9punkt - Die Debattenrundschau

Mitschuldig, aber nicht angeklagt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2016. Hat Barack Obama die Briten vor dem Brexit gerettet?, fragen sich die britischen Medien nach seiner überraschend deutlichen Intervention gegen den Ausstieg des Landes aus der EU. Oder war es Boris Johnson mit seinen Äußerungen, die "in die Gosse" gehören, fragt der Spectator. Im Perlentaucher sieht Wolfgang Kraushaar den Umgang mit der AfD als den Lackmustest für die deutsche Demokratie. In der SZ resümiert Annette Ramelsberger in einer großen Reportage den Zschäpe-Prozess. Die VG Wort-Entscheidung des BGH sorgt weiter für Debatten. Und The Intercept belegt die glänzenden Beziehungen zwischen Google und dem Weißen Haus mit einer interaktiven Grafik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.04.2016 finden Sie hier

Europa

In einem großen Essay für den Perlentaucher versucht Wolfgang Kraushaar, die politische Lage in Deutschland zu bestimmen - mit der entscheidenden neuen Kraft AfD, die die Volksparteien schwächt. Der Umgang mit der AfD wird zu dem Lackmustest für die deutsche Demokratie, meint er. Wie ist ihr zu begegnen? "AfD-Politiker nutzen nicht völlig unbegründete Befürchtungen aus, um sie für ihre Zwecke instrumentalisieren zu können. Um sich dagegen zur Wehr zu setzen, hilft es jedoch nichts, den vom früheren Bundespräsidenten Christian Wulff einst wie ein Versprechen postulierten Satz 'Der Islam gehört zu Deutschland' blindlings zu wiederholen." Statt dessen verficht Kraushaar eine "Entgiftungsthese": "Man muss das Terrain, auf dem die AfD bislang so erfolgreich agiert hat, trockenlegen. Das heißt nichts anderes, als dass die weitere Fortsetzung einer hier bereits beschriebenen Politik der Auslassungen unbedingt vermieden werden muss."

Höchst lesenswert in "Buch 2" der SZ Annette Ramelsbergers große resümierende Reportage zum Zschäpe-Prozess, wo sie mit einem baldigen Urteil rechnet. Für sie war es auch ein Prozess über Deutschland: "In einem der TV-Filme über den NSU hatten die Ermittler am Ende den einen V-Mann gefunden, der die ganze Wahrheit hätte berichten können. Aber auf dem Weg zur Vernehmung wurde er ermordet - ein filmisch-fiktionaler Hinweis auf die Verschwörungstheorien, wonach im NSU-Komplex ständig Zeugen sterben. Dieser Mann, der alles aufklärt, war vom Drehbuchautor erfunden. Vor Gericht ist er nie aufgetaucht. Und für das Gericht selbst sind die V-Leute gar nicht so wichtig. Der Staat und die Gesellschaft sind möglicherweise mitschuldig, aber nicht angeklagt."

Für gehörigen Ärger hat auf Seiten der Brexit-Kampagne Barack Obamas überraschend deutliche Intervention gegen einen EU-Ausstieg Großbritanniens gesorgt: Anlass war Obamas Einladung zur Privatparty der neunzigjährigen Queen, die ja angeblich gegen den Brexit ist. Wenn Großbritannien die EU verlässt, droht er in einem Debattenbeitrag im Telegraph mit Blick auf TTIP, "steht es wieder am Ende der Schlange". Und außerdem: "Selbst wenn uns heute allen an unserer Souveränität gelegen ist, bringen jene Nationen, die durch das Kollektiv handeln, in den gemeinsamen Herausforderungen ihren Einfluss am effektivsten ein." Und das, obwohl hundert britische Abgeordnete Obama zuvor aufgefordert hatten, nicht zu intervenieren!

Tom McTague kommentiert das bei politico.eu als "Leave campaign's worst day". Zumal Boris Johnsons in der Sun geäußerte Bemerkung, Obama sei "teilweise Kenianer" allgemein als Fauxpas ankam und von Obama laut Anushka Asthana im Guardian ziemlich cool quittiert wurde. Im nicht gerade Brexit-feindlichen Spectator schreibt Nick Cohen, dass Johnsons Äußerung "in die Gosse gehört" und dass Johnson im übrigen ein Bastard sei. Und Jonathan Freedland fragt sich im Guardian, ob Obama der Brexit-Kampagne den Todesstoß verstzte: Ausgerechnet der Partner, dem man sich an Stelle Europas anschmiegen will, zeigt die kalte Schulter.
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Internet



In einer großen interaktiven Grafik (siehe Screenshot) stellt David Dayen von The Intercept die großartigen Beziehungen zwischen Google und Barack Obama dar - die Grafik zeigt die Hunderte von Treffen zwischen Repräsentanten des Weißen Hauses und Google. Für Google, das jetzt auch ins Kabel-Business gehen darf, lohnt es sich: "Wie groß der Einfluss von Google ist, den es sich so erkauft, ist nicht immer klar. Aber man muss bedenken, dass Google in der Europäischen Union wegen seine mobilen und Such-Übermacht zwei große Antitrust-Verfahren überstehen muss. Im Gegensatz dazu ist die Idee von Sanktionen gegen Google vom Weißen Haus abgeschmettert worden."
Archiv: Internet

Geschichte

Dreißig Jahre Tschernobyl - ureigenes Terrain der taz, ja, sogar das Thema, das die taz groß machte, wie Ute Scheub schreibt. Peter Unfried führt in dem Dossier, das die taz dem Thema widmet, ein Gespräch mit Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und der Grünen Rebecca Harms. Alexijewitsch schrieb in ihrem Tschernobyl-Buch den Satz "Tschernobyl ist unsere Zukunft". Und im Gespräch erläutert sie ihn: "Seither ist es offensichtlich, dass der Mensch von seinem ihm von der Natur zugewiesenen Platz abgerückt ist und mit der Natur aus der Position des Stärkeren spricht. Und natürlich nimmt die Natur Rache an uns... Das Böse ist total geworden. Der Mensch bekam plötzlich Angst vor Gras, vor Wasser, vor den Vögeln. Ich kann mich noch gut an die Gesichter der Menschen erinnern, als die Militärs sie anwiesen, ihre Eier und Hühner zu begraben. Der Soldat schaute genauso verrückt drein wie die alte Frau, der er das befahl."
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Medien

Ist es nicht auch ganz schön abtörnend, dass Kulturredakteure den großen Leitartikel in ihren Zeitungen immer nur kriegen, wenn jemand 400 Jahre tot ist? Jürgen Kaube schreibt zu Shakespeare auf Seite 1 der FAZ. Und Lothar Müller hat aus diesem Anlass in der SZ die Ehre, den Leitartikel auf Seite 4 bestreiten zu dürfen.
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Gesellschaft

Brauchen wir ein Gesetz gegen sexistische Werbung? Die Diskussion darüber wird seit den Siebzigern geführt, viel gebracht hat sie nicht, meint ein skeptischer Joachim Güntner in der NZZ: "Vergleicht man die Werbe-Exempel jener Jahre mit den gegenwärtigen, treten Unterschiede hervor. Ins Bild gesetzte Herrenwitze, damals noch möglich, sind heute out, dafür ist der männliche Blick von oben herab auf die Frau sexuell eindeutiger geworden, als ginge es darum, sofort übereinander herzufallen. Und was die weiblichen Models der Siebziger angeht: Ihre Lippen bildeten kecke Kussmünder, noch nicht diese uns jetzt überschwemmenden 'Duckfaces'. Ihr Lächeln war gelöster, und sie mussten keine 'Nimm mich'-Posen produzieren, es fehlte die pornografische Zurichtung. Sie wirkten freier, und wenn man das sieht, kann man über die seither erreichten Fortschritte der Emanzipation wirklich ins Grübeln kommen."
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Urheberrecht

Wird es Autoren nun bald besser gehen? Nicht nur ist durch die historische Entscheidung des BGH die bisherige Praxis der VG Wort, auch Verlage an den Ausschüttungen zu beteiligen, Unrecht (unsere Resümees) - es sind außerdem noch neue mächtige Unternehmen dem Kreis beigetreten, die in die VG einzahlen, nämlich die Smartphone-Konzerne, auch Apple, schreibt Rechtsnanwalt Rainer Dresen bei buchmarkt.de: "Mit diesen Geräten kann man bekanntlich auch Kopien von Texten anfertigen. Nun also zahlen Unternehmen wie Apple, Google, Samsung, Sony und Microsoft rund fünf Euro pro Smartphone und sieben Euro pro Tablet, und das rückwirkend ab 2008. Apple hat deshalb schon Anfang 2016 seine Preise erhöht und weist seitdem auf den Rechnungen diese 'Urheberabgabe' ausdrücklich aus. Millionenbeträge für die VG Wort werden alleine dadurch zusammenkommen - und die Verlage werden davon Stand heute nichts erhalten."

Jörg Sundermeier, Verleger des Verbrecher Verlags weist in der FAZ darauf hin, welche wirtschaftliche Bedeutung die nun unrechtmäßigen Ausschüttungen der VG Wort für die Verlage hatten: "Der Verleger Christoph Links, dem im März auf der Leipziger Buchmesse der Kurt-Wolff-Preis verliehen wurde, sagte in seiner Dankesrede, dass er gut fünfzigtausend Euro zurückzahlen müsse, da ja die Verwertungsgesellschaft Bild/Kunst auch ihrerseits die Ausschüttung an die Verlage zurückfordern müsse. Bei meinem Verlag geht es immerhin um knapp fünfundzwanzigtausend Euro, bei großen Verlagen dann gleich um siebenstellige Beträge. Das zahlt niemand aus der Portokasse."
Archiv: Urheberrecht