9punkt - Die Debattenrundschau

Ich will nicht heilig sein

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2016. Die PiS-Partei ist durch die Unterstützung der katholischen Kirche an die Regierung gekommen, nun fordert sie mit dem totalen Abtreibungsverbot den Preis, schreibt Patrick Monod-Gayraud in Le Monde. In der taz warnt der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Jerzy Stepien vor einem "tiefgreifenden Schaden" an der polnischen Demokratie. Das niederländische "Nein" ist eine Schande, ruft die Welt. Die taz erzählt, wie Christian Ströbele seine Rolle als RAF-Anwalt heute sieht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2016 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Polen

Gabriele Lesser unterhält sich in der taz mit dem ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Jerzy Stepien, der nach der Entmachtung des Gerichts durch Jaroslaw Kaczynski kein Blatt vor den Mund nimmt: "Wir haben es mit einer ungewöhnlich gefährlichen Situation zu tun. Sicher wird auch diese Regierung einmal abtreten, aber vorher kann sie tiefgreifenden Schaden im polnischen Staat anrichten. Es ist nicht vorherzusehen, in welchem Zustand Polens Demokratie in einigen Jahren sein wird. Eine Phase des permanenten Chaos wie jetzt führt zum Wunsch der Gesellschaft nach einem starken Mann - einem 'Führer', der wieder für Ordnung und Sicherheit sorgt. Wir kennen das aus der Geschichte."

Die Agenturen melden unterdessen (hier im Standard), dass die Opposition das neue Mediengesetz, das die Gleeichschaltung der Staatssender vorsieht, vors Verfassungsgericht bringt, um seine Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen.

Angesichts des in Polen anstehenden totalen Abtreibungsverbots bringt Patrick Monod-Gayraud in Le Monde einen Aspekt der polnischen Krise in Erinnerung, der in Deutschland nicht so häufig erwähnt wird: "Die Partei Recht und Gerechtigkeit des Jaroslaw Kaczynski hat die absolute Mehrheit im Parlament durch die Unterstützung der Kirche erlangt. Diese verlangt nun ihren Preis... In privaten Fernsehsendern, den einzigen, die der Zensur entgehen, interviewen Journalistinnen Kirchenmänner und sagen ihnen, dass sie keine Lust haben, an ihrer Schwangerschaft zu sterben. Dem Pfarrer, der ihnen zur Erwiderung das Beispiel einer Polin entgegenhalten, die just selig gesprochen wurde, weil sie dieses Schicksal akzeptierte, sagen sie: ich will nicht heilig sein."

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Die Welt hat Stimmen aus London, Kiew, Paris und Moskau zum niederländischen Nee gesammelt. Und für Richard Herzinger (Welt) ist das Nein zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine "eine Schande für das freie Europa und ein folgenschwerer Verrat an den europäischen Freiheitswerten. In ihrem Drang, der vermeintlich diktatorischen EU die Instrumente zu zeigen, haben die Neinwähler einem Land ihre Verachtung gezeigt, das größte Opfer dafür bringt, endlich Teil der europäischen demokratischen Familie werden zu dürfen. Die niederländische Abstimmung ist auch ein Lehrbeispiel für das Trugbild der viel gepriesenen 'direkten Demokratie'. Nur knapp über 30 Prozent der niederländischen Wählerschaft nahmen überhaupt an dem Referendum teil - das ist bei Weitem weniger als bei regulären Wahlen, die den Schallverstärkern der vermeintlich authentischen 'Stimme des Volkes' nicht demokratisch repräsentativ genug sind."

Die jüngsten "Panama-Paper"-Enthüllungen über Putins superreiche Kumpel bestätigen den ehemaligen Russland-Korrespondenten Boris Reitschuster bei resonanzboden.com in der Ansicht, dass der Putinismus ein Mafia-System sei: "Eben dieser mafiöse Charakter seines Systems macht für Putin wirkliche Reformen genauso unmöglich wie eine friedliche Existenz neben der EU und den USA. Würden die Männer des 'Putin-Clans' auf Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit in Russland setzen, so würden über kurz oder lang die dunklen Quellen ihres Reichtums Gegenstand von großen Berichten und Gerichtsverfahren. Echte Reformen würden Putins Überleben gefährden - möglicherweise nicht nur sein politisches."

In der taz wendet sich Harald Welzer gegen die Meinung, "man habe es in der Flüchtlingsfrage keineswegs mit einem Problem zu tun, dessen Ursache - nur beispielsweise - mit der fossilen Wirtschaft und ihrer Abhängigkeit von Regimen im Nahen Osten oder mit dem 'Krieg gegen den Terror' zu tun hat, der die gegenwärtig furchtbarsten Terrororganisationen IS und Boko Haram erst hervorgebracht hat, sondern mit einem, dass die Flüchtlinge selbst darstellen."

Scharf wendet sich Gustav Seibt in der SZ gegen eine Anti-Merkel-Polemik des Globalisierungskritikers Wolfgang Streeck in der LRB: "Die Flüchtlingskrise werde folgerichtig europäisiert, damit Europa germanisiert werden kann - diese Streecksche Melodie hört man allerdings auch anderswo, am lautesten in Frankreich bei Marine Le Pen."

Außerdem: In der FAZ berichtet Jürg Altwegg über ein Redeverbot für den Prediger Tariq Ramadan in Frankreich, gegen das einige Intellektuelle wie Edgar Morin protestieren.
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Medien

Michael Hanfeld glaubt in der FAZ, Jan Böhmermann habe sein Schmähgedicht (mehr hier) auf Erdogan (das Kanzlerin Merkel zu einem Telefongespräch mit dem türkischen Premier zwang, um weiteren Ärger abzuwenden) gar nicht so gemeint, sondern nur aufgesagt, um einen demokratietheoretischen Beweis zu erbringen: Er "glaubte, er könne demonstrieren, was bei uns erlaubt, aber eben auch nicht erlaubt ist, indem er das Unerlaubte, eindeutig Beleidigende in Anführungszeichen setzte und dann herunterbetete. Das war nicht sonderlich sophisticated und in einer Weise riskant, welche die Redaktion des 'Neo Magazin Royale' nicht bedacht haben dürfte." Heute Abend bekommt Böhmermann den Grimme-Preis, aber nicht dafür, so Hanfeld.
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Stichwörter: Böhmermann, Jan

Politik

Steueroasen schaden vor allem den armen Ländern, denn von dort fließt so viel Geld illegal ab, dass die Armut in diesen Ländern zementiert wird, erklärt der Philosophieprofessor Thomas Pogge auf Zeit online. "Die Folgen sind fatal. Wenn das abfließende Geld im Land bliebe und ordentlich versteuert würde, verfügten die Regierungen der Entwicklungsländer - einer Schätzung der Hilfsorganisation Christian Aid zufolge - pro Jahr über 160 Milliarden Dollar mehr Steuereinnahmen. Und das liefe, nach dem gegenwärtigen Ausgabenmuster dieser Regierungen, auf ganz erhebliche Verbesserungen für ihre Bevölkerungen hinaus."
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Religion

Wieder ist in Bangladesch ein säkularistischer Blogger umgebracht worden, meldete gestern die New York Times: "Laut Zeugen umringte eine Gruppe glattrasierter Männer den Jurastudenten Mohammad Nazim Uddin am Mittwoch um halb neun Uhr morgens und verletzte mit der Machete seinen Kopf, bevor er erschossen wurde... Uddin, 26, war ein Atheist, der seine Meinung in häufigen Posts auf Facebook sagte. Seine Familie hatte ihn gebeten aufzuhören, weil sie fürchteten, dass ihn seine Posts angreifbar machten, und etwa vier Monate lang, bis Januar, hatte er sich daran gehalten."
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Stichwörter: Bangladesch, Islamismus

Geschichte

Gereon Asmuth erzählt in der taz, an welcher Stelle der Mentor der Zeitung und ehemalige RAF-Anwalt Christian Ströbele widersprach, als Stefan Reinecke im taz-Café seine Biografie vorstellte: "'Ich kann bis heute nicht begreifen, dass die Unterstützung hungerstreikender Gefangener strafbar sein soll', sagt Ströbele. Die Behauptung, der Hungerstreik sei nichts als ein Propagandatrick von Andreas Baader gewesen, sei Quatsch. 'Ich habe das anders erlebt', sagt Ströbele. Er malmt mit dem Kiefer und schüttelt sanft den Kopf, wenn der 20 Jahre jüngere Reinecke später erklärt, dass man 'die Sache zwar aus der Zeit beschreiben' müsse, er sich als Vertreter einer anderen Generation aber auch einen anderen Blick darauf erlaube."

Außerdem: Für die SZ fährt Tim Neshitov hundert Jahre nach dem irischen Osteraufstand nach Dublin.
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