9punkt - Die Debattenrundschau

Mobil frisst Digital

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2016. Auch der britischen Kulturwelt würde ein Brexit schaden, meint Kurator Chris Dercon bei sueddeutsche.de. Netzpolitik und Atlantic  zitieren neue Studien, die den immer größeren Einfluss der mobilen Internetnutzung der sozialen Medien belegen. Facebook nimmt in den USA bald so viel mit Werbung ein wie die GEZ in Deutschland durch Eintreiben von Gebühren - das lohnt sich, erfährt die FAZ bei einem Besuch. Patienten, die ihr Leiden beenden wollen, bleibt nach der Verschärfung des Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs immerhin noch der FVNF, hat die taz herausgefunden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2016 finden Sie hier

Europa

Auch der britischen Kulturwelt würde ein Brexit schaden, meint der Kurator Chris Dercon im Gespräch mit Carolin Gasteiger bei sueddeutsche.de. Mit Sympathie spricht er von Wolfgang Tillmans' Plakatkampagne für ein "Remain": "Wolfgangs Position ist klar: Es gibt viele, vor allem junge Leute, die sich europäisch fühlen und für die Europa ganz normal ist. David Chipperfield (britischer Architekt und ebenfalls Brexit-Gegner, Anm. d. Red.) und Tillmans sind zugleich Botschafter Großbritanniens in Europa und europäische Botschafter in Großbritannien. Damit sind sie die Ausnahme, denn viele namhafte britische Stars, auch viele aus der Popkultur, interessieren sich nicht für Europa."

Wie ist es möglich, dass eine Idee aus der "Tundra der Irrelevanz" es in den Mainstream schafft, fragt sich im Guardian ein entgeisterter Matthew d'Ancona angesichts der großen Zahl der Brexit-Befürworter. In einem hintergründigen Artikel skizziert er die Entwicklung, die vor 22 Jahren mit dem Cameron-Mentor Norman Lamont begann und bis heute ständig Fahrt aufnahm. Drei wesentliche Gründe schält er heraus: die Hoffnung auf Stopp der Einwanderung, eine intellektuelle Konterrevolution zum EU-begeisterten Blair und eine Botschaft, die - zumindest vordergründig - plötzlich ungeheuer modern klingt, wie d'Ancona aus den Erklärungen unter anderem der Abgeordneten und Brexit-Befürworter Daniel Hannan (Torys) und Douglas Carswell (Ukip) heraushört: "Statt die EU mit reaktionären Argumenten zu bekämpfen, erklärten Hannan und Carswell sie für nicht modern genug. Im 21. Jahrhundert, während Technologie unsere Art zu leben verändert, behaupteten sie, dass Wähler Regionalisierung und Dezentralisierung, Zurechenbarkeit und Transparenz fordern würden. Vor diesem politischen und kulturellen Hintergrund sah die EU hoffnungslos altmodisch aus."

Ebenfalls im Guardian nimmt ein Editorial die groteske anti-Elite-Kampagne der Brexit-Befürworter aufs Korn: Deren Anführer gehören nämlich zu einem großen Teil selbst zur Elite, dem superreichen britischen Adel nämlich.

Zeit-Autorin Ingeborg Harms trifft in London den "vollendeten Gentleman" und ehemaligen Merkur-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer, für den im Gebaren der Brexit-Anhänger der Geist des Churchillschen Widerstands nachzittert: "Das ist alles ins Unterbewusstsein eingesunken. So denkt die Oberschicht heute noch, selbst wenn sie liberal ist und Europa liebt, auch wenn sie es nie sagen würde. Abgesehen von Walther von der Vogelweide findet man nichts dergleichen in Deutschland." Abgesehen vom ästhetischen Reiz ist Bohrer am Ende dann doch ein Brexit-Gegner.
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Politik

Jeffrey Goldberg , Autor des riesigen Atlantic-Artikels über das Wesen von Barack Obamas Außenpolitik ("The Obama doctrine") schreibt ebendort über das oft als defensiv kritisierte Verhältnis Obamas zum Islamismus: "In meiner Lesart macht sich Obama keine Illusionen über die Pathologien der muslimischen Welt . Aber sein Pessimismus über die Dysfunktionalitäten der muslimischen Staaten und die Unfähigkeit der Umma - der weltweiten muslimischen Gemeinde -, extremistische Elemente zu begrenzen und zu bekämpfen, hat eine geradezu paralysierende Wirkung auf ihn."
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Medien

Ingo Dachwitz hat für Netzpolitik den "Digital News Report" (PDF) der Agentur Reuters gelesen, die den immer größeren Einfluss der mobilen Internetnutzung und der sozialen Medien belegt: "Innereuropäisch ist die Situation hochgradig divers, sodass man mit Verallgemeinerungen aufpassen sollte. Einige Trends lassen sich aber ablesen: Neben der immer wichtigeren Rolle von Sozialen Medien für die Verbreitung von Nachrichten wird auch die jüngste Entwicklung, dass Nachrichten direkt auf den Plattformen gepostet werden - etwa im Form von Instant Articles bei Facebook - thematisiert. Dazu liefert die Studie leider noch keine konkreten Zahlen, wohl aber verweist sie anhand qualitativer Forschung auf die zunehmende Bedeutung dieses Phänomens."

Und Derek Thompson liest für den Atlantic noch eine Studie, den "State of the News Media report" des Pew Research Center (mehr hier). "In einem Satz: Digital frisst traditionelle Medien, Mobil frisst Digital, und zwei Firmen, Facebook und Google, fressen Mobil." Auch Adrienne Lafrance liest diesen Bericht in Atlantic und zitiert eine umwerfende Zahl: Facebook nimmt inzwischen in den USA 30 Prozent des gesamten Online-Werbebudgets ein, insgesamt 8 Milliarden Dollar.

Oliver Jungen war für die FAZ auf Stippvisite bei der GEZ in Köln, ein Moloch, der die Milliarden ganz anders eintreibt: "Allein im Jahr 2015 ist es schließlich zu 25,4 Millionen Mahnmaßnahmen gekommen, davon 1,4 Millionen Vollstreckungsersuche... Auch wenn es eine kleine Ausfallquote gebe, hieß es bei der Vorstellung des Jahresberichts, seien die etwa achtzig Millionen Euro für Vollstreckungsverfahren gut angelegt, weil sie Einnahmen von 650 Millionen Euro generierten."
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Ideen

Paul Ingendaay hat für die FAZ eine Konferenz über den Romanisten Hans Robert Jauß verfolgt, der jahrzehntelang eine Koryphäe der bundesdeutschen Geisteswissenschaften war, bis sich - natürlich ganz am Ende - herausstellte, dass er Kommandant einer üblen SS-Einheit gewesen war. Und Jauß' Verstrickung war laut einer von der Uni Konstanz in Auftrag gegebenen Studie (hier als pdf-Dokument) eindeutig: "Der Potsdamer Historiker Jens Westemeier kommt darin zu einem klaren Ergebnis. Jauß sei kein Mitläufer gewesen, sondern habe eine 'stimmige SS-Karriere' absolviert und belastende Punkte seiner Biografie vertuscht, darunter auch einen SS-Einsatz in Kroatien. Sein Bataillon sei unter anderem im Partisanenkrieg eingesetzt gewesen, habe dort sogenannte 'Sühnemaßnahmen' durchgeführt - im Klartext: Menschen liquidiert - und Kriegsverbrechen begangen. Als Kompanieführer, so Westemeier, habe Jauß dafür Mitverantwortung getragen. " Ingendaay verweist zum Thema auf einen Artikel des Romanisten Albrecht Buschmann im Tagesspiegel.

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Gesellschaft

"Durch die Neufassung des Paragrafen 217 des Strafge­setzbuchs Ende 2015, der die 'geschäftsmäßige', also die 'wiederholte' Beihilfe zum Suizid verbietet, sind die Wege zu einem selbstbestimmten Sterben in der Bundesrepublik noch etwas komplizierter geworden als bisher", konstatiert Christian Walther in der taz trocken (er hätte ja nochmal den Kirchen danken können!) Er empfiehlt Patienten, die ihr Leiden beenden wollen, das "Sterbefasten, auch FVNF, 'Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit', genannt". Aber seltsam: "Viele können sich mit Sterbefasten nicht anfreunden und wünschen sich einen Tod, der innerhalb von Minuten statt Tagen eintritt - man möchte einfach rasch und für immer einschlafen, etwa durch die Einnahme des Medikaments Natrium-Pentobarbital. Da dieses in Deutschland legal nicht erhältlich ist, reisen etliche zum Sterben in die Schweiz - sofern sie sich das leisten können, denn das Ganze kostet einige Tausend Euro." Konsumismus bis zum letzten!

In der NZZ warnt Philipp Theison vor der Humanisierung von Maschinen, da diese umgekehrt zu einer Robotisierung des Menschen führte. Science-Fiction-Erzählungen hätten das immer wieder thematisiert: "In den Augen der künstlichen Intelligenz, die der Mensch damit beauftragt hat, ihm die beste aller möglichen Welten zu bauen, erweist sich der Mensch selbst just als der Faktor, welcher der Erfüllung dieses Auftrags im Wege steht. Folglich muss er beseitigt werden."

Ist Berlin ein "Failed State"? Jens Bisky sieht die Stadt in der SZ durchaus differenziert, würdigt ihre gelassene Atmosphäre und Aufnahmefähigkeit, aber er antwortet am Ende eher mit Ja: "Selbstverständlich leidet Berlin bis heute unter Teilungsfolgen und der Misswirtschaft der Neunzigerjahre. Aber das erklärt nicht die Currywurstigkeit, mit der Probleme ständig hergeleitet und beschworen statt gelöst werden. Es erklärt nicht, warum die Opposition den Senat mit allen Skandalen - vom Milliardengrab BER bis zur demolierten Friedrichswerderschen Kirche - durchkommen lässt."
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Religion

Und dann noch dies:

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