9punkt - Die Debattenrundschau

Ich gebe zu, ich komme aus Wyoming

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2016. Bei Standpoint ist Nick Cohen empört über britische Verleger, die sich nicht trauen, ein "Lob der Blasphemie" herauszubringen. In der FR plädieren zwei Europapolitiker in der Flüchtlingskrise für eine große europäische Lösung. Bei Politico.eu macht sich Tim Parks Gedanken über das Wesen von Populismus. In Boingboing erzählt John Perry Barlow, wie und warum er vor zwanzig Jahren in Davos seine "Declaration of the Independence of Cyberspace" schrieb. Italienische Medien machen die katholische Kirche für die Folgen der Zika-Epidemie mit verantwortlich: Fast überall in Südamerika ist Abtreibung verboten. Alle deutschen Medien trauern um Roger Willemsen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.02.2016 finden Sie hier

Europa

Regelrecht empört ist Nick Cohen im Standpoint, dass sich kein britischer Verleger traute, Caroline Fourests "Lob der Blasphemie" - in Frankreich ein Bestseller - zu veröffentlichen: "Fourest hatte den Verlegern die englische Übersetzung kostenlos angeboten - dann kam die IS-Attacke auf Paris im November. Die Aktualität des Buchs stand also außer Zweifel. Normalerweise wollen Verleger Aktualität, aber ihre Weigerung, Fourest zu drucken, zeigt, dass es auch zu aktuell sein kann, zumal wenn diese Aktualität in Verlegern die paranoide Furcht auslöst, Männer in Balaclavas könnten in ihren Büros aufkreuzen. All diese Bekundungen, dass man Charlie sei, haben sich in ebensoviele Lügen verwandelt, die sie wohl immer schon waren. Der Mord an den Journalisten von Charlie Hebdo verstärkte die stille Entschlossenheit der Verleger im Wesen, niemals Charlie sein zu wollen." Hat sich eigentlich ein Verleger in Deutschland gefunden?

Guy Verhofstadt, Europaparlamentarier und ehemaliger belgischer Premier, und der deutsche EU-Parlamentarier Michael Theurer plädieren in der FR in der Flüchtlingsfrage für eine große europäische Lösung. Alles andere sei Illusion: "Wir erleben das Versagen der EU-Staaten, die die nationale Souveränität wie eine Monstranz vor sich hertragen, wo eine beherzte europäische Lösung erforderlich wäre. Oder glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass ein kleines Land wie Slowenien ohne EU mit dem Flüchtlingszustrom besser zurecht käme, wenn schon ein großes Land wie Deutschland an die Grenzen der Leistungsfähigkeit kommt? " Die wesentlichen Vorschläge der beiden: Die EU-Kommission soll vorübergehend mehr Vollmachten bekommen, die Krise zu managen, Frontex soll zu einem Europäischen Küsten- und Grenzschutz ausgebaut werden, die drei Milliarden für die Türkei sollen besser direkt an Flüchtlingscamps nahe Syrien gehen und schließlich sollen sich die EU-Mitglieder auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge einigen: "Anschließend würden Asylanträge an die EU gerichtet, nicht mehr an einzelne Länder."
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Politik

Interessante Gedanken macht sich Tim Parks bei politico.eu über Dynamiken des Populismus: "Wenn ein scheinbar unmöglicher Kandidat riesige Zustimmung erzielt - wie Jeremy Corbyn in UK, Beppe Grillo in Italien, Donald Trump in den USA - dann dürfte es an Charakterzügen liegen, die normalerweise in politischen Debatten unterdrückt werden, an etwas, das die Leute hochschätzen, das aber normalerweise verborgen wird. Nicht alle Länder sind gleich. Trump würde in England nicht ankommen, Corbyn käme in den USA nichtmal auf den Radar, Grillo würde überall außerhalb Italiens ausgelacht. Es kommt auf die Werte einer Gesellschaft an, genauer darauf, welche Werte normalererweise als unangemessen für die Ausübung der Macht angesehen werden."
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Internet

Bei Boingboing erzählt John Perry Barlow, wie er vor zwanzig Jahren am Rande des Davoser Wirtschaftsforums, wohin er als Abgesandter dieses seltsamen Internets eingeladen war, seine berühmte "Declaration of the Independence of Cyberspace" schrieb, in der er die hierarchielose Demokratie des Netzes feierte: "Ich gebe zu, ich komme aus Wyoming, wo ungeschriebene Gesetze ganz gut zu funktionieren scheinen, darum war ich empfänglich für die Idee, dass solche 'organischen' Methoden der Selbstregulierung in der Abwesenheit glaubhafter Gesetze entstehen könnten. Bis zu einem gewissen Grad sind sie auch entstanden. Meistens aber nicht. Als das ganze Menschengeschlecht online ging, auch die Bösen unter uns, war es naiv von mir zu glauben, dass der russische Mob (oder die russische Regierung) sehr viel auf Konsenssysteme im Namen der Allgemeinheit geben würde."

Sehr amüsiert hat sich Ben Kaden in dem Blog Libreas über die vom Slawisten Urs Heftrich getroffene Diagnose, dass Open Access alles kaputt mache "die Verlage, die Bücher, die Wissenschaft" (unser Resümee): "Urs Heftrich, der seine Bücher unter anderem beim Hanser Verlag und in der Deutschen Verlagsanstalt publiziert..., ist damit keineswegs repräsentativ für die Wissenschaftswelt und, auch das muss man anmerken, nun überhaupt keine Zielgruppe für Open-Access-Verlage. Das sind eher die Leute, die zwei Jahre warten müssen, bis ihr bis aufs letzte Komma eigenformatiertes Manuskript als Titel einer einstmals vielleicht als qualitätsvoll verankerten Reihe in einem osteuropäischen Laserdruckzentrum klebegebunden wird und ungeachtet des ein paar Tausend Euro starken Druckkostenzuschusses für 99,95 Euro deutschen Bibliotheken aufgedrängelt wird."

Weiteres: Adrian Lobe fragt in der FAZ, ob es wirklich so viel besser wäre, wenn es "nach dem Willen Googles" ginge und Passwörter durch biometrische Daten ersetzt würden. In der SZ-Serie zu Künstlicher Intelligenz fragt Andrej Zwitter, Professor für Internationale Beziehungen und Ethik an der Universität Groningen, was geschieht, wenn Maschinen Entscheidungen übernehmen.
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Religion

In krassen Worten greift der alte linke Säkularist Paolo Flores d'Arcais in Micromega die Priester der katholischen Kirche als die "neuen Sadisten des Glaubens" an: "Die UNO hat alle Regierungen der Länder, in denen die Zika-Epidemie wütet, gebeten, Abtreibungen aus medizinischen Gründungen zu gestatten. Das ist wirklich das mindeste. Einmal erfüllen die oft so überflüssigen Vereinten Nationen die Pflicht, für die man sie einst erschuf. Aber die brasilianische Bischofskonferenz hat schon nein gesagt, das Leben ist heilig, wie weit die Missbildungen und Leiden auch immer gehen mögen..."

Ob die Mikrozephalie tatsächlich vom Zika-Virus ausgelöst wird, ist zwar noch unklar, aber eine Häufung der Fälle wird in Brasilien und anderen Ländern Südamerikas beobachtet (wenn auch noch nicht alle Fälle verifziert sind), berichtet Ilpost.it. Abtreibungen würden in der Tat in den meisten Ländern Südamerikas schwierig: In Kolumbien etwa "sind Abtreibungsklinken kaum zugänglich..., und die illegalen Abtreibungen sind nach wie vor weit verbreitet (etwa 450.000 im Jahr, die illegale Abtreibung ist eine Hauptursachen der Mortalität schwangerer Frauen, sagt Human Rights Watch). In vielen anderen Ländern Südamerikas, in denen sich das Zika-Virus schnell verbreitet, ist Abtreibung illegal oder sehr stark limitiert." Der Guardian liefert Hintergrundinformationen und eine Karte zum Thema Abtreibung in Südamerika.
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Medien

Roger Willemsen ist im Alter von nur sechzig Jahren gestorben. Jan Feddersen würdigt ihn in der taz nicht ganz ohne Distanz: "Willemsen war ein Idol der bildungsbürgerlichen Kreise, er schaffte es, diesen das Gefühl zu geben, Fernsehen könne ein Medium des gehobenen Anspruchs und des guten Geschmacks sein."

Vielleicht auch, weil er durchaus am Anspruch festhielt, meint Arno Widmann in der FR: "Dass jemand unter sein Niveau ging, um einen Geschmack zu bedienen, der nicht der seine war - dergleichen gab es nicht bei Roger Willemsen. Er machte keine Sendung, die er Scheiße fand, nur weil ihm die Einschaltquoten sagten: Die Menschen fressen Scheiße. Als er den Eindruck gewann, die Dinge könnten sich in diese Richtung entwickeln, sagte er Ciao."

Weitere Nachrufe von Tilman Spreckelsen (FAZ), Nils Minkmar (Spiegel Online), Lothar Müller (Sueddeutsche.de), Willi Winkler (SZ), Sascha Lobo (Facebook), Wolfgang Tischer (Literaturcafé).

Jahrlang hat der Umblätterer die angeblich besten Feuilleton-Artikel des Jahres ausgezeichnet, 2015 zum letzten Mal. Jetzt bringt Frank Fischer eine kleine Statistik über diese Auszeichnungen.
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Wissenschaft

Der Physiker Marco Wehr schimpft in der FAZ über Daten- und Netzeuphoriker, die in Magazinen wie Wired wissenschaftliche Methoden herunterreden: "Nicht nur die Theorie wird gemeuchelt, auch dem ehrwürdigen Experiment, der tragenden Säule wissenschaftlicher Erkenntnis, geht es an den Kragen."
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