9punkt - Die Debattenrundschau

Idealer Resonanzboden

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2016. Thomas Schmid vernimmt in der deutschen Debatte einen beunruhigenden "Weimarer Ton", auch unter Intellektuellen, und fragt, woher der Hass kommt. Während die NZZ die düstere Wirtschaftslage Russlands ausmalt, zeichnet Politico.eu ein Porträt des Dissidenten Alexej Nawalny, der einsam, aber unverdrossen weitermacht. In der SZ ist dem niederländischen Autor René Cuperus sowohl das helle, als auch das dunkle Deutschland unheimlich. Die FAZ kritisiert das Internet. Und die taz wünschte, dass Lenin sich von Dada hätte anstecken lassen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.02.2016 finden Sie hier

Ideen

Einen neuen Hass, der sich häufig gegen Angela Merkel (und die "Lügenpresse") richtet, diagnostiziert Thomas Schmid in einem Blogbeitrag in Deutschland - auch unter Intellektuellen wie Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk: "Leise, aber deutlich ist der Weimarer Ton wieder zu vernehmen. Patzig, primitiv, weinerlich und das Gespräch durch putative Härte, die gleichwohl Schwäche signalisiert, unterbindend. Ein wenig beunruhigend ist das, weil es nicht mehr nur an extremen rechten und linken Rändern artikuliert wird, nicht mehr nur von den notorischen Schmuddelkindern kommt. Beunruhigend auch, dass der neue Hass dabei ist, in die Salons einzutreten."

Außerdem: Im Aufmacher des FAZ-Feuilletons mokiert sich Jürgen Kaube über die Idee des abgelegenen Professors Thomas Strothotte, Arabisch in Deutschland zur verpflichtenden Fremdsprache zu machen.
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Europa

Ein paar interessante Punkte macht der niederländische Autor René Cuperus in der SZ mit Blick auf die deutsche Debatte über Flüchtlingspolitik: "Ist das helle Deutschland historisch und soziologisch gesehen nicht gefährlich naiv? Das betrifft auch die Gegenreaktion in Deutschland. Sehr besorgt sind die Niederländer nämlich auch über Dunkeldeutschland, die schwarze, gewalttätige rechtsextreme Szene von Neonazis und Verwandten. Der rechte Rand Deutschlands ist viel aggressiver, gewaltbereiter und umfangreicher als der in den Niederlanden. Die Niederlande haben ein riesiges Rechtspopulismus-Problem... Aber sie kennen keinen rauen Rechtsextremismus; es gibt kaum Angriffe auf Flüchtlingsheime."

Außerdem zur Flüchtlingsdebatte: Bei Zeit online spricht Daniel Erk mit dem Historiker Klaus Jürgen Bade über Deutschand als Einwanderungsland. In der SZ wendet sich Andreas Zielcke gegen den Entzug der Staatsbürgerschaft bei straffällig gewordenen Doppelstaatlern.

Ein ziemlich ungemütliches Bild von der Lage in Russland zeichnet Benjamin Triebe in der NZZ. Erstmals seit der Finanzkrise ist die russische Wirtschaft - dank des fallenden Erdölpreises - geschrumpft. Damit droht zwar noch keine Insolvenz, aber der Aufschwung seit der Finanzkrise ist gefährdet: "Mangels weitreichender Liberalisierungen, Strukturreformen, der Bekämpfung von Bürokratie, Vetternwirtschaft, Selbstbereicherung und Korruption konnten sich nebst der traditionellen Rohstoffwirtschaft keine zusätzlichen verlässlichen Standbeine entwickeln. Schon seit dem Jahr 2012 schwächelt das Wachstum, weil der Ölpreis nicht mehr zulegte. Aus der Verschlechterung der Lebensverhältnisse erwächst eine Gefahr, die schwer einzuschätzen ist. Ausgerechnet wegen dieser Unberechenbarkeit entzieht sie sich den Kontrollversuchen des Kremls, der sonst von der organisierten politischen Opposition bis zur Medienlandschaft alles seinem Willen untergeordnet hat."

Putins Nimbus in der russischen Bevölkerung kann das alles vorerst nichts anhaben, meint Richard Herzinger in der Welt. Er wird weiter versuchen, allen Zorn auf den Westen zu lenken. Schon die Einmischung in den angeblichen Vergewaltigungsfall eines russlanddeutschen Mädchens zeigt, wie das funktioniert: "Der Kreml scheut sich nicht mehr, die in der Ukraine erprobte Unterminierungsstrategie auf Westeuropa auszuweiten. Dort nutzt er die extreme Rechte, aber auch linkspopulistische Strömungen als Stoßtrupps gegen die liberale Ordnung. Wie Seehofers Beispiel zeigt, finden sich aber auch in der etablierten politischen Mitte zunehmend Willige."
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Internet

Ist das Internet an allem schuld? Mathias Müller von Blumencron, Online-Chef der FAZ, sieht die Utopien der Netzgründer im Gebrodel der Verschwörungstheorien untergehen: "Wenn es den Trumps, Le Pens und Petrys dieser Welt gelingt, den etablierten Institutionen ihre Autorität streitig zu machen, dann auch deshalb, weil sie im Netz einen idealen Resonanzboden für ihre Empörungsrhetorik finden. Die globalen Plattformen der Erregung wie etwa Facebook sind ein sehr lukratives Geschäftsmodell." Wie hat Hitler es nur ohne geschafft!

Während das Internet die Demokratien also offensichtlich herabzieht, ist es in Diktaturen oft das einzige Gegenmittel, wie sich aus Francesca Ebels Porträt über den russischen Dissidenten Alexeij Nawalny in Politico.eu ersehen lässt. Nawalny hat eine Stftung gegründet, die Korruption untersucht: "Für ihn ist das Internet die einzige und wichtigste Waffe. Da er in den meisten Staatsmedien auf der schwarzen Liste steht, publiziert die Stiftung die Resultate ihrer Recherchen in Nawalnys Blog. Mit 1,35 Millionen Twitter-Followern bekommen die Berichte Aufmerksamkeit. Untersuchungen handelten von Putins Vermögen, den Luxusimmobilien russischer Oligarchen in London und den USA und sogar von den 10.000-Dollar-Uhren von Putins Sprecher Dimitri Pekow, dessen offizielles Regierungsgehalt vergleichsweise bescheiden ist."

Alarm: "Open Access macht alles kaputt - die Verlage, die Bücher, die Wissenschaft." Aber hat die FAZ je einen Artikel pro Open Access veröffentlicht? Heute warnt der Slawist Urs Heftrich davor, dass Open Access gar von Forschungseinrichtungen gefördert wird: "elektronische Bücher und Buchreihen, die frei zugänglich ins Netz gestellt werden. Natürlich kann man über die Zuständigkeiten und Aufgaben einer Forschungsgemeinschaft streiten. Unbestreitbar aber dürfte sein, dass das hier aufgelegte Förderprogramm nicht auf konkrete wissenschaftliche Inhalte zielt, sondern auf die Etablierung einer reinen Infrastruktur, die faktisch die klassischen Aufgaben eines Verlagshauses ersetzt, nur mit der Besonderheit, dass die Publikation direkt im Internet erfolgt."
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Geschichte

Die taz bringt eine Dada-Ausgabe. Im beschaulichen Zürich wurden Weichen fürs Jahrhundert gestellt. Schade nur, dass die Spaßfraktion einen berühmten Nachbarn nicht überzeugen konnte, schreibt Andreas Fanizadeh im Eröffnungsessay: "Während Lenin, der geübte Schachspieler und Altphilologe, in zufälliger räumlich-zeitlicher Nähe in Zürich eine 'wissenschaflich objektive' Begründung für die Diktatur des Proletariats unter Führung seiner bolschewistischen Partei herbeivisionierte, verstand sich Dada als radikale Absage an jegliche positiv formulierte Menschheitsutopie." Dazu passend kann man sich beim WDR ein Hörspiel über das Cabaret Voltaire, Dada und die Folgen anhören.
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