9punkt - Die Debattenrundschau

Gestohlen, gekauft, gerettet

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2016. Neue enthüllte TTIP-Geheimdeals lassen die SZ um den Rechtsstaat fürchten. Was bleibt fürs Humboldt-Forum, wenn auch alle anderen Institutionen schon die Kulturen thematisieren?, fragt der Tagesspiegel, und antwortet auch. Die FAZ erklärt, wie konservative türkische Imame junge Muslime in die Arme der Salafisten treiben. Im Guardian fragt Nick Cohen, ob die Labour-Partei den Antisemitismus in ihren Reihen überhaupt noch los werden kann. Im New York Magazine versucht sich Andrew Sullivan mit Platon einen Reim auf Trump zu machen. In der Welt fürchtet Andrzej Wajda einen neuen Faschismus in Europa.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.05.2016 finden Sie hier

Politik

Greenpeace hat geheimes Material von den TTIP-Verhandlungen veröffentlicht. Kernpunkte dabei: Die USA bestehen auf den Schiedsgerichten, nur ganz so geheim müssen sie nicht mehr sein. Und Gen- sowie hormonbehandelte Lebensmittel sollen in Europa verkauft werden dürfen, im Gegenzug gibts Exporterleichterungen für die europäische Autoindustrie, berichtet die SZ. Das übertrifft alle Befürchtungen, warnt Heribert Prantl, zumal die Amerikaner weiter auf Geheimverhandlungen bestehen: "Es geht bei TTIP nicht nur um Wirtschaft und um den Abbau von Handelshemmnissen. Es geht um Grundfragen von Rechtsstaat und Demokratie, um Weichenstellungen, die weit in die Zukunft wirken. Denn das Abkommen ist als 'living agreement' geplant, als Abkommen, das von Expertenausschüssen fortentwickelt werden soll; solche Ausschüsse sollen auch verhindern, dass nationale Gesetze erlassen werden, die im Widerspruch zum Freihandelsabkommen stehen. Man nennt das regulatorische Kooperation. Man muss diese Pläne kennen, um diskutieren zu können, wie hier die Parlamente eingebunden werden können."

Unter leicht ermüdendem Rückgriff auf Platon und Sokrates versucht der einstige Alphablogger Andrew Sullivan in einem langen Essay für das  New York Magazine das Phänomen Trump zu erklären:"Kann es sein, dass Donald aus den populistischen Spielwiesen des Wrestling und der Boulevard-Zeitungen über Reality Television und Twitter aufstieg, um nicht nur Platon, sondern auch James Madison recht zu geben, der sagte, dass 'Demokratien Spektakel der Turbulenz und des Streits sind und in der Regel kurzlebig und dass ihr Tod gewaltsam" sei? Testet er die besondere Schwäche der Demokratie - ihre Anfälligkeit für Demagogen - indem er die Schutzwälle durchbricht, die wir gegen solche Personen errichtet hatten? Oder ist das eine Überreaktion von mir?" Und kann es sein, dass gerade solche naserümpfenden Elitediskurse zur Machtsteigerung dieser Figuren beitragen?
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Europa

In der FAZ versucht Jürgen Kaube sich nach dem Parteitag der AfD ein Bild von den Ideen der Partei zu machen: "Was den Konservatismus angeht, so bezieht dieser sich bei der AfD nicht auf Reserven gegen Technik und Steuerung. Wenn von dem erhaltenswerten Deutschland gesprochen wird, sind 'tempo-offene' Autobahnen, Atommüllendlager und die Abschaffung des Naturschutzes inbegriffen. Gefährdet wird die Heimat offenbar vor allem von Einwanderern, Gewerbesteuern, englischsprachigen Studiengängen und Windrädern."

In Europa blüht gerade ein neuer Faschismus auf, fürchtet der polnische Regisseur Andrzej Wajda im Interview mit der Welt. Auch in Polen: "Sehr viel von dem, was jetzt passiert, haben wir schon vor 1989 gesehen. Diese Art, das Land zu regieren: Es gibt eine Partei, und diese Partei sieht bestimmte Leute für bestimmte Posten vor. Ob diese Personen für diese Aufgaben qualifiziert sind, hat keine Bedeutung. Diese Tendenz gibt es jetzt wieder. Es geht darum, dass das Land einem bestimmten politischen Lager untergeordnet werden soll. Und natürlich beunruhigt uns das, denn wir kennen das bereits. Für ein solches Polen haben wir nicht gekämpft."

In einem sehr bitteren Artikel für den Guardian prophezeit Nick Cohen, dass die Labour-Partei ihr Antisemitismus-Problem nicht einfach los wird wie einen lästigen Schnupfen - das Problem sei chronisch. Mit Blick auf die Politikerin Naz Shah und den ehemaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, die aus der Partei ausgeschlossen wurden, schreibt Cohen, dass die Partei ihr Problem kaum bewältigen kann, wenn sie sich nicht mit den Immigranten in den eigenen Reihen auseinandersetzt: "Während Livingstone verblüffte Historiker zwang zu erklären, dass Adolf Hitler kein Zionist war, war ich selbst gerade in Naz Shahs Bradford. Ein Politiker, der hier gewinnen will, kann es sich nicht leisten, vernünftig zu sein, entdeckte ich hier. Er oder sie kann nicht einfach die israelische Besetzung der Westbank kritisieren und sagen, dass Israelis und Palästinenser jeweils ihren eigenen Staat haben sollten. Sie sind gezwungen, in eine extremistische Rhetorik zu verfallen, die 'alle Juden vertreiben' will, oder sie riskieren, von ihren Gegnern als 'Zionisten' gebrandmarkt zu werden."
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Religion

970 türkische Imame predigen derzeit in deutschen Moscheen. Sie sind dem türkischen Staat verpflichtet, kennen Deutschland nicht und predigen einen höchst konservativen Islam, berichtet Karen Krüger in der FAZ. Das Problem: Es gibt "immer mehr junge Muslime, die sich einen zeitgemäßen Zugang zu ihrer Religion wünschen. Doch selbst wenn ihnen ein intellektuell aufgeschlossener Imam zur Seite steht, haben ihre Worte in der Gemeinde kein Gewicht. Viele junge Muslime wenden sich deshalb von ihren Gemeinden ab und der Religion im Privaten zu - oder dem Salafismus. Salafisten beobachten sehr genau, wer sich in den Gemeinden gut aufgehoben fühlt und wer nicht."
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Stichwörter: Imam, Islam, Salafismus, Salafisten, Türkei

Internet

Zehn Jahre re:publica, die heute wieder startet. Sascha Lobo erinnert sich in einem Artikel Meike Laaffs für die taz: "Damals war ein Konto bei Twitter noch ein Distinktionsmerkmal. Ende der nuller Jahre lud Lobo seine Follower an einem der re:publica-Abende zur Party in seine Wohnung ein. Lobo, das war damals einer der Größten im kleinen deutschen Twitter-Universum. Heute alles relativ. 'Ich habe schmale 360.000 Follower - YouTuberinnen, die über Mode berichten, die außerhalb ihrer Szene niemand kennt, haben das Dreifache von mir.' Instrumente, die die Szene anfangs quasi für sich hatte, seien jetzt in die Gesellschaft eingesickert."

Außerdem: In der SZ warnt Evgeny Morozov vor Google und Facebook.
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Kulturpolitik

Diskussionen zum Kulturbegriff, zu aktueller Politik, Fragen der Migration, Armut, Integration? Führt heute praktisch jedes Theater in Berlin. Ausstellungen zu anderen Kulturen? Gibts auch längst, man gehe nur in die Maya-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Was bleibt da eigentlich inhaltlich fürs Humboldt-Forum übrig, überlegt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. "Das Wichtigste sind die Sammlungen, die Artefakte. Sie können, einmal zum Sprechen gebracht, unendlich viel erzählen von Menschen und Kontinenten, Kultur und Geschichte. Zu dieser Geschichte gehört ihr oft abenteuerlicher Weg ins Museum. Wie sind die Steine, die Stelen, die Boote, die Masken nach Berlin gekommen? Auf legale Art und Weise, als Raubkunst? Gestohlen, gekauft, gerettet?"

Für die FAZ besucht Paul Ingendaay die Kulturhauptstadt Breslau.
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Geschichte

Johannes Munzinger zitiert in der FAS den Historiker Günter Dippold zu den Bamberger Hexenprozessen im 17. Jahrhundert, bei denen 900 Menschen umgebracht wurden. Er korrigiert manches Vorurteil: "Die Masse der Hexenprozesse fand nicht im Mittelalter statt, sondern in der frühen Neuzeit, vor allen Dingen im späten 16. und im 17. Jahrhundert. Auch war nicht die katholische Kirche am Werk, wenngleich Vertreter beider Konfessionen als geistige Brandstifter in Erscheinung treten. Die Verfolgung aber lag in der Hand der weltlichen Kräfte. Es wurden auch keineswegs nur Frauen verbrannt, auch Männer und Kinder beiderlei Geschlechts waren die Opfer. Jede, jeder hätte Opfer werden können."

Außerdem: Tilman Krause besucht für die Welt die Thüringer Landesausstellung "Die Ernestiner. Eine Dynastie prägt Europa" in Gotha und Weimar.
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Wissenschaft

In der FAZ suchen Frank Decker und Eckhard Jesse nach Gründen, warum Politologen in der öffentlichen Debatte keine Rolle mehr spielen. In der NZZ denkt Hans Widmer über die Bedeutung der Evolution für die menschliche Freiheit nach.
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