9punkt - Die Debattenrundschau

Früher waren doch die Polen die Romantiker

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2016. Schwulenhass junger Männer kommt nicht selten aus uneingestandener Homosexualität, meint Jan Feddersen in der taz. Im Standard macht sich Philosoph Franco Berardi über nihilistische Verzweiflungstäter der Gegenwart Gedanken. Der Krieg zwischen Gawker und Peter Thiel geht laut Gawker weiter: Diesmal rauft man sich Donald Trumps Haar. Und die FAZ  freut sich mit ARD und ZDF und siebzehn Auszubildenden bei der GEZ: "Auf exakt 8.131.285.001,97 Euro belaufen sich die Einnahmen aus dem Rundfunkbeitrag im Jahr 2015."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2016 finden Sie hier

Gesellschaft

Jan Feddersen denkt in der taz über die Information nach, dass Omar Mateen, der Attentäter von Orlando, ein eifriger Besucher des Schwulenclubs war, in dem er dann ein Massaker anrichtete: "Insofern ist das, was der offenbar psychisch dissoziiert handelnde Mörder Omar Mateen repräsentierte, kein muslimisches Problem allein. In den USA - und anderen Teilen der Welt wie Osteuropa - laufen ganze Armeen an tötungswilligen Männern herum, die sich nicht anfreunden wollen mit Leben im nichtheterosexuellen Kontext. Denn, das können Heterosexuelle gleich welchen Geschlechts nicht ermessen (auch weil sie es nicht wollen): Es kostet krasse Energie, sich als Einzelner den durchweg heteronormativen Wünschen seiner Umgebung zu verweigern. Immerhin gelingt das Abermillionen, seit die Zeiten vor allem in rechtsstaatlich-demokratischen Ländern libertärer geworden sind."

Homoerotische Literatur hat im muslimischen Raum eine große Tradition, schreibt Fabian Köhler bei Telepolis an die Adresse der Ignoranten aus der Dschihadistenszene und zitiert den Dichter Abu Nuwas aus dem 9. Jahrhundert: "Im Bade wird dir das sonst durch die Hosen Verborgene sichtbar. Auf zum Betrachten! Gucke mit nicht abgelenkten Augen! Du siehst einen Hintern, der einen Rücken von äußerster Schlankheit in den Schatten stellt. Sie flüstern sich gegenseitig: 'Gott ist groß' und 'Es gibt keinen Gott außer Allah' zu."

Der italienische Philosoph Franco Berardi hat gerade ein Buch über nihilistische Verzweiflungstäter der Gegenwart veröffentlicht, "Helden. Über Massenmord und Suizid". Als nihilistischen Amokläufer würde er auch Omar Mateen beschreiben, den Attentäter von Orlando, sagt er im Interview mit dem Standard. "Man kann bereits von einem globalen Bürgerkrieg sprechen. Omar Mateen ist ein suizidaler Krimineller, der andere mit sich reißt. Man findet zwar religiöse Spuren in seinen Taten, aber die tiefere Bedeutung ist nicht religiöser Art. Es ist eine Explosion von Hass, der sich auch gegen sich selbst richtet. Nur einen Tag davor kämpften russische Fußballfans in Marseille gegen britische. Was bedeutet das? Es ist, als würde der Verlust von sozialer Identität diese Obsession hervorbringen, die nach aggressiver Identifizierung verlangt." Am Ende ist wie stets der Kapitalismus schuld, meint Berardi.

Klar hat die Babyboomer-Generation abgesahnt, meint der NDR-Reporter Christoph Lütgert in einer Zeit-Debatte über die Frage, ob die heute Jungen die Opfer der ehemals Jungen seien: "Als meine Generation jung war, boten sich über die Jahre immer neue attraktive Chancen. Gefiel es mir im alten Job nicht mehr, konnte ich jederzeit gehen. Jedes Angebot war besser dotiert als der Vertrag, den man bis dahin hatte. 'Aufstiegsperspektiven reichen Ihnen nicht? Bei uns kriegen Sie das Doppelte!' Für meine Generation hieß es: Was kostet die Welt? Und sie durfte was kosten."
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Geschichte

Die Historiker Dorothea Weltecke, Boris Barth und Dominik Giesen machen in der FAZ darauf aufmerksam, dass bei den ethnischen Säuberungen in der Türkei vor hundert Jahren nicht nur Armenier, sondern auch viele andere Christen Opfer waren: "Hierzu gehören neben den aramäischen Christen (heute Aramäer, Assyrer, Chaldäer) auch mehrere hunderttausend griechische Zivilisten, die ebenfalls mit erheblicher Gewalt aus ihren angestammten Wohngebieten deportiert und im Inneren Anatoliens und hinter der Front zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Zu diesen Aspekten des Ersten Weltkrieges existiert fast keine seriöse Forschung."
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Kulturpolitik

Der scheidende Frankfurter Kulturdezernent und CDU-Politiker Felix Semmelroth spricht sich im Interview mit Claus-Jürgen Göpfert und Christian Thomas von der FR gegen die von SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann gebrauchte Metapher von der Kultur als "Schmiermittel der Sozialpolitik" aus: "Es ist nicht nur eine Funktionalisierung der Kultur. Die Kultur und die Kulturpolitik werden zur Magd gemacht. Das bedeutet eine Verachtung gegenüber allen ästhetischen wie intellektuellen Manifestationen. Denken Sie an die Römerberggespräche. Die sind nicht massenkompatibel. Aber sehr wirksam."
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Medien

Der Krieg zwischen Peter Thiel und Gawker geht in eine neue Runde - so sieht es zumindest Gawker-Autor J.K. Trotter. Gerauft wird diesmal um Donald Trumps Haar, über das Gawker eine lange und weithin gefeierte Recherche vorgelegt hatte - angeblich handelt es sich um eine 60.000-Dollar-Kunstfrisur einer Firma namens Ivari. Thiels Anwalt Charles J. Harder hat Gawker als Vertreter von Ivari einen Brief geschickt, der beklagt, dass die Gawker-Geschichte "falsch und diffamierend" sei: "Harder fordert unter anderem, dass Gawker die Geschichte sofort zurückzieht, dass Gawker sich öffentlich entschuldigt, dass 'alle physischen und elektronischen Dokumente und Daten in Ihrem Besitz' erhalten bleiben, und vor allem, dass wir unsere Quellen offenlegen. 'Wir fordern insbesondere, dass Gawker Media und seine Angestellten uns sofort den Namen und die Kontaktdaten des Informanten für diese Geschichte preisgeben, so dass wir dieser Person ebenfalls eine Unterlassungsaufforderung zusenden können.'" Inwieweit Harder auf Anweisung Thiels handelt, ist laut Trotter allerdings unklar - weil Thiel zwar zugegeben hat, Klagen Dritter gegen Gawker zu finanzieren, aber nicht, hinter welchen Klagen er genau steht.

Den öffentlich-rechtlichen Anstalten geht es weiter gut, freut sich Michael Hanfeld in der FAZ: "Auf exakt 8.131.285.001,97 Euro belaufen sich die Einnahmen aus dem Rundfunkbeitrag im Jahr 2015. Diese Zahl hat jetzt der 'Beitragsservice' der öffentlich-rechtlichen Sender vorgestellt. Von 44.661.473 Konten wurde der Beitrag eingezogen. Gekostet hat der GEZ-Service 171.271.010,88 Euro. Damit befasst waren 1046 'Mitarbeiterkapazitäten' und siebzehn Auszubildende."
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Europa

Justizminister Heiko Maas hat gestern gegenüber der Bild erklärt, dass Mehrfach- und Zwangsehen in Deutschland auf keinen Fall geduldet werden könnten. Katharina Schuler klärt in der Zeit auf, dass polygame Ehen staatlich zwar nicht anerkannt werden, aber durchaus rechtliche Folgen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Witwenrente, haben können. Außerdem könne nicht kontrolliert werden, wer tatsächlich in polygamen Beziehungen nach islamischem Recht lebe, da die muslimischen Imame nicht verpflichtet seien, den Familienstand zu überprüfen. "Die Frauenhilfsorganisation Terres des Femmes fordert ..., das Personenstandsgesetz wieder dahingehend zu ändern, dass die standesamtliche Trauung der religiösen vorausgehen muss, wie es bis 2009 war. Dann könnte jeder Geistliche zumindest einfach überprüfen, ob bereits eine staatlich geschlossene Ehe besteht."

"Die werden es nicht mögen", sagt die norwegische Premieriministerin Erna Solberg zu Politico.eu über die Briten und die EU - und macht deutlich, dass sie den Briten empfiehlt, in der Union zu bleiben. Anca Gurzu erläutert hierzu: "Norwegen erhält zwar Zugang zum internen Markt... Das heißt, dass Waren, Dienstleistungen und Arbeit zwischen Norwegen und der EU frei fließen. Im Gegenzug muss Norwegen allerdings eine große Zahl von EU-Gesetzen respektieren, ohne mitbestimmen zu können, wie sie formuliert werden. Norwegen muss pro Kopf auch etwa so viel ins EU-Budget einzahlen wie die Briten, sagt der Think Tank OpenEurope, der sich in der Frage als neutral deklariert."

Auch die britische Musikindustrie ist von der Perspektive eines Brexit nicht gerade begeistert, berichtet Paul Dallison ebenfalls in politico.eu.

In der Welt fürchtet der ehemalige Außenminister Polens und Großbritannien-Freund Radoslaw Sikorski den drohenden Brexit und fragt sich, was die Briten dazu bewogen hat, ihre ursprüngliche Sachlichkeit gegen politische Schwärmerei auszutauschen. "Es wundert mich, wenn britische Freunde mir sagen: 'Weißt du, vielleicht hast du recht, aber ich werde mit dem Herzen abstimmen und nicht mit dem Verstand.' Haben Polen und Briten in Europa die Rollen getauscht? Früher waren doch die Polen die Romantiker und die Briten die Pragmatiker; heute scheint es umgekehrt zu sein. Ich kann davor nur warnen: Für politische Romantik zahlt man oft einen sehr hohen Preis."
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