9punkt - Die Debattenrundschau

In der Heimlichkeit verschwunden

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2016. In der SZ erzählt Najem Wali, wie er seinerzeit die Konversion Muhammad Alis zum Islam wahrnahm. Nein, Christopher Hitchens ist auf seinem Sterbebett nicht zum Christentum konvertiert, versichert sein Sohn Alexander im Guardian. Die Welt blickt auf den Historikerstreit zurück, der sich dreißig Jahre danach als eine sehr deutsche Debatte ausnimmt. Deprimiert verfolgt Andrew Hill in Medium die Leave- und Remain-Kampagnen, in denen er nur zwei Schattierungen des Euroskeptizismus erblickt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.06.2016 finden Sie hier

Europa

Ziemlich deprimiert sieht sich Andrew Hill von der Financial Times, der schon vor zwanzig Jahren einen satirischen Roman über einen EU-Ausstieg Britanniens geschrieben hat, in Medium die Debatten um Brexit an: "Leider gibt es nicht sehr viele Beispiele dafür, was wir hätten erreichen können, wenn wir uns in den letzten vier Jahrzehnten ganzen Herzens mit der europäischen Mission identifziert hätten. Allzu oft standen britische Regierungen bei europäischen Projekten nur an der Seitenlinie, statt an Lösungen zu arbeiten. Selbst heute sind die Leave- und Remain-Kampagnen nur zwei Schattierungen des Euroskeptizismus."
Archiv: Europa
Stichwörter: Brexit, Remain-Kampagne

Geschichte

In der Welt erinnert Richard Herzinger an den Historikerstreit, der vor dreißig Jahren begann und der bis heute nachbebt: In den Äußerungen rechtsnationaler Politiker wie Gauland, der fordert, wieder Nationalstolz zeigen zu dürfen. Aber auch im Versagen der Historiker, die mit der Erforschung des Holocaust immer mit Blick auf die deutsche Schuld den europäischen Kontext viel zu lange ignoriert haben: "Jüngste Werke wie Timothy Snyders 'Bloodlands', das die osteuropäischen Erfahrungen im Klammergriff zwischen Sowjettotalitarismus und nationalsozialistischem Vernichtungskrieg in die Beschreibung der Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu integrieren versucht, haben deutlich gemacht, wie wenig diese Perspektive in die Betrachtungen deutscher Historiker eingingen. Mit einer gewissen Ratlosigkeit stehen sie daher heute dem Wiederaufleben nationaler Selbstheroisierung in der Geschichtspolitik verschiedener europäischer Länder gegenüber."
Archiv: Geschichte

Politik

In Ägypten ist ein 17-jähriges Mädchen an einer von einer Ärztin vorgenommen Genitalverstümmelung gestorben. Der Fall sorgt für neue Debatten in dem Land, wo dieser kulturelle Brauch an sich verboten ist, berichtet Karim El-Gawhary in der taz: "Sowohl muslimische als auch christliche junge Ägypterinnen werden zu Opfern. Die Religion ist dabei keineswegs ausschlaggebend. Paradoxerweise sind es oft die Mütter und Großmütter, die die Tradition weitertragen. Nur noch ein Drittel der selbst beschnittenen Mütter geben heute an, ihre Töchter die gleiche Prozedur durchleiden zu lassen. Aber mit der Illegalisierung ist die Genitalverstümmelung auch in der Heimlichkeit verschwunden."
Archiv: Politik

Religion

Christopher Hitchens schafft es auch nach seinem Tod noch, Kontroversen auszulösen. Guardian-Autor Nick Cohen hätte Larry Alex Tauntons Buch "The Faith of Christopher Hitchens" über einen angeblichen Übertritt des sterbenden Atheisten zum Christentum links liegen lassen, wenn nicht die "angeblich seriöse" Times und die BBC positiv über das Buch berichtet hätten. So holte er das Statement von Hitchens' Sohn Alexander ein: "Ich verbrachte die letzten Wochen und Tage an seinem Krankenbett und sah, wie er den letzten Atemzug tat und starb, und ich kann Ihnen versichern, dass da nicht die Spur irgendeiner Konversion war (wie Sie bestimmt schon geraten hatten). Wir sprachen kaum über Religion, außer um unserer Frustration über Frömmler Ausdruck zu geben, die auf den Krankenhausgängen herumliefen und nach Sterbenden Ausschau hielten, für die gierige Christen noch beten könnten."
Archiv: Religion

Überwachung

Der Internetaktivist Jacob Appelbaum ist wegen Vorwürfen sexueller Belästigung nicht mehr Angestellter des Verschlüsselungsdienstes Tor, berichtet Patrick Beuth bei Zeit online. Auf einer Internetseite seien "mehrere Berichte veröffentlicht worden, in denen die anonymen Verfasser Appelbaum beschuldigen, sie sexuell genötigt, gedemütigt und manipuliert zu haben. Zwei Personen berichten, Appelbaum habe gegen ihren Willen sexuelle Handlungen an ihnen vorgenommen, als sie schliefen beziehungsweise bewusstlos waren. Alle bisher veröffentlichten Berichte legen nahe, dass die Verfasser sehr enge, oft auch intime Beziehungen zu Appelbaum hatten." Ob Strafanzeige erstattet wurde, sei unbekannt. Golem.de berichtet, dass Appelbaum für Nachfragen nicht erreichbar gewesen sei.
Archiv: Überwachung

Gesellschaft

In der SZ schreibt Najem Wali über Muhammed Alis Konversion zum Islam: "Damals, als er Muslim wurde, war er für uns ein Symbol für Rebellion, nicht für Religiosität, nicht für Loyalität zu einer religiösen Gemeinschaft, sondern für Loyalität zur rebellierenden Gemeinde. Clay hatte Wehrdienstverweigerern auf der ganzen Welt Mut gemacht."

In der NZZ beschreibt Joyce Carol Oates die Bedeutung, die Ali auch für die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA hatte: "Rasse ist seit langem ein amerikanisches Tabuthema. Ali, darauf versessen, sich als Rebell in einer von Weißen beherrschten Gesellschaft zu definieren, machte jede öffentliche Geste zu einer Aussage über den Rassenkonflikt: Widerstand gegen das weiße Establishment, Solidarität mit den Schwarzen. In einem Playboy-Interview vom November 1975 sagte Ali, gemäß der Lehre des verstorbenen Elijah Muhammad, des Gründers der Nation of Islam, halte er die Mehrheit der Weißen für Teufel und hoffe auf eine Abspaltung vom weißen Amerika: 'Wir sind erst frei, wenn wir vielleicht zehn Staaten übernommen haben.'"

In der Welt erinnert Clemens Meyer auch an Ali in seinen hässlichsten Momenten, wenn er andere schwarze Boxer wie Joe Frazier (Uncle Tom) oder Sony Liston beschimpfte: "Ali, damals noch Clay, beschimpfte Liston als hässlichen Bären, immer wieder nannte er ihn 'ugly'. Verfolgte ihn, stalkte ihn regelrecht, immer laut schreiend, immer provozierend, meist beleidigend. Man verzieh ihm das, wie man einem großen Kind verzeiht, Ali pöbelte irgendwie immer mit Charme. Liston starb 1970 einsam und vergessen an einer Überdosis Heroin."
Archiv: Gesellschaft