9punkt - Die Debattenrundschau

Milliarden halbintelligenter Frankensteins

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2016. Katholische Priester in Leipzig sind einsame Rufer in der Wüste, schreibt eine mitfühlende FAZ. Aber sie bekommen vom Staat einen Kirchentag finanziert, ergänzt der Humanistische Pressedienst. Die taz schildert die schwierige Lage von Bloggern und Journalisten in Bangladesch. Wer sich im Iran gegen die Todesstrafe einsetzt, wird nicht gleich hingerichtet, sondern bekommt nur zehn Jahre Haft, hat die iranische Freuenrechtlierin Narges Mohammadi herausgefunden. Horizont schildert den Kampf der Berliner Zeitungen gegen die Krise. Und keiner schlägt Nigeria im Scrabble.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.05.2016 finden Sie hier

Religion

In Leipzig ist nächste Woche Katholikentag. In einem mitfühlenden ganzseitigen Artikel im politischen Teil der FAZ schildert Mona Jaeger die einsame und unentwegte Arbeit der katholischen Priester in einer unfrommen Stadt: "Michael Poschlod kann jedem einzelnen Gottesdienstbesucher in die Augen schauen, weil es auch an diesem Sonntag nicht so viele sind." Der Humanistisische Pressedienst meldet unterdessen, dass dieser Katholikentag in Zeiten sprudelnder Kirchensteuern trotz allem vom Staat finanziert wird: Die Kirche erhält für die Organisation des Ereignisses 4,5 Millionen Euro aus öffentlichen Kassen. "So werden allein durch den Freistaat Sachsen 3,0 Millionen Euro aus dem Staatssäckel gegeben. Dazu kommen eine Million Euro von der Stadt Leipzig und 500.000 Euro vom Bund. Dazu sagt André Schollbach, Mitglied der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag: 'Immer wieder werden Großveranstaltungen der Kirchen großzügig aus der Staatskasse finanziert. Dabei erhalten die Kirchen bereits jährlich wiederkehrende Millionenzahlungen vom Freistaat Sachsen.'" Und: "In der Stadt sind etwa 80 Prozent der Bevölkerung konfessionsfrei."
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Politik

In Bangladesch werden unentwegt säkulare, atheistische oder andersgläubige Blogger und Journalisten grausam ermordet. Lalon Sander schildert in der taz die Hintergründe und die Stimmung, die das möglich macht: "Die Reaktion der bangladeschischen Regierung ist .. meist verhalten - oft werden die Mordopfer sogar von Ministern für ihre 'antireligiösen' oder 'beleidigenden' Aktivitäten kritisiert. Auch in der Bevölkerung haben Atheisten oder Homosexuelle wenig Sympathien. Mit ihrer Zurückhaltung will die Regierung wohl dem Vorwurf entgegentreten, antiislamisch zu sein."

Die iranische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi wurde zu Gefängnis verurteilt, meldet Reporters sans frontières: Sie "erhielt eine Strafe von fünf Jahren für 'Treffen und Verschwörungen gegen die Islamische Repulik', von einem Jahr wegen 'Propaganda gegen die Regierung' und von zehn Jahren, weil sie mit Legam arbeitete einer Organisation, die sich für das Verbot der Todesstrafe im Iran einsetzt. Dies macht 16 Jahre. Seit einem 2015 erlassenen Gesetz muss eine Person, die mehrere Strafen erhält, nur die längste dieser Strafen absitzen. In der Praxis wurde Mohammadi als zu zehn Jahren verurteilt." Mehr Informationen zu der Organisation Legam hier.

Hillary Clinton oder Donald Trump - das wird die Wahl sein, die die Amerikaner demnächst haben, schreibt in der NZZ Louis Begley. Einige Republikaner hoffen allerdings immer noch, dies abwenden zu können, indem sie "einen dritten Kandidaten ins Spiel bringen; dieser könnte, so hoffen sie, in einigen Staaten als Unabhängiger antreten und so viele Stimmen auf sich vereinen, dass weder Hillary noch Trump die absolute Mehrheit der Wahlmänner hinter sich hätten. Dann, so das Kalkül, läge der Wahlentscheid beim Repräsentantenhaus; und da dieses über eine solide republikanische Mehrheit verfügt, würde ein 'Mainstream-Republikaner' (der Anti-Trump!) zum Präsidenten ernannt." Tja, die Hoffnung stirbt zuletzt.
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Geschichte

Michael Stallknecht besuchte für die SZ ein "Historisches Quartett" in München, das historische Neuerscheinungen diskutiert und wo Gaststar Jürgen Kaube von der FAZ den Soziologen Harald Welzer als "James Last der Kritischen Theorie" bezeichnete. Ebenfalls in der SZ gratuliert Franziska Augstein dem Historiker Dan Diner zum Siebzigsten.
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Gesellschaft

Durch unkonventionelle Methoden - vor allem das intensive Studium kurzer Wörter - wurde Nigeria zum Topland für Scrabble-Meisterschaften auf Englisch, schreiben Drew Hinshaw und Joe Parkinson im Wall Street Journal: Im letzten November wurde Wellington Jighere Weltmeister im englischsprachigen Scrabble und schlug den Briten Lewis Mackay "in einem Sieg, der die Top-Meldungen in seinem Land einen Tag lang anführte. Es war die Krönung für eine Nation, die mehr Top-200-Scrabble-Spieler aufweist als jedes andere Land, inklusive Britannien, Nigeras einstiger Kolonialmacht... 'In anderen Ländern wird Scrabble als Spiel gesehen', sagt Jighere, der heute ein Talentscout für eines der wenigen von einer Regierung unterstützten nationalen Scrabble-Programme ist. 'Nigeria ist eines der Länder, in denen Scrabble als Sport gilt.'"
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Europa

Die Franzosen sind nach den Anschlägen 2015 toleranter geworden. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Commission nationale consultative des droits de l'homme (CNCDH) zum Kampf gegen Rassismus, Juden- und Fremdenfeindlichkeit, berichtet Marc Zitzmann in der NZZ. "Besonders deutlich zeigt sich das im Verhältnis zu den Muslimen. Der Anteil der Befragten, für die Islamanhänger mit französischem Pass Franzosen wie alle anderen sind, stieg im Vergleich zum Vorjahr um 10 Punkte auf 76 Prozent. Gar 79 Prozent (plus 11 Punkte) finden, man müsse Frankreichs Muslimen ermöglichen, ihren Glauben unter guten Bedingungen zu leben. Auf Ablehnung stoßen nach wie vor das Tragen von Ganzkörper- und Gesichtsschleier (93 bzw. 68 Prozent) sowie das Fastengebot während des Ramadanmonats (67 Prozent). ... Mit Ausnahme der Burka stieg die Toleranz bei allen zitierten Themen - um 7 bis 17 Punkte!"

250 britische Kulturschaffende, darunter Benedict Cumberbatch, Helena Bonham Carter und John Le Carré haben einen offenen Brief für den Verbleib in der EU unterschrieben, berichten Heather Stewart und Mark Brown im Guardian: "Britannien ist innerhalb Europas nicht nur stärker, sondern auch fantasiereicher und kreativer, und unser weltweiter Erfolg würde empfindlich geschwächt, wenn wir austreten."

Richard Herzinger kommentiert in der Welt Berichte, dass in der Ostukraine unter dem proputinistischen Regime massiv gefoltert wird: "In der deutschen Öffentlichkeit wächst unterdessen die Bereitschaft, die Sanktionen gegen Russland ohne entsprechende Gegenleistungen Moskaus aufzuheben. Dies aber käme der Absegnung nicht nur einer militärischen Aggression, sondern auch schwerster Menschenrechtsverletzungen mitten in Europa gleich." Im Dradio Kultur gibt es ein Feature zum Thema.

Thomas Steinfeld hat für die SZ die deutsch-dänische Grenze besucht, wo die deutsch-dänischen Kriege (anders als hierzulande) noch gut in Erinnerung sind und die Populisten Triumphe feiern: "Nirgendwo in Dänemark ist die Zustimmung zur Volkspartei (und damit die Gegnerschaft zu Europa) so groß wie im ebenso ländlichen wie armen Süden Jütlands, also unmittelbar jenseits der deutschen Grenze. Es ist beinahe wie im Frühjahr 1864: Man glaubt sich von zwei Seiten angegriffen, niedergemacht von der Großmacht im Süden, verraten von Kopenhagen."
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Überwachung

Chelsea Manning hat laut Jon Swaine im Guardian Berufung gegen ihre Gefängnisstrafe von 35 Jahren eingelegt und begründet dies damit, dass "ihre Gefängnisstrage extrem unfair und nie dagewesen" sei: "Die Anwälte von Manning beschreiben die Strafe als 'vielleicht die ungerechteste Strafe in der Geschichte der amerikanischen Militärjustiz. Sie sei als Hochverräterin charketerisiert worden, 'nichts könnte der Wahrheit weniger entsprechen.'"
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Stichwörter: Manning, Chelsea

Internet

Ja, Facebook ist tendenziös, dies aber nicht trotz, sondern wegen der Algorithmen, schreibt Zeynep Tufekci in der New York Times: "Algorithmen sind kein Durchbruch der Ingenieurstechnik, der unser Leben präziser macht. Algorithmen sind Milliarden halbintelligenter Frankensteins, mit enger aber tiefer Expertise für bestimmte Themen, die wir selbst nicht verstehen. Und sie spucken Antworten auf Fragen aus, die unmöglich nur duch Zahlen zu klären sind - alles unter dem Deckmantel von Objektivität und Wissenschaft."
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Medien

(Via turi2) Uwe Vorkötter, einst selber Chefredakteur der Berliner Zeitung, schildert bei Horizont bedeutende Verwerfungen am Berliner Zeitungsmarkt: Die Berliner Zeitung gibt ihr Domizil am Alexanderplatz auf und löst die Chefredakteurin Brigitte Fehrle ab (an deren Stelle Jochen Arntz tritt). Wichtiger noch: Die Berliner Zeitungen betreiben eine "Neuregelung der Berliner Marktverhältnisse. Daran arbeiten die drei großen Player auf dem Hauptstadt-Markt - neben DuMont die Funke-Gruppe mit der Berliner Morgenpost und Dieter von Holtzbrinck mit dem Tagesspiegel - seit einem Jahr intensiv. Ihr Plan: Sowohl auf dem Leser- als auch auf dem Anzeigenmarkt machen die Drei künftig gemeinsame Sache, um dem ruinösen Wettbewerb zu entkommen."
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