9punkt - Die Debattenrundschau

Kein Witz, kein Clown

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2016. In der FR beklagt Udo di Fabio einen "Verlust an bürgerlicher Debattenkultur". In der SZ macht sich Ulrich Herbert Sorgen um die EU. Vox.com fürchtet einen Triumph Donald Trumps, während Gawker sehr alte Emails von Hillary Clinton zum Skandal macht. Nachdem er an Griechenland scheiterte, will Yanis Varoufakis nun ganz Europa reformieren - Spiegel online und taz sind skeptisch. Die Berliner Zeitung fürchtet: Die Friedrichwerdersche Kirche wird den Plattenbauten für die Berliner Neo-Bourgeoisie geopfert. Libération schließt sich dem internationalen Protest gegen den Mord an Giulio Regeni an. Und Ta-Nehisi Coates kämpft in Atlantic gegen einen Nebenwiderspruch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.02.2016 finden Sie hier

Europa

Yanis Varoufakis hat gestern in der Berliner Volksbühne vor einem Publikum aus Fans seine Europa-Ideen vorgestellt, berichtet Maximilian Gerl bei Spiegel online: "Mittelfristig will er Pläne vorlegen, wie sich Banken, Zinsen, Armut und Migration europaweit besser regeln lassen. Sind diese umgesetzt, soll eine konstituierende Versammlung bis 2025 das Konzept für ein neues, 'wirklich souveränes' EU-Parlament ausarbeiten. Dieses soll dann gemeinsam mit nationalen Parlamenten und örtlichen Gemeinden über die EU-Politik bestimmen. Der Einfluss von nationalen Regierungen wäre damit deutlich eingeschränkt." Prominente wurden per Video zugeschaltet, auch Julian Assange: "Er murmelt: 'Das Ende von Europa kommt.'"

Die taz veranstaltet ein Pro und Contra zu Varoufakis. Jan Feddersen schreibt: "Hatte Syriza, hatte Varoufakis ein Programm, sein Land zu reformieren? Nein, der einzige Klingelton, der von diesem Mann in die europäische Agora hineinplärrte, war einer, der klang wie: 'Subventioniert uns weiter wie bisher, sonst sind wir sauer!'" Martin Kaul dagegen: "Er proklamiert laut und fordernd eine Idee von Europa, die den Sozialdemokraten abhandenkam. Sein Mittel ist der große Auftritt - ja und?"

In Frankreich gibt es viel zu wenige Taxis dank beschränkter Lizenzierungen. Diejenigen, die eine Lizenz haben, protestieren gegen jede neue Konkurrenz und mehr noch gegen Uber, schreibt Nicholas Vinocur in Politico.eu: "In Frankreich sind die Beziehungen zwischen den Taxifahrern und dem Innenministerium tief - seit mindestens hundert Jahren. Oberflächlich liegt es daran, dass das Ministerium die Taxi-Lizenzen ausgibt, ihre Gesamtzahl streng begrenzt und so den Sektor reguliert. Aber manche Akteure in der Branche sagen, dass die Polizei die Taxifahrer auch als ein Netzwerk von Informanten sehen, das gepflegt werden muss - und als potenzielle Arbeitgeber nach der Rente für alternde Polizisten."

Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio spricht im Interview mit der FR über Migration, die Europäische Union und die durch die Flüchtlingspolitik zu Tage getretene Polarisierung der Gesellschaft, die der Demokratie schade: "Fatal ist es, wenn Kritik an der Regierungspolitik als 'geistige Brandstiftung' denunziert wird. Wer die Grenzen für Schutzsuchende in einem kritischen Augenblick öffnet, darf weder beschimpft, noch gar für sexuelle Übergriffe der Kölner Silvesternacht verantwortlich gemacht werden. Wer kritische Fragen nach den Rechtsgrundlagen der aktuellen Migrationspolitik stellt und die Rückkehr zu kontrollierter Einreisepraxis verlangt, fördert weder den Rechtspopulismus noch gar kriminelle Anschläge auf untergebrachte Menschen. Solche wechselseitigen Zurechnungen signalisieren einen Verlust an bürgerlicher Debattenkultur."

Die SZ bringt, wohl aus Anlass der Münchner Sicherheitskonferenz, eine Beilage über "Krisen und Sicherheit". Joachim Käppner unterhält sich mit dem Historiker Ulrich Herbert, der sich Sorgen um Europa macht: "Viele halten Deutschland für so stark, dass sie es für alles verantwortlich machen - andererseits ist Deutschland weltweit wahnsinnig beliebt. Es gibt hier ein viel drängenderes Problem: den Vertrauensverlust in die EU, der in vielen Ländern zu spüren ist. Dieses Europa ist das der Generation von Helmut Kohl und François Mitterrand und ihrer Vorgänger. Es war eher ein Projekt, das von oben kam, von Staatsmännern, welche die Konsequenz aus den Schrecken des Zweiten Weltkrieges zogen. Sie gingen davon aus, der wirtschaftlichen Einigung werde auch eine politische folgen. Doch die Bindekraft dieses Konzepts lässt nach."
Archiv: Europa

Politik

Donald Trump hat bei den Vorwahlen in New Hampshire triumphiert. Ezra Klein fasst sich bei Vox.com an den Kopf: "Trump ist ein ernsthafter Kandidat für die Nominierung zu den Präsidentschaftswahlen. Sein Triumph bei den eigentlichen Wahlen ist unwahrscheinlich, aber keineswegs unmöglich. Er ist kein Witz, kein Clown. Er ist der Mann, der bald über Krieg und Frieden entscheiden könnte, der..., der zuständig wäre, Richter am Supreme Court zu ernennen und Amerika in der Gemeinschaft der Nationen repräsentieren würde. Dies ist kein politsches Entertainment. Es ist Politik." Über Hillary Clinton kursiert unterdessen eine von Gawker aufgebrachte Geschichte, die zeigt, wie sie sich - im Jahr 2009! - mit Journalisten absprach: Du kriegst mein Redemanuskript vorab, wenn Du meinen "muskulösen" Diskurs lobst. Im Guardian erklärt Kate Garding in einem unaufgeregten Artikel, warum es bei aller Liebe für Bernie Sanders klüger ist, Hillary Clinton zu wählen.

Der Libération-Blogger und Arabien-Experte Jean-Pierre Filiu kommt auf den grausamen Tod des italienischen Forschers und Journalisten Giulio Regeni in Kairo zurück - seine Leiche wurde vor einigen Tagen in Kairo aufgefunden und zeigt eindeutige Foltermale. Man vermutet, dass der Sicherheitsdienst von Abdel Fattah al-Sisi hinter Regenis Ermordung steckt: "Zwei Professorinnen aus Cambride haben eine internationale Petition von Universitätsleuten lanciert um zu fordern, dass die ganze Wahrheit über Giulio Regenis Tod ans Licht gebracht wird. Diese Petition wurde als offener Brief an den Präsidenten Sisi im Guardian und in Il Manifesto veröffentlicht. Die Affäre erregt in Italien großes Aufsehen und kann nicht als Angelegenheit eines einzelnen Landes gesehen werden. Wie ein britischer Freund schreibt: Es geht auch um einen Angriff auf die Freiheit der Forschung."

Abgeordnete dürfen seit kurzem in einem eigens eingerichteten Lesesaal einen Einblick in den Verhandlungstext zum Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) nehmen. Doch dürfen sie den Text weder abschreiben, noch fotografieren, noch sich Notizen machen oder anschließend darüber sprechen. Malte Kreutzfeldt zitiert in der taz Grünenfraktionschef Anton Hofreiter, der nach seinem Besuch im Lesesaal klagt: "Ich kann weder mit den Bürgern darüber reden, noch können wir in den Ausschüssen darüber reden, noch kann ich einen Juraprofessor befragen: Den Satz habe ich so verstanden, aber bedeutet das auch wirklich das?"

Das ist keine Transparenz, das ist nur die Illusion von Transparenz, höhnt - ebenfalls in der taz - Svenja Bergt. "Die Abgeordneten haben zwar nicht annähernd genug Befugnisse, um die aus den Lesesitzungen gewonnenen Informationen irgendwie in die öffentliche Debatte einfließen zu lassen. Aber gerade so viel, dass hinterher niemand sagen kann, es sei doch alles geheim gewesen."

Außerdem: Das Atomabkommen könnte für die Reformer im Iran nach hinten losgehen, fürchtet Bahman Nirumand in der taz. Zwar seien alle froh darüber, "doch damit sind gleichzeitig auch die Erwartungen, dass er für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgt und das Land öffnet, ins Unermessliche gewachsen".
Archiv: Politik

Geschichte


Das Internierungslager Camp de Rivesalte mit dem neuen Ausstellungsgebäude von Rudy Ricciotti. In dem Lager waren zwischen 1939 und 1946 etwa 600.000 Menschen eingesperrt.

Marc Zitzmann besucht für die NZZ das von Rudy Ricciotti gebaute Mémorial du camp de Rivesaltes bei Perpignan, das an das größte französische Internierungslager im Zweiten Weltkrieg erinnert: "Die Geschichte des Lagersystems ist von harten Einschnitten und von fließenden Übergängen gekennzeichnet. Der Wechsel von der Notstandslogik der Dritten Republik (1939-40) zur Ausgrenzungspolitik des Vichy-Regimes (1940-42), dann zum Vernichtungswahn der deutschen Besatzer (1942-44), endlich zur 'Säuberungspraxis' der Résistance und der allmählich wiederhergestellten Republik (1944-46) war für jene Lagerinsassen, die über mehrere dieser Phasen hinweg in Haft verblieben, mitunter kaum erkennbar."

Weiteres: Stefana Sabin besucht für die FR "Die Kampfzone" eine Ausstellung im Jüdischen Museum Wien über Antisemitismus und die Universität Wien. Und in der taz bespricht Ulrich Gutmair den Band "Die Wieder­gutwerdung der Deutschen" mit Texten des 1997 verstorbenen Historikers Eike Geisel.
Archiv: Geschichte

Wissenschaft

Gentechnik könnte helfen, die Mücken, die Zika übertragen, auszurotten, meint Thilo Spahl bei den Kolumnisten: "Skrupel, Aedes aegypti in Lateinamerika auszurotten, sind schon gar nicht angebracht, denn die Mücke ist dort noch nicht einmal heimisch, sondern wurde von Menschen eingeschleppt. Sie jetzt wieder loszuwerden würde keine Lücke in irgendwelche Ökosysteme reißen. Tatsächlich war der größte Teil Südamerikas in den 1970er Jahren dank konsequenter Bekämpfung mit DDT schon einmal frei von Aedes aegypti. Es gibt genug andere Mücken. Auf eine, die gleich drei schwere Krankheiten auf Menschen überträgt, kann man gerne verzichten."
Archiv: Wissenschaft

Kulturpolitik

Damit schöne neue Wohnungen für das "neue Berliner Bürgertum", so der Senat, entstehen konnten, wurde trotz aller Warnungen von Denkmalschützern dicht an der Friedrichswerdersche Kirche gegraben. Jetzt zeigt sich, dass die Warnungen berechtigt waren: Die Kirche hat neue Risse. In der Berliner Zeitung reagiert Nikolaus Bernau bitter: "Bevor jetzt wutbürgerliche Lesermailschreiber ihre Tastatur aufschlagen: Unsere Beamten und auch die meisten Politiker sind meistens ziemlich kompetent. Sie wissen, was sie tun, sie tun es mit Blick auf die Wähler, also auf uns! Bevor also in dieser Stadt Denkmalpfleger und Fachbeamte nicht mehr populistisch als unfähige Bremser bezeichnet werden, muss wohl ein echtes Desaster passieren. In Köln brauchte es schließlich auch die Katastrophe des Stadtarchiv-Einsturzes, bis sich die breitere Bevölkerung bewusst wurde: Das gehört nicht irgendwem, sondern uns."
 
Und in der Welt fragt Dankwart Guratzsch: "Wie weit reicht die Gewährleistungspflicht eines Bauherrn? Die Frage könnte Berlin schon bald in eine peinliche Lage bringen."

Weiteres: In der NZZ stellt Andrea Gnam eine Studie zum sowjetischen Plattenbau vor. Die Franzosen streiten um den Circonflexe, den die Académie abschaffen will, berichtet Matthias Heine in der Welt. Linguisten in beiden Teilen Koreas arbeiten derweil an einem gemeinsamen Wörterbuch, erzählt Fabian Kretschmer in der taz.
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

Sind Programmiersprachen die neuen Universalsprachen? Ja schon, meint Peter Glaser in einem inspirierenden Artikel in der NZZ und verweist auf interessante Parallelen: "Sprache zu verstehen, ist für nichtmenschliche Systeme eine harte Nuss. Dabei scheint ein Vergleich zwischen literarischen Sprachen und Programmiersprachen zu zeigen, wie nahe große Softwareprojekte und alte Epen einander stehen. Was vormals Refrains waren, heißt nun Schleife oder Loop. Die sogenannten reservierten Wörter der Programmiersprachen decken sich mit Besonderheiten aus der Lyrik, wo ein Begriff wie 'Rose' nicht einfach nur für eine rote Blume steht. Und Epen wie auch komplizierte Programme sind komplexe Überlieferungssysteme über Generationen hinweg..."

Eine sehr lebendige und zugleich seltsam altmodische Debatte führen Ta-Nehisi Coates und Cedric Johnson, der sich im Jacobinmag in einem offenen Brief gegen Coates' Forderung nach Reparationen für die Schwarzen in den USA wandte, dabei aber ausgerechnet mit dem Beton- und Uraltargument des "Nebenwiderspruchs" hantiert: Rassismus sei wie Sexismus und andere Formen der Diskriminierung ein bloßes Epiphänomen der Ausbeutung von Armen durch die "Investorenklasse". Sozialer Ausschluss diene allein dazu, "Ausbeutung in einer Weise voranzubringen, die für die Investorenklasse so vorteilhaft wie möglich ist". Darauf antwortet Coates in Atlantic: "Nein. Sozialer Ausschluss erzeugt mindestens ebenso oft Solidarität, wie er sie bekämpft. Sexismus ist nicht einfach oder in erster Linie ein Mittel, der Investorenklasse Profit zu bringen. Er ist auch ein Mittel, um Solidarität zwischen 'Männern' herzustellen, so wie Fremdenfeindlichkeit Solidarität zwischen 'Einwohnern' herstellt und Homophobie für Solidarität zwischen 'Heterosexuellen' sorgt. Was einer ist, ist oft genauso wichtig wie, was einer nicht ist und der Akt des Ausschlusses ist bei der Definition dieser Communities - Männer, Heteros, Weiße - oft so wichtig, dass man sich fragt, ob diese Kategorien in Abwesenheit des negativen Kriteriums nicht verschwinden würden." Nun wäre noch die Frage, ob das bei "Schwarzen", "Schwulen", "Frauen" nicht ebenso gelten würde.
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Internet

In der SZ erzählt Johan Schloemann, wie Mark Zuckerberg versuchte, den Indern Facebook als "das Internet" zu verkaufen und dabei scheiterte. In der FAZ prüft Melanie die Werbesprüche der Wohnplattform Airbnb auf ihren Wahrheitsgehalt.
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Stichwörter: Airbnb, Zuckerberg, Mark

Medien

Pavel Lokshin porträtiert in der NZZ den Blogger Alexei Kowalew, der Manipulationen russischer Medien aufdeckt. Was er dabei gelernt hat? "Propaganda wird nicht von irgendwelchen Bürokraten gemacht, sondern von Journalisten. Wer von 'Kreml-Propaganda' spricht, entzieht diesen die Verantwortung für ihr Tun. Beim staatlichen Ersten Kanal schuften schließlich keine Zombies, sondern intelligente, gebildete Menschen mit Eigeninitiative - und ohne Prinzipien."

Außerdem: Viola Schenz stellt in der NZZ das neue, in Leipzig und Berlin gegründete Online-Magazin JournAfrica vor. "Für JournAfrica schreiben und liefern ausschließlich afrikanische Journalisten, Blogger, Fotografen, Karikaturisten. Es versteht sich als das 'erste deutschsprachige Nachrichtenportal für Journalismus aus Afrika'. Mit Geschichten aus erster Hand." Das Geld - etwa 30.000 Euro - kommt vorerst vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Spenden und kleineren Stiftungen. Da geht doch noch was!
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