Kairo steht, berichtet Sonja Zekri auf Seite 3 der SZ: "99,3 Prozent aller Frauen sagten hier in einer Befragung durch die UN im Jahr 2013, dass sie schon Opfer sexueller Belästigung geworden seien. 96,5 Prozent von ihnen berichteten von körperlichen Übergriffen, 95,5 Prozent von obszönen Kommentaren, fast ebenso viele klagten über das Anstarren."

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beklagt im Tagesspiegel-Interview mit Joachim Huber im Rückblick auf die Köln-Berichterstattung und Köln-Debatte den "Sofortismus" und die "Entfesselung des Bestätigungsdenkens" in allen politischen Fraktionen: "Köln ist für mich die Chiffre eines erschütternden Verbrechens, das unbedingt verfolgt werden muss. Aber es ist auch ein hochexplosives Wahrnehmungsereignis, das klargemacht hat: Die emotionale Sofortdeutung erschlägt das Warten auf belastbare Faktizität." Einen interessanten Punkt macht Pörksen zur Konjunktur von Verschwörungstheorien, die für ihn paradox ist, denn "es wäre gerade heute für Journalisten in diesem Land unendlich schwer, systematisch Information zu unterdrücken. Ihre Macht und Deutungshoheit ist gebrochen. Alles ist sofort sichtbar."

Warum muss jeder handfeste Skandal wie die die Kölner Übergriffe immer gleich relativiert werden, fragt Adam Soboczynski in der Zeit. "Das autoritäre Klima der frühen Bundesrepublik wurde zu Recht ausgiebig beklagt. Wenn es überwunden wurde, dann nicht, weil man ausgesucht tolerant gegenüber der Rückständigkeit der Provinz, gegenüber den Kirchen und ihren Wertvorstellungen gewesen wäre."

Bis zuletzt hat Lord Weidenfeld, der im Alter von 96 Jahren gestorben ist, in der Welt publiziert. Heute bringt sie sein letztes Interview, in dem er auch die deutsche Flüchtlingspolitik kritisiert - und sich an seine eigene Flucht vor den Nazis erinnert: "Bei meiner Flucht nach Großbritannien wurde ich 1938 ganz genau kontrolliert und benötigte Papiere. Ich wollte die totale Assimilierung, und Bedingungen stellte ich schon gar keine. Regellose Zuwanderung hingegen bedeutet das Recht des Stärkeren." Den sehr persönlichen Nachruf auf Lord Weidenfeld schreibt in der Welt Mathias Döpfner höchstselbst. In der FAZ schreibt Gina Thomas einen Nachruf.

Ulrike Hermann erklärt in der der taz sehr schön, welch komplizierte Wertpapiere man einst konstruieren musste, um wie im Film "The Big Short" auf einen Immobiliencrash zu wetten. CDO und CDS hießen die Papiere: "Bleibt die Frage, wer die Trottel waren, die die synthetischen CDOs kauften, später Milliardenverluste aufhäuften und die 'Big Short'-Helden reich gemacht haben. Der Film gibt keine Antwort. Leider. Denn es waren die deutschen Landesbanken. 'Stupid Germans' hießen sie in New York."
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Geschichte

In der FAZ erzählt Othmar Plöckinger, einer der Herausgeber der kritischen Ausgabe von "Mein Kampf" von der Arbeit an dem Trumm: "Bis zu sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigten sich gleichzeitig mit dem Buch. Der Arbeitsprozess gestaltete sich entsprechend komplex, nicht zuletzt, da auch zahllose Zuarbeiten größeren und kleineren Umfangs von außen koordiniert und eingearbeitet werden mussten."
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Stichwörter: Hitler, Adolf, Mein Kampf

Medien

Auf Zeit online ist Lenz Jacobsen empört, dass der SWR die AfD nach Protesten von SPD und Grünen aus einer Fernsehdiskussion ausgeladen hat. "Wenn diese Parteien sich die politische Auseinandersetzung mit der AfD nicht zumuten wollen, ist das ihr Problem. Mit wem man streiten will und mit wem nicht, kann jeder Politiker und jede Partei selbst entscheiden. Und jeder Wähler, wem er dann seine Stimme gibt. Wenn aber journalistische Institutionen sich erpressen lassen und den öffentlichen politischen Streit auf eine Komfortzone für die Mächtigen verengen, ist das eine Schande für den Journalismus ein Problem für die Demokratie."

Deutsche Medien beschäftigen viele "Pauschalisten", also feste Freie, deren Status arbeitsrechtlich umstritten ist. Die Süddeutsche stellt ihre Pauschalisten jetzt fest an, berichtet Anne Fromm in der taz: "Dafür wurde ein Ampelsystem ausgearbeitet, das die Mitarbeiter je nach Dringlichkeit der Einstellung klassifiziert: Rot sind alle, die vier oder fünf Tage pro Woche in der Redaktion sind, die so schnell wie möglich angestellt werden sollen. Das betrifft vor allem Mitarbeiter der Onlineausgabe. Dort sollen alle, die bisher in Schichten gearbeitet haben, als Redakteure angestellt werden."

Richard Tofel, Mitbegründer von propublica, legt bei Medium.com eine betrübliche Bilanz der Auflagenentwicklung amerikanischer Zeitungen vor und kommt zu dem Ergebnis: "Es bleiben nur mehr zwei Printzeitungen im gesamten Land (Wall Street Journal und New York Times), die an Wochentagen mehr als eine halbe Million Exemplare verkaufen , nur sechs Zeitungen, die mehr als eine Viertelmillion Exemplare verkaufen, und nur etw 22, die mehr als 100.000 Exemplare verkaufen." Weniger dramatisch klingen deutsche IVW-Zahlen, die turi2 referiert. Demnach hat die Tagespresse 2015 4,3 Prozent Auflage verloren. Die Auflage des Spiegel liegt inzwischen unter 800.000, die des Stern bei 720.000.

An Silvester, fünf vor 12, hat der Deutschlandfunk als letzter Sender die Mittelwelle abgeschafft. Das digitale Radio ist eben nicht aufzuhalten, aber traurig macht es Joachim Güntner (NZZ) schon: "Mit den digitalen Audio-Formaten treibt das Netzdenken - viele verknüpfte Knoten - dem Radio den Rundfunk aus."
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