9punkt - Die Debattenrundschau

Zur Preisverleihung gab es Blechbläser

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2016. Kann islamisch sein, was der Koran verbietet? In Cicero und im Kölner Stadtanzeiger wird über Alice Schwarzers Buch "Der Schock" diskutiert. In Kreuzberg lässt sich's bequem protestieren: Neue Wohnungen soll es nicht mehr geben, und der Wert der eigenen steigt ganz nebenbei, meint der Hauptstadtbrief. Ein bekannter Fernsehmoderator kann seinen eigenen Namen nicht mehr hören. Und sein Schmähgedicht auf einen türkischen Politiker darf er auch nicht mehr aufsagen, berichten Medienblogs. Der Konservatismus britischer Muslime ist nicht traditionell, sondern ganz neu, meint Kenan Malik im Observer
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.05.2016 finden Sie hier

Religion

Vor einigen Tagen ist Alice Schwarzers Sammelband "Der Schock" über die Silvesternacht erschienen, in dem Schwarzer und verschiedene andere Autoren wie Bassam Tibi oder Kamel Daoud auch die islamische Kultur für die sexistischen Ausschreitungen verantwortlich macht. Dagegen wehrte sich bei cicero.de die Autorin Khola Maryam Hübsch von der Ahmadiyya-Sekte mit dem Argument, dass der Koran ein solches Verhalten verbietet und also schlecht dafür verantwortlich gemacht werden könne.

Aber das ist ein Problem aller Religion antwortet wieder bei cicero.de Thomas Baader: "Der Widerspruch, den Hübsch in Schwarzers Argumentation zu finden glaubt, entpuppt sich in Wahrheit als ein Widerspruch, der im eben beschriebenen Sinne sowohl im Verhalten von Religionsangehörigen als auch in den religiösen Schriften, und beileibe nicht nur in den islamischen, zu finden ist: Denn nicht nur das Verhalten des einzelnen Gläubigen im Hinblick auf seinen Glauben ist oft widersprüchlich, auch der religiöse Text selbst ist es."

In der Badischen Zeitung wirft Annemarie Rösch Schwarzer vor, ein muslimisches Feindbild zu pflegen. Auch sie sieht nicht im Islam das Problem, sondern denkt wie die marokkanischstämmige Frauenrechtlerin Sineb El Masrar: "Die Belästigungen seien der Wut der Zu-kurz-Gekommenen geschuldet - und weniger der Religion, entgegnete sie Schwarzer in der ZDF-Sendung Aspekte. Nach dieser Interpretation wollte der verarmte arabische Mann den wohlhabenden deutschen herausfordern, indem er seine Frau belästigte. Zwar steckt auch dahinter ein fragwürdiges Frauenbild, aber mit Religion hat das nur bedingt zu tun. So wurden auch in den Balkankriegen Frauen Opfer sexueller Gewalt, weil eine Ethnie die andere demütigen wollte. Zumeist waren die Täter christlicher Herkunft."

Im Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger wundert sich Alice Schwarzer, dass die Erfahrungen der Autoren in ihrem Band hierzulande einfach weggewischt werden: "Die Hälfte der Autorinnen und Autoren, die zu meinem Buch Texte beigesteuert haben, stammen aus dem muslimischen Raum. Für die war sofort klar, dass das eine kleine Kriegsansage gewesen ist, eine Aggression mit politischer Intention. Eine algerische Autorin konnte nicht fassen, dass die Debatte in Deutschland nicht sofort in diese Richtung ging. Sie fragte mich: Sind wir für euch Deutsche so minderwertig, dass ihr nicht von uns lernen wollt? Das hat mich sehr nachdenklich gemacht."

Außerdem: In der Welt protestiert Erik Lindner gegen eine Passage im Programm der AfD, die das Schächten verbieten will Für ihn ein direkter Rückfall in die Nazi-Barbarei: "'Der Arier, soweit er nicht sittlich verroht ist, kann im Schächten nur einen Akt von größter Grausamkeit erblicken', stand im 'Handbuch der Judenfrage' von Theodor Fritsch." In der FAZ kritisiert der Theologe Abdel-Hakim Ourghi den autoritären und schematischen Koran-Unterricht in den Moscheen und setzt seine Hoffnung auf den Religionsunterricht an den Schulen.
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Kulturpolitik

In der SZ erzählt Tim Neshitov, wie der Dirigent Steven Sloane mit Charme, Hartnäckigkeit und Ideen einen Konzertsaal für sein Orchester in der klammen Stadt Bochum erstritt: "Eine Zeit lang schickte Sloane seine Musiker mit Sparschweinen ausgestattet unters Volk. Samstagsmusik in der Fußgängerzone. Sie spielten im Kolpinghaus, vor dem C&A, bei Spielplatzeinweihungen. Der Golfclub Stiepel richtete ein Turnier aus, zur Preisverleihung gab es Blechbläser, und die Musiker bekamen einen Teil des Preisgeldes."
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Stichwörter: Bochum

Medien

Alexander Becker hat für Meedia das Podcast einer Gesprächssendung mit Jan Böhmermann gehört, der wieder obenauf zu sein scheint und die geschätzte Kollegenschaft beschimpft: "Das Gespräch über die Zeit nach dem Schmähgedicht endet mit einem kleinen Böhmermann-Rant gegen 'verfickte Journalisten', die sich jetzt wieder die Sendung nehmen und Zitate aus dem Zusammenhang reißen könnten: 'Ihr blöden Hyänen, hört endlich auf. Ich kann auch meinen eigenen Namen nicht mehr hören.'" turi2 meldet unterdessen, dass das Landgericht Hamburg Böhmermann zunächst die Wiederholung seines Erdogan beleidigenden Gedichts verbietet.
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Stichwörter: Böhmermann, Jan, Podcasts

Internet

Im Guardian schreibt ein anonymer ehemaliger Facebook-Mitarbeiter, der für den sozialen Dienst "Trending Topics" redaktionell betreute (unsere Resümees): "Das meiste, wenn nicht alles, was über die Trending Topics in Gizmodo zu lesen war, ist verzerrt oder aus dem Kontext gerissen. Es gab keine politische Schlagseite, und wir waren nicht gehalten 'konservative' Nachrichten zu unterdrücken." Die Arbeitsbedingen bei Facebook seien allerdings grottig gewesen.

In der taz berichtet Peter Nowak, dass Facebook offenbar mit Hingabe kurdische Symbole - nicht nur von der PKK - löscht und damit auf Anfragen der türkischen Regierung reagiert.
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Stichwörter: Facebook, Kurden, Pkk

Gesellschaft

Max Thomas Mehr schreibt im Hauptstadtbrief über die Kreuzberger, die sich besten Gewissens gegen Wohnungsbau und Verdichtung in ihrem Stadtteil wehren: "Wer heute befriedeter ehemaliger Hausbesetzer ist, Miteigentümer in einer Hausgemeinschaft oder Altmieter einer mit öffentlichen Mitteln sanierten Wohnung mit nach wie vor günstiger Miete, kann bequem protestieren gegen Gentrifizierung und Spekulanten. Denn der Protestler von heute schlägt damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Sein Eigentum wird wertvoller und seine Miete oder Pacht in Relation zu Neuvermietungen günstiger, je knapper der Wohnraum in der Innenstadt bleibt."
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Europa

Rechts- und Linkspopulismus nähern sich in Europa immer mehr an - vor allem was die Ablehnung der EU angeht, schreibt Dirk Schümer in der Welt. Ein Wunder ist das nicht, meint er, angesichts einer Arbeitslosenquote von rund 70 Prozent unter den Jugendlichen am Mittelmeer: "Wenn man in Europa die deutschfeindlichen und antieuropäischen Anklagen von Podemos in Spanien oder von Beppe Grillo in Italien nicht mehr hören möchte, müsste man hier endlich Erfolge vorweisen. In Griechenland wird wie in Sizilien der Zusammenhang von Verzweiflung und Linkspopulismus am greifbarsten. Ausgerechnet dort, wo die Menschen ohnehin großflächig verarmen, landen nun auch noch massenhaft Migranten an. Die reibungslose Koalition des linken Volkstribuns Tsipras mit einer extrem nationalistischen Militärpartei führt vor, dass die politischen Extreme auf diese Lage ähnlich reagieren."

In Nordirland macht man sich echte Sorgen über den Brexit, weil dann mitten in Irland eine Außengrenze der EU läge. Der bescheidene Wohlstand der Region, der auch mit den ungehinderten Reisen zu tun hat, wäre gefährdet. Schon gibt es Streit, wie die Grenze künftig zu behandeln sei, schreibt Jennifer Duggan in politico.eu: "Da Nordirland nunmehr eine Außengrenze zur EU hätte, müssten Reisende in Irland kontrolliert werden. Das war zumindest die Schlussfolgerung eines Berichts der britischen Regierung, aber die Nordirland-Sekretärin der Regierung beteuert, dass sich die Grenze nicht verändern würde."

Nur 18 Prozent der britischen Muslime finden, dass Homosexualität legal sein sollte. 90 Prozent meinen, dass man sich nicht über den Propheten lustig machen solle. Gegen Trevor Philips, der in einem Dokumentarfilm diesen Konservatismus britischer Muslime beklagte, betont Kenan Malik, dass dieser Konservatismus gerade neu sei, während seine eigene Generation der um die Fünfzigjährigen und die seiner Eltern wesentlich säkularer eingestelt gewesen seien: "Konservaive soziale Ansichten sind nicht einfach ein Rückfall in 'traditionelle' Muster, sondern haben sich gegenwärtigen sozialen und politischen gebildet. Die wirkliche Frage ist darum nicht 'Warum haben sich Muslime nicht geändert', sondern 'Warum haben sich große Teile der muslimischen Communities in eine immer konservativere Richtung bewegt?' Wenn wir nicht die richtigen Fragen stellen, ist es kein Wunder, dass wir nicht die richtigen Antworten finden." Mehr zu der von Kenan Malik zitierten Umfrage hier in einem pdf-Dokument.

Sehr wohlwollend blickt Bernard-Henri Lévy in der Welt auf den neuen Bürgermeister Londons, Sadiq Khan, den er für alles andere als konservativ hält. Khan unterstützt die Heirat Homosexueller, sorgt sich um die Zunahme von Nikabs und Hijabs in London und hält Demokratie für sehr wohl vereinbar mit dem Islam. In der Labour Partei ist er damit geradezu eine Wohltat, meint BHL: "Angesichts dieses britischen Dummsozialismus, den manche als harmlose Unterstützung der Verdammten dieser Erde in Palästina darstellen, hat Khan nicht gezögert, seine entschiedene Ablehnung zu äußern. Diese Position wurde offensichtlich, als er darauf bestand, am Sonntag, den 8. Mai, als erste Amtshandlung als Bürgermeister gemeinsam mit dem obersten Rabbi Londons und dem israelischen Botschafter in Großbritannien die sechs Millionen durch die Nazis ermordeten Juden zu ehren."

Georgien ist Gastland der Buchmesse 2018 (nicht der kommenden Messe, wie wir zuerst irrtümlich geschreiben haben, pardon). Die FAZ schickt ihre Redakteurin Sandra Kegel aus diesem Anlass auf Erkundungstour: "Spätestens seit der Rosenrevolution 2003 scheint das Land die wilden Neunziger, die Korruption und die Kriminalität abzuschütteln. Das Georgien der Gegenwart befinde sich prekär und chancenreich zwischen sowjetischer Vergangenheit, westlicher Moderne und reaktionärer Orthodoxie, sagt Stephan Wackwitz, Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis."
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