9punkt - Die Debattenrundschau

Sie, der Wirt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2016. Die New York Times hat für ein Aufsehen erregendes Dossier die Uhr im März zwei Wochen lang angehalten und nach den Namen und Geschichten aller Terroropfer auf der Welt in dieser Zeit gesucht. Trumps Liebe zu Putin ist echt und tief, meint der Atlantic. Die Säuberungen in der Türkei nehmen immer dramatischere Züge an, berichten viele Medien. Die FAZ schildert die Sorgen und Nöte der Antiquare im Internetzeitalter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.07.2016 finden Sie hier

Medien

In dieser Woche hat der türkische Journalist Bülent Mumay noch zwei Briefe aus Istanbul in der FAZ veröffentlicht. Nun sitzt er - als einer der 42 gesuchten Journalisten - im Gefängnis, schreibt Karen Krüger: "Mumay hat sich nichts vorzuwerfen: Er ist kein Fan Erdogans, aber auch kein Anhänger Fethullah Gülens und hat nie für ein der Gülen-Bewegung nahestehendes Medium gearbeitet. Seit seinem Rausschmiss bei der Hürriyet, die ihn auf Druck der Regierung entließ, schrieb Mumay nur noch für internationale Zeitungen. Die einzige Organisation, der er angehöre, sagte er kürzlich, sei der Türkische Journalistenverband."

Gestern Abend hat die türkische Regierung außerdem die Schließung von Medien bekanntgegeben, meldet Spiegel online: "Laut dem im Amtsblatt veröffentlichten Dekret werden zudem drei Nachrichtenagenturen, 23 Radiosender, 15 Zeitschriften und 29 Verlagshäuser geschlossen." In der taz berichtet Jürgen Gottschlich über eine anstehende zweite Verhaftungswelle unter Journalisten.

Immer mehr französische Medien entscheiden sich für strikte Regeln bei der Berichterstattung über Terroristen, berichtet Alexandre Piquard in Le Monde. Verschiedene Fernsehsender wollen die Namen der Täter nicht mehr nennen. Auch Le Monde selbst hat eine Erklärung abgegeben: "Seit Beginn der Terroraktivitäten des 'Islamischen Staats' hat Le Monde mehrfach seine Praxis weiterentwickelt. Wir haben vor allem entschieden keine Propagandadokumente oder Bekennervideos des 'Islamischen Staats' zu publizieren. Nach dem Attentat von Nizza werden wir keine Fotografien der Täter mehr bringen, um posthume Glorifizierungen zu verhindern." Le Monde will aber weiterhin die Namen der Täter nennen und nach ihren Motiven recherchieren.

Außerdem: In der Welt berichtet Christian Meier über Kartellstrafen gegen Produktionsfirmen von ARD und ZDF.
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Europa

Es wird in den Medien sehr viel weiter über die Psychologie der Täter spekuliert. Sonja Zekri schreibt in der SZ: "Am bemerkenswertesten aber ist, dass der IS offenbar keinerlei Scheu hat, ins Pathologische auszugreifen. Vor einem Jahr sprengte sich im Nordirak der Freiburger Yannik P. in die Luft, der sich Abu Muhammed al-Almani nannte. 15 Menschen starben. P. war obdachlos, entmündigt und geistig behindert." Dennoch hält sie es für falsch, alle islamistischen Täter als krank zu betrachten. Nils Markwardt nähert sich dem Phänomen im Freitag mit Klaus Theweleit. In der FAZ bringt Markus Wehner Belege, dass der Täter von München ein Rechtsextremist war.

Außerdem: "Eingedämmt wird die Gewalt erst, wenn sich die Welt eine neue Ordnung gegeben hat", meint Thomas Assheuer anlässlich der jüngsten Terrorserie im Aufmacher des Zeit-Feuilletons.
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Gesellschaft

Catherine Newmark fragt sich in der Zeit, woran es liegt, dass gerade jetzt und so eng verwoben mit der Islam- und Flüchtlingsthematik, das "Klischee der hässlichen Emanze" so stark reproduziert wird und empfiehlt, sich mal wieder ausgiebig mit den Männern zu beschäftigen, "damit, was sie so denken und wie es ihnen so geht. Und wie sie eigentlich mit den widersprüchlichen Anforderungen und Rollenerwartungen der Gegenwart umgehen. Denn ... hinter dem Angriff auf angeblich hässliche Feministinnen steht nicht nur ein Zweifel an der eigenen Attraktivität, sondern ein ganz grundsätzliches Unbehagen am Heute."
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Wissenschaft

"Wer oder was bin 'ich' denn, wenn das, was ich als meinen Körper ansehe, aus mehr fremden als eigenen Zellen besteht?", fragt sich der Biologe und Wissenschaftspublizist Bernhard Kegel in der NZZ und erklärt, was Wissenschaftler kürzlich entdeckten und noch entdecken: dass alle Lebewesen zu einem wesentlichen Teil aus Mikroben bestehen. In der Zusammensetzung dieser Mikroben, des Mikrobium, ist jedes Wesen einzigartig. "Die durch neurobiologische Befunde angeheizte Debatte über den freien Willen bekommt durch die Mikrobiomforschung neue Nahrung, denn es kann kaum ein Zweifel bestehen: Körpermikroben können ihren Wirt manipulieren - oder sprechen wir besser neutral von Beeinflussung. Wenn Sie zum Beispiel Heißhunger auf Schokolade entwickeln - wer steckt hinter diesem Wunsch, Sie, der Wirt, oder Teile Ihres Darmmikrobioms, das sich durch Ihre Ernährungsgewohnheiten geformt hat?"
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Stichwörter: Mikrobium, Freier Wille

Internet

Mit den modernen sozialen Medien sieht der Architekt und Ingenieur Carlo Ratti den alten Menschheitstraum von der Gedächtnisspeicherung auf dem besten Wege der Erfüllung. In der NZZ denkt er über die Gefahren von Big Data, gerade im Zusammenhang mit Terrorismus nach und fragt sich, wer in Zukunft, die Datenmassen auswerten wird. "Ohnehin können Big Data manchmal zu Bad Data, zu falscher oder absichtlich irreführender Information, werden. Der Münchener Amokläufer hat sich diese Tatsache offenbar zunutze gemacht: Er soll via Facebook zu einem Gratisessen bei McDonald's eingeladen haben, um möglichst viele Menschen dorthin zu locken."
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Politik

Ein sehr berührendes, zugleich aber auch sehr instruktives Dossier präsentiert die New York Times - eine Recherche, an der eine Menge Autoren beteiligt war. Die Zeitung "hielt in zwei Wochen im März die Uhr an" und ging den Terroranschlägen auf der ganzen Welt nach, um die Opfer zu porträtieren: "Wir gingen zu all jenen Orten, um jedes Individuum zu finden, die verlorenen Menschen zu zeigen und Sorgen der Leser, dass nicht alle Opfer gleich behandelt werden, zuvorzukommen. Ein Leben ist ein Leben, wann und wo immer es genommen wird. Wir wollten sehen, welche Verbindungen und Unterschiede wir zwischen den Opfern finden, aber auch die Weiterungseffekte verstehen, mit denen der Terror unsere Zeit prägt. Wir zählten 1.168 nahe Verwandte, 211 Menschen, die ein Elternteil verloren haben, 78, die ihren Lebenspartner verloren."

Donald Trumps Putin-Liebe ist nichts Anekdotische - seine Haltung zu Russland ist "erstaunlich konsistent", bemerkt David Frum in Atlantic, der noch einmal zurückliegende Äußerungen Trumps durchgeht: "Er hat wiederholt und mit Nachdruck Kritik an Putins Herrschaftstechniken, inklusive des Mords an Journalisten, zurückgewiesen. Er hat die Nato obsolet genannt, weil sie zu sehr auf ihre Drohung gegen Russland fixiert sei. Auf seinem eigenen Parteitag sagte er der New York Times, dass er kleine Nato-Länder wie Estland nicht gegen einen russischen Angriff verteidigen würde."

Großen Erfolg hatte Bill Clintons blauer Anzug, den er trug, als er seine Frau Hillary beim Parteitag der Demokraten unterstützte, bei Jenni Avins in Quartz. "Zwar kann er vielleicht nicht einen Bizeps vorweisen wie Michelle Obama, aber er fiel durch seine gefällige Haartracht auf. Wir müssen noch ein Interview mit der Friseurin führen, die Bills Silberlocken für seine Rede stylte."
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Kulturmarkt

Die Antiquare leiden unter der vom Internet geschaffenen Transparenz des Markts -. auch unter dem von Amazon betriebenen Internetdienst Abebooks, schreibt Tilman Spreckelsen in der FAZ und zitiert Albert Sellner, der sein Antiquariat hat schließen müssen: "'Außer in einigen Nischen sind die Preise am antiquarischen Buchmarkt im Sinkflug', schreibt Albert Sellner, 'wir müssen heute dreimal so viel verkaufen wie vor zehn Jahren, um allein den Umsatz zu halten.' Von einer 'Preisspirale nach unten' sprechen dann Antiquare auch einmütig, und jeder Kunde kann das leicht überprüfen: Wer sucht, findet den 'Zauberberg' im Taschenbuch zum Preis von einem Cent, und die hinreißend schönen Dünndruckklassiker aus dem Winkler Verlag sind zum Teil schon für fünf Euro zu haben - vor dreißig Jahren musste man dafür etwa dreimal so viel bezahlen." Hinzukommt ein Faktor, der mit dem Internet nichts zu tun hat: Die Büchersammler sterben aus - und ihre Bibliotheken landen bei den Antiquaren.
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