9punkt - Die Debattenrundschau

In großer Verwirrung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2016. Die Anschläge von Brüssel beherrschen die Medien. Christophe Berti, Chefredakteur von Le Soir, fürchtet eine Verhärtung der belgischen Gesellschaft. Für Politico.eu zielen die Anschläge auch auf  das Herz der Europäischen Union - Spiegel online sieht es anders. Zwischen Frankreich und Belgien herrscht nicht gerade Solidarität, konstatiert die FAZ. Außerdem: Islamismus hat sehr wohl mit Islam zu tun, und man muss es sagen, schreibt Jochen Hoerisch im Mannheimer Morgen. Und die Dublin Review of Books freut sich, dass die Iren nicht auf G.K. Chestertons Antisemitismus reingefallen sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.03.2016 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Brüssel

Der Tag nach den Attentaten von Brüssel. Christophe Berti, Chefredakteur von Le Soir in Brüssel, spricht im Leitartikel von einem Gefühl, das ihn bedrängt. Es ist "schrecklich, diffus und intensiv zugleich. Das Gefühl, dass dieser Dienstag in Brüssel nicht das Ende, sondern der Beginn von etwas ist. Der Beginn eines anderen Lebens, einer Gesellschaft, die belastet ist, verschlossener, härter, weniger sorglos und vielleicht - eine große Angst - hasserfüllter Gegen dieses Gefühl müssen wir kämpfen."

"Eine Attacke auf die europäische Legitimität", betitelt Pierre Briançon seinen Kommentar, ebenfalls in politico.eu: "Das letzte, was Europa noch gebrauchen konnte, war der Eindruck, dass es seine Bürger nicht vor Terrorismus und 'Krieg' schützen auf seinem eigenen Boden kann - um das Wort zu gebrauchen, das der französische Premier Manuel Valls gestern wieder benutzte. Nach acht Jahren Wirtschaftskrise, einem massiven Flüchtlingsstrom, dem Verlust von Vertrauen in die Institutionen und Skepsis über ihren Zweck sieht die Union nach den Brüsseler Anschlägen aus wie ein Teil des Terrorismus-Problems."

Ganz anders sieht es Peter Müller bei Spiegel online: "Die Attentäter haben in Brüssel zugeschlagen. Nicht weil die EU hier ihren Sitz hat. Sondern weil es nirgends in Europa so leicht ist, ein Attentat zu planen und durchzuführen."

Beschwichtigende Worte findet Susan Mücke von den Krautreportern. Man solle einsehen, "dass Terroranschläge auch ein Zeichen der Hilflosigkeit sind, dass jeder Syrer und Iraker, der sich nicht Isis anschließt, der lebende Beweis ist, dass das sogenannte Kalifat von Isis nicht lebenswert ist. Es gilt zu verstehen, dass Gewalt tatsächlich keine Strategie ist, um Konflikte zu lösen."

Und ganz finster klingt Jürg Altwegg, der in der FAZ über Streit zwischen Belgien und Frankreich schreibt: "Frankreich ist Paris und Belgien die Provinz. Von einer Schicksalsgemeinschaft ist nach den Anschlägen in Brüssel erbärmlich wenig zu spüren. Die innenpolitische Instrumentalisierung des Terrors und die Schuldzuweisungen gehen munter weiter."

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Ein Gutes hatten die jüngsten Landtagswahlen, meint der in Sachsen-Anhalt lebende Schrifsteller Christoph Hein im Interview mit der Berliner Zeitung: Jetzt weiß man wenigstens, wo die Leute stehen. Die Grenzen für Flüchtlinge öffnen will er auch nicht und zeigt lieber mit dem Finger auf andere: "Das geht nicht. Dann wären die reichen Länder besonders gefährdet. Sie würden als erstes untergehen. Nein, aber wir werden Menschen bleiben müssen. Wir werden human arbeiten müssen. Es gibt Schuldige für diese Flüchtlingskrise. Diese Menschen lebten früher in Diktaturen, deren Führer uns nicht angenehm waren. Dann beschlossen die USA, dass wir die alle wegknallen und seitdem ist Chaos in den Ländern mit Hunderttausenden Toten und Millionen Flüchtlingen."
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Religion

All jene, die behaupten, der Terror habe "nichts mit dem Islam zu tun", gehören für Jochen Hoerisch, der im Mannheimer Morgen schreibt, zu den "problematischsten und entschiedensten Eurozentrikern. Sie verkennen, dass auch ein Multimillionär wie Osama bin Laden muslimisch-wahabitisch inspirierter Massenmörder sein kann - und dass er Wert darauf legt, als streng religiöser Muslim wahrgenommen zu werden. So stellt sich die Frage, wie man in öffentlichen Diskussionen mit der ersichtlichen Pathologieanfälligkeit des gegenwärtigen Islams umgehen soll, auf den sich massenmörderische Islamisten ausdrücklich berufen."

Zehntausende Kinder in den USA, Irland, Mexiko und vielen anderen Ländern sind in den letzten fünfzig Jahren von Priestern vergewaltigt worden, schreibt Caroline Fourest in ihrem Blog. Nun tut sich etwas in der Kirche. Aber tut sich auch das Richtige? "In großer Verwirrung hat die Kirche versucht, Empfehlungen auszuarbeiten, um pädophilen Vergewaltigungen vorzubeugen. Seit Benedikt XVI. haben die Empfehlungen zur Folge, das Täter nicht mehr gedeckt werden, was ein großer Fortschritt ist. Für die Früherkennung von Fällen fordern sie, dass über jede homosexuelle Tendenz bei jungen Seminaristen berichtet wird... Als hätten Homo- oder Heterosexualität irgendetwas damit zu tun, ob jemand kleine Jungen oder Mädchen vergewaltigt. Diese Verwirrung ist nicht nur ein Zeichen schrecklicher Vorurteile. Sie verrät eine große Ratlosigkeit und stellt die Fähigkeit der Kirche in Frage, das große Übel, das sie zerfrisst, zu bewältigen."

Denkmalpfleger und Kunsthistoriker aus ganz Deutschland haben die Katholische Kirche in Berlin in einem Offenen Brief vor dem geplanten, 40 Millionen Euro teuren Umbau der Hedwigskathedrale gewarnt, berichtet in der Berliner Zeitung Nikolaus Bernau: "Es handele sich um 'Teilabriss, Denkmalzerstörung und Teilneubau' eines der bedeutendsten Kunstwerke der Nachkriegszeit. Dies gehöre zwar juristisch der Kirche, darüber hinaus aber auch einer weltweiten 'Erbengemeinschaft'. [...] Die Liste der Unterzeichner umfasst so ziemlich alle deutschen Denkmalpfleger, Historiker und Kunsthistoriker, die sich mit der Kunst der Nachkriegszeit auseinander gesetzt haben, aber auch Architekten wie Volkwin Marg."
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Geschichte

Leicht lokalpatriotisch liest sich ein namenloser Blogeintrag in der Dublin Review of Books, der behauptet, es habe in Irland nie Antisemitismus gegeben - und das trotz des großen Einflusses katholischer englischer Autoren wie GK Chesterton oder Hilaire Belloc, die sehr wohl Antisemiten waren. Aber wie auch immer: Karacho hat eine im Blog zitierte zeitgenössische Antwort Aodh de Blacams (alias Hugh Blackhams) auf Chestertons Behauptung, Juden hätten die Engländer bei der Bekämpfung der irischen Unabhängigkeitsbewegung angetrieben: "De Blacam betont, dass es Gewalt gegen Zivilisten schon im Jahr 1798 und zur Zeit Williams und Elizabeth' I. gegeben habe: 'War Oliver Cromwell ein Jude?', fragt er. 'Bezahlten ihn Juden, um Frauen in Kirchen aufzuschlitzen, waren es Juden die Iren als Sklaven verkauften? War der Edelmann und Dichter Edmund Spenser, der dazu aufrief, 'alle, die das Vieh die Hügel hochtreiben', zu peinigen, Jude? Aber angesichts all des Elends und der zum Himmel schreienden Verzweiflung fällt den Chesterbellocites (die ich so bewundere) kein anderes Mittel ein, als ein unglückliches Volk im Exil, das kaum einen Einfluss auf die englische Politik hat, an den Pranger zu stellen."

Felix Ackermann schreibt in der FAZ über die Schwierigkeit der Litauer, die eigene Beteiligung am Holocaust zu thematisieren - auch wenn es wichtige institutionelle Initativen und mutige Historikerinnen wie Ruta Vanagaite gibt: "Noch gedenkt man an der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften am Fuße des Burgbergs von Wilna des Waldbruders Jonas Noreika ausschließlich als eines Opfers des Stalinismus. Noreika wurde 1947 im Gebäude des heutigen Genozid-Museums, des damaligen Sitzes des sowjetischen Geheimdienstes, wegen seiner Beteiligung am bewaffneten Widerstand gegen die sowjetische Besatzung Litauens hingerichtet. Dass er zuvor im August 1941 auch die Erschießung von Juden im nordlitauischen Zagare mit organisierte, ist bekannt, aber für die Akademie der Wissenschaften kein Grund, die Ehrentafel zu entfernen."
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Ideen

In der FAZ denkt Mark Siemons mit Carl Schmitt und Hannah Arendt darüber nach, wie sich der Widerspruch von universalen Menschenrechten und nationaler Souveränität auflösen ließe und schließt: "Die katastrophischen Ereignisse, die die Flucht von Millionen erzwingen, machen aus einem vermeintlich akademischen Zwiespalt eine höchst praktische, überlebenswichtige Frage: Wie kann ein Europa aussehen, das weder seine alten noch seine neuen Bewohner zu Aliens macht? Bisher hat man nicht den Eindruck, als wollte sich Europa auf eine solche Frage einlassen."
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