9punkt - Die Debattenrundschau

Wo einst Schwerindustrie war

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2016. Ein gespaltenes Land spaltet Europa. Es ist eine soziale Spaltung, schreibt der Guardian: Es sind traditionelle Labour-Wähler, die den Ausschlag für das Brexit-Votum gaben. Und es sind die älteren Wähler, die den Ausschlag gaben, sagt der Telegraph-Redakteur Ben Riley-Smith: Denn die Jungen wählten zu 75 Prozent Remain. Und es könnte zu weiteren Spaltungen kommen, etwa zu einem nordirischen Referendum für ein Vereinigtes Irland. Und doch ist das Votum für Brexit auch Ausdruck eine weltweiten Symptomatik, schreibt Daniel Vernet in Salte.fr - denn in allen Ländern gibt es jene, die sich als "Ausgeschlossene der Globalisierung" fühlen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.06.2016 finden Sie hier

Europa

"The UK has voted by 52% to 48% to leave the European Union after 43 years in an historic referendum, a BBC forecast suggests." So trocken klingt die Schlagzeile des Senders an diesem historischen Tag. Hundertprozentig ausgemacht ist der Sieg der Brexit-Befürworter heute morgen um sieben Uhr noch nicht. Bei der BBC kann man die Auszählung live verfolgen. David Cameron hat seinen Rücktritt erklärt, meldet (wie alle anderen Medien) der Telegraph.



"Now it's our turn": Screenshot von guardian.co.uk mit triumphierendem Nigel Farage.

Das Land ist gespalten, betont Rafael Behr in einem ersten Kommentar für den Guardian. Verschiedene Buchlinien offenbaren sich, etwa die zwischen London oder Schottland einerseits, die für Remain waren, und weiten Landstrichen, die sich von den Eliten allein gelassen fühlten: "Zurecht oder nicht haben offenbar Millionen Menschen, viele von ihnen an Orten, wo einst Schwerindustrie war, beschlossen, dass es lohnt, das Risiko einzugehen, dass die Gegenwart nicht so rosig ist, als dass man nicht nach etwas anderem stochern kann - wie auch immer es aussieht."

Jonathan Feedland fürchtet ebenfalls im Guardian um die britische Außenwirkung - auch ökonomisch: "Jahrzehntelang sah man uns als ein tolles Land, um hier zu investieren, hinzuziehen oder es auch nur zu besuchen, denn wir waren die englischsprachige Toreinfahrt zu den 27 Nationen der Europäischen Union. Wir hatten sozusagen das Beste zweier Welten, standen den Vereinigten Staaten nahe und dem europäischen Kontinent."

Neben der Tatsache, dass tradionelle Labour-Wähler in den Midlands für Brexit stimmten und damit den Ausschlag gaben, macht der Telegraph-Redakteur Ben Riley-Smith auf eine weitere Spaltung aufmerksam:


Geradezu tragisch liest sich, was laut BBC der Liberaldemokrat Tim Farron sagt: "Ich bin zornig über jeden konservativen Abgeordneten, jeden konservativen Minister, der über die letzten zwanzig Jahre die Europäische Union aus billigem politischen Kalkül diffamierte und dabei wusste, dass es in unserem Interesse lag, in Europa zu sein. Und dann kommt ein Referendum, das vielleicht vor sechs Wochen so richtig loslegte. Und sie konnten nicht mehr zurückrudern, sie hatten ein Misstrauen in die europäischen Institutionen geschaffen, die so sehr in unserem Interesse lagen, so sehr im Interesse jedes arbeitenden Menschen in diesem ganzen Land."

Der Guardian benennt einen weiteren bisher kaum wahrgenommenen Aspekt: "Die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, sollte zu einem nordirischen Referendum für ein Vereinigtes Irland führen, sagte der Sinn-Fein-Politiker Martin McGuinness, Deputy First Minister von Nordirland."

Und dann natürlich Schottland:

Das britische Votum ist Ausdruck einer weltweiten Symptomatik, schreibt Daniel Vernet in Slate.fr: "Die westlichen Demokratien sind in Europa wie den Vereinigten Staaten neuen Spaltungen ausgesetzt oder auch alten Spaltungen, die neue Formen annehmen - sozialer, identitärer, nationaler, ethnischer Art... Ganze Bevölkerungsteile fühlen sich bedroht, deklassiert, von Politikern ignoriert. Diskurse über die 'Vorteile der Globalisierung', als deren Ausgeschlossene sie sich wahrnehmen, verstärken nur ihr Gefühl der Entfremdung."

Die Entscheidung für den Brexit ist nicht nur eine Entscheidung gegen die EU, glaubt Patrick Bernau auf faz.net. "Tatsächlich verbreitet sich in den Staaten des Westens ein ungutes Misstrauen zwischen den Eliten und großen Teilen der Bevölkerung. Das betrifft nicht nur die Eliten, die Macht und Geld haben. Es betrifft auch die Wissens-Eliten. Großbritanniens EU-Freunde und -Gegner unterschied nicht nur das Alter und der Bildungsstand, sondern auch die fundamentale Einstellung gegenüber Experten: Die EU-Gegner misstrauen Experten, mehr als zwei Drittel von ihnen finden den Mann auf der Straße und den 'gesunden Menschenverstand' überzeugender. Das Missverständnis ist so tief, dass umgekehrt die Meinungsforscher die Stimmung der Briten auch in den letzten Umfragen nicht richtig greifen konnten."

Für die Briten ist der Brexit eine Katastrophe, für die EU auch, ganz besonders aber für Deutschland, fürchtet Stefan Kornelius auf SZ online. Denn Ängste vor einer deutschen Dominanz werden jetzt noch größer: "Wichtig ist, dass sich Deutschland und Frankreich zusammentun in einem Signal der Kontinuität. Osteuropa will sicherheitspolitischen Rückhalt, der Süden braucht ökonomische Hilfe. Deutschland muss jetzt geben, wenn es nicht alles verlieren will. Anders als offenbar in Großbritannien war die EU für Deutschland immer eine historische Notwendigkeit. So sehr die Enttäuschung über die geschichtsfremde britische Entscheidung nun sein mag, sie sollte nicht verdecken, dass die Gemeinschaft der Staaten Europa stark und sicher gemacht hat."

Anderes wittern bereits neue Perspektiven:
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Ideen

Lässt sich politischer Frieden in der Mitte durch großzügige Sozialpolitik erkaufen? Eher nicht, meint in der SZ der Politologe Herfried Münkler. Geschwächt wird die Mitte vor allem durch einen Verfall der politischen Kultur, die in Debatten nur noch die schärfsten Thesen prämiert oder sich "alternativlos" gibt: "Eine Entscheidung kann 'alternativlos' sein, aber sie ist das nicht qua Dekret der Kanzlerin, sondern erst nach einer langen diskursiven Prüfung, und wenn aus dem Kanzleramt verlautet, dass 'wir das schaffen', dann in Verbindung mit Vorschlägen, 'wie wir das schaffen'. Die politische Mitte muss sich auf das zurückbesinnen, was sie ausmacht und was sie von den Rändern des Parteienspektrums unterscheidet."
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Kulturmarkt

Der Berlin Verlag - der immerhin Péter Esterházy und Petér Nádas, Ingo Schulze, Richard Ford, Jonathan Littell verlegte - wird zu zwei Dritteln abgewickelt. Zum Ende Juni müssen 13 der 21 Mitarbeiter gehen. Jens Uthoff recherchiert für die taz: "Der Berlin Verlag soll dann zur Marke nach dem Vorbild der Hauptstadt-Imprints Hanser Berlin und Rowohlt Berlin werden. Von Frühjahr 2017 sollen nur noch zehn bis zwölf Titel, ausschließlich Hardcover, pro Saison fertiggestellt werden, sagt die verlegerische Geschäftsführerin Felicitas von Lovenberg gegenüber der taz. Von Lovenberg, lange Jahre Literaturredakteurin der FAZ, ist seit März im Amt. Sie habe eine 'wirtschaftliche Baustelle vorgefunden, die man nicht länger ignorieren konnte', erklärt die 42-Jährige."
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Medien

Scharf krisitisert Armin Fuhrer bei kress.de den unkritischen Umgang der Medien mit einer Studie der Universität Leipzig zum Rechtsextremismus mit dem dramatischen Titel "Die enthemmte Mitte" (mehr hier in einem pdf-Dokument). Häufig zitiert wurde etwa, dass "40,1 Prozent der Befragten 'ekelhaft' (fänden), wenn sich zwei Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen". "Eine Verdopplung seit 2014, so ist zu lesen, und man wüsste gerne, wie diese dramatische Entwicklung zustande kommt (wobei natürlich selbst der angegebene Vergleichswert von 20 Prozent eine erschreckende Zahl ist). Allein: Dieser Wert stammt aus einer ganz anderen Studie (der SPD-nahen Friedrich-Ebert- Stiftung). 2014 fragten die Leipziger Forscher offenbar selbst überhaupt nicht nach dem Thema Homosexualität. Und über die Fragestellung der anderen Studie fehlt jegliche Angabe."
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