9punkt - Die Debattenrundschau

Wegen seiner Kultur, der Aufklärung und Voltaire

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2016. In der FR erklärt Gilles Kepel, warum der Dschihad gerade in Frankreich und auf Arabisch geführt wird. In der taz erklärt der Schriftsteller Hector Abad, warum er optimistisch sein muss, wenn es um den Frieden in Kolumbien geht. In der FAZ bekommt WDR-Reporter Hajo Seppelt Besuch vom russischen Staatsfernsehen. Der Guardian und die Welt fragen: Was ist schlimmer: Brexit oder Trump?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.06.2016 finden Sie hier

Europa

Im FR-Interview mit Stefan Brändle erklärt der französische Islamforscher Gilles Kepel, warum der aktuelle Dschihadismus besonders in Frankreichs Banlieue gedeiht: "Der Dschihad wird auf Arabisch geführt, mit einer starken arabischen Solidarität, weshalb die türkische Immigration in Deutschland oder die indopakistanische in England weniger betroffen sind. In Frankreich ist die dritte Einwanderergeneration zwar weitgehend 'entarabisiert' Psychologisch fragile Jugendliche verspüren aber gerade deshalb ein Gefühl der Schande und des Hasses, weil sie ihre Herkunft verraten hätten. Um dieses Schuldgefühl abzubauen, lassen sie sich indoktrinieren und teilweise gar zum Märtyrertod verleiten... Frankreich wird von den Salafisten auch wegen seiner Kultur, der Aufklärung und Voltaire verabscheut. Der algerische Islamist Ali Ben Hadj meinte vor Jahren schon, man müsse diejenigen eliminieren, welche die 'giftige Milch Frankreichs' getrunken hätten."

Auf Slate.fr berichtet Bethany Allen-Ebrahimian unterdessen, dass jetzt auch China in den rasant wachsenden Markt mit Halal-Lebensmittel einsteigen will.
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Politik

Im taz-Interview mit Eva-Christina spricht der Schriftsteller Hector Abad über die Jahrzehnte der Gewalt in Kolumbien, die Ermordung seines Vaters durch Paramilitärs und die Hoffnung auf ein Ende des Bürgerkriegs: "Ich habe die Verpflichtung, optimistisch zu sein und Optimus in meinem Land zu verbreiten - vor allem, weil eine Bewegung innerhalb der extremen Rechten in Kolumbien den Verhandlungen und einem Friedensvertrag absolut feindlich gegenübersteht. Im Jahr 1985 wäre es schon einmal fast zu einer Einigung mit der Guerilla gekommen. Doch die extreme Rechte hat die Partei der Linken, die der Farc nahestehende UP, vernichtet. Das Land verfiel wieder in die alte Kriegslogik. Es folgten weitere dreißig Jahre mit Entführungen, Massakern, Verschwundenen und Toten. Nun sind wir erneut an einem Scheideweg."

In der Welt porträtiert Andrea Seibel den konservativen Historiker Niall Ferguson, der zwar für den Brexit ist, aber einen ganz anderen Abschied fürchtet: "Am Ende würde Großbritannien den Status von Norwegen haben. Mächtig machtlos. Das sei nicht schlecht, aber auch nicht gut. Jedenfalls nicht das Ende der Welt. Viel mehr beunruhigt ihn Donald Trump. Würde dieser Präsident der Amerikaner werden, dann läge die größte Macht der Welt in den Händen eines Mannes, der keinen Charakter und keine Integrität habe. 'Man kann ihm und Amerika nicht mehr trauen. Das ist viel beunruhigender als der Brexit.'"

Im Guardian sieht das Jonathan Freedland genau andersrum: "Trump als Präsident wäre eine nationale und internationale Peinlichkeit, aber es gäbe die Chance, sie nach vier Jahren zu beenden. Und die amerikanische Republik hat starke, lange etablierte Stützen - den Senat, den Obersten Gerichtshof -, die den Reality-TV-Star in die Schranken weisen. Es wäre ein Albtraum, kein Zweifel, doch ein Ende wäre absehbar."

Weiteres: Der Tagesspiegel meldet, dass sich Berlin in seiner Schlurfigkeit noch selbst übertreffen kann: Angesichts der überlasteten Bürgerämter und nicht funktionierender Software fürchtet die Landeswahlleiterin um die Durchführbarkeit der Wahlen im Herbst. Thomas Steinfeld berichtet in der SZ von einer Ausstellung im Museo di Salò, die den Kult um den Duce eher fortführt, als ihn kritisch zu beleuchten.
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Medien

Mit seinen Doping-Recherchen hat sich WDR-Sportreporter Hajo Seppelt den Zorn des Kreml auf sich gezogen, der ihm prompt das russische Staatsfernsehen mit einer besonders impertinenten Interviewerin auf den Hals hetzte. In der FAZ beschreiben Friedrich Schmidt und Michael Hanfeld wie es während des Interviews zum absehbaren Eklat kam. Selbst Schuld, meint dagegen in der FR Christian Esch: "Wer sich mit dem russischen Staatsfernsehen trifft, der weiß ja, was ihn erwartet. Olga Skabejewa, die junge Interviewerin, ist nicht für ihre Sportkompetenz bekannt, sondern vor allem für ihre schneidend metallische Stimme, mit der sie schon 2013 giftig über Oppositionsdemos berichtete."

Auf Slate.com erklärt Jordan Weissman, warum Gawker in seiner titanischen Auseinandersetzung mit Hulk Hogan und dem noch gruseligeren Milliardär Peter Thiel Gläubigerschutz beantragte: "Entering bankruptcy automatically halts the collection of any legal judgments against a company. That means Gawker Media can now appeal the privacy case without worrying about Hogan swooping in to try and seize its assets."
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Gesellschaft

Reinhard Seiß ahnt in der FAZ zwar, dass sich Wien bei der Entwicklung der Seestadt Aspern aus einer gewissen Not heraus etwas Mühe geben musste, weiß das Ergebnis aber trotzdem zu schätzen: "Hier wurde nach langer Zeit wieder einmal Städtebau statt bloß Siedlungsbau betrieben. So sind die Hauptstraßen keine unwirtlichen Verkehrsschneisen, sondern das stadträumliche und kommerzielle Rückgrat der Seestadt - allen voran die Maria-Tusch-Straße: Der vorstädtische Boulevard bietet auch Autos Platz, ist vor allem aber ein urbaner Freiraum mit Aufenthaltsqualität. Zu beiden Seiten werden die großzügigen Erdgeschosse von Händlern, Dienstleistern und Gastronomen genutzt, und das in einer für Wiens Neubaugebiete unüblichen Vielfalt."

Weiteres: In der NZZ besucht Andrea Köhler den Serenity Park in Los Angeles, wo Kriegsveteranen und verwaiste Papageien einander helfen sollen.
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Stichwörter: Aspern, Städtebau, Wien, Neubaugebiete