9punkt - Die Debattenrundschau

Alles ist verrückbar

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2016. Toleranz ist Verhandlungssache, meint der Philosoph Andreas Urs Sommer in der NZZ. Bei La Régle du Jeu streiten sich Bernard-Henri Lévy und Jean Daniel über die "neue jüdische Frage". Viel diskutiert wird John Olivers in seiner letzten Show gesungene Ode an den Lokaljournalismus. In der FR sucht Journalist und Filmemacher Osman Okkan eine Erklärung für die Treue der Deutschtürken zu Erdogan. In der SZ erinnert Bassam Tibi an die Entstehung des aufgeklärten Islams - vor etwa tausend Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.08.2016 finden Sie hier

Ideen

Den "Aufklärungs-Islam", den viele heute suchen, gibt es eigentlich schon lange, meint Bassam Tibi in der SZ. Er entstand zwischem dem 9. und 12. Jahrhundert, gipfelte im Werk vom Ibn Ruschd Averroes und wurde von dem 2010 verstorbenen marokkanischen Philosophen Mohammed Abed al-Jabri neu belebt. "Unser Unglück ist nicht der Westen", schlussfolgert Tibi daraus, "sondern die Beerdigung des Averroismus durch die islamische Scharia-Orthodoxie, lange bevor es je einen Kolonialismus gab. Die Opferrolle zu spielen hilft uns nicht. Mehr hilft das Projekt von Al-Jabri, den Geist Averroes' im 21. Jahrhundert neu zu entfachen. Auf dieser Grundlage kann Al-Jabris Projekt zum Aktionsprogramm für die islamische Zivilisation im 21. Jahrhundert werden."

Toleranz ist gut und wichtig. Aber vielleicht sollte man den Begriff auch nicht überstrapazieren, meint der Philosoph Andreas Urs Sommer in der NZZ. Denn wenn Toleranz alternativlos ist, kann sie kein Wert mehr sein. "Begreift man Toleranz als Wert, begreift man sie als regulative Fiktion. Man begreift sie als Menschenwerk, das sich durch seine situative Nützlichkeit rechtfertigt. Toleranz ist weder eine unverrückbare Gegebenheit, noch eine unverrückbare Forderung. Sie ist Verhandlungssache. Alles ist verrückbar."
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Politik

Einige homosexuelle Aktivisten aus Bangladesch haben Visa-Anträge in Deutschland gestellt, schreibt Frederik Schindler in einem taz-Hintergrundartikel über die Lage der Schwulen in dem Land: "In Deutschland wurden im ersten Halbjahr 2015 22 Prozent der Asylbewerber aus Bangladesch als schutzbedürftig anerkannt, dennoch will die CSU ein Rückübernahmeabkommen ­abschließen und das südasia­tische Land trotz der Mordserie als sicheren Herkunftsstaat ­klassifizieren."
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Stichwörter: Bangladesch, Csu

Gesellschaft

Warum gehen junge Deutschtürken hier auf die Straße und demonstrieren für die Abschaffung der Demonstrationsfreiheit in der Türkei? Weil die Türkei, selbst wenn sie sie kaum kennen, ihnen emotional näher ist als Deutschland, glaubt der Journalist und Filmemacher Osman Okkan im Interview mit der FR. Und weil Erdogan für viele eben eine Art Vaterfigur sei: "Man muss sich vergegenwärtigen, dass wir einer großen Mehrheit der Einwanderer die Werte, für die Deutschland steht, für die die EU steht, nicht vermitteln konnten und es immer noch nicht können. Man ist immer von der irrigen Annahme ausgegangen, nach einigen Generationen würden sie sich hier von selbst integrieren. Aber das stimmt nicht. Wir haben es im Bildungssystem seit Jahrzehnten nicht geschafft, dass Migranten dieselben Bildungschancen haben wie deutsche Kinder. ... Man bleibt aber auch im Kultur- und Bildungsbereich, wo die Vielfalt am ehesten vorgelebt werden könnte, immer noch zu eurozentristisch und das wird dann von den Betroffenen als Arroganz aufgefasst. Es ist für die Migrantenkinder schon eine unglaubliche Erleichterung, wenn etwa ein Lehrer ihre Namen richtig ausspricht."
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Europa

Die kriegszerstörte Bibliothek von Sarajewo ist wiederaufgebaut. Aber sie wird nicht zum Symbol eines neuen Bosnien, sonder steht leer, schreibt Arnold Bartetzky in der FAZ: "Unter den Animositäten zwischen den politischen Vertretungen der Bevölkerungsgruppen und der Unfähigkeit der Behörden, die durch die allgegenwärtige Korruption verschärft wird, leiden besonders die gesamtstaatlichen Kultureinrichtungen. In einem Land, in dem Museen jahrelang geschlossen bleiben, weil man sich nicht auf die Finanzierung des Betriebs einigen kann, verwundert es auch nicht, dass die wiedererstandene Nationalbibliothek bis auf Weiteres ein Dasein als Geisterschloss fristet."

Die Geschichte der Abgeordneten Petra Hinz, die sich einen akademischen Abschluss angedichtet hat, verweist auf ein Problem der SPD: Die einstige Arbeiterpartei hält in höheren Rängen offenbar keine Nicht-Akademiker mehr aus, beobachtet Jan Feddersen in der taz: "Ist das Klima in dieser Partei schon so weit vergammelt, dass Personen, die nicht in mittelschichtigen Sphären aufgewachsen sind, sich nicht mehr trauen zu sagen: Ich bin Postbote (und Personalrat)! Oder: Ich bin Supermarktkassiererin (und Betriebsrätin)! In diesem Sinne müsste der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, gelernter Buchhändler, fast schon als Freak gelten: kein Jurastudium, keine Institutionenkarriere wie etwa in einer Gewerkschaft, nicht einmal ein Abschluss als Politikwissenschaftler*in."

Mit einigen Aspekten des Kemalismus kann der "Antikemalist" Tayyip Erdogan sehr gut leben, erläutert der Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski in der FAZ: "Laizismus wurde von den Kemalisten immer so verstanden, dass die Religion unter der Kontrolle des Staates stehen muss. Die riesige Behörde Diyanet, das Präsidium für Religionsangelegenheiten (dem unter anderem auch die Ditib untersteht), ernennt Imame, legt die Inhalte der Lehrbücher für den Religionsunterricht fest und verfasst die Texte für die Freitagspredigten. Gerne übernimmt die AKP dieses Erbe eines kemalistischen 'Laizismus'."
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Religion

Bernard-Henri Lévy und Jean Daniel (Gründer des Nouvel Obs) unterhalten sich bei La Régle du Jeu über "Die neue jüdische Frage" (so auch Lévys neues Buch). Lévy will die Juden nicht als "auserwähltes Volk" sehen: "Die Juden sind, wörtlich, der Schatz der Nationen. Sie sind Teil ihres Reichtums, ein gesegneter, nicht verfluchter Teil. Sie sind das, was ich als 'universales Geheimnis' bezeichne." Darauf Jean Daniel: "Gewiss, indem sie den 'einzigen Gott' schufen und sich als 'Schatz der Könige' sahen, haben sich die Juden ein Schicksal unmöglicher Größe auferlegt und es den Menschen präsentiert. Es ist ein Gefängnisschicksal."
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Medien

Viel diskutiert wird John Olivers Ode an den Lokaljournalismus, die er am Sonntag in seiner "Last Week Tonight"-Show brachte. Es gab allerdings auch kritische Reaktionen, berichtet Margaret Sullivan in der Washington Post, die etwa David Chavern, einen Verlegervertreter zitiert: Er findet Olivers "Nostalgie nach Zeiten, als Rubrikenanzeigen und nahezu monopolistische Positionen in regionalen Märkten den Journalismus finanzierten, sinnlos und eher schädlich". Auch Charlie Beckett findet Olivers Position im Polis-Blog der London School of Economics "ziemlich konservativ. Er beschuldigt das Publikum, nicht jene Art von investigativem Journalismus zu finanzieren, die der Film 'Spotlight' feiert. Er steckt uns in die Schuldfalle."



Die Zeit geht unter die katholischen Verlage und bringt die Beilage Christ & Welt, die bisher vom Katholischen Medienhaus gestaltet und der Zeit beigelegt wurde, nun selbst heraus, heißt es auf der Medienseite der FAZ: "Erscheinen wird Christ & Welt in einer Tochtergesellschaft der Zeit mit dem Namen Zeit: Credo. Deren Geschäftsführer werden Rainer Esser, Geschäftsführer der Zeit, und der geschäftsführende Redakteur Patrik Schwarz, der bislang als Herausgeber von Christ & Welt fungierte." Wer genau was an dieser Beilage (die man sich als Abonnent für ein paar Cent hinzubestellen kann) bezahlt, wird aus dem FAZ-Artikel nicht ganz klar.
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Geschichte

Konnte man in Nazideutschland wirklich nichts gegen die Ermordung der Juden tun? Götz Aly erinnert in der Berliner Zeitung an den Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, der mit drei Predigten im August 1941 quasi im Alleingang die Euthanasiemorde stoppte. "Weil Galen die Euthanasieverbrechen öffentlich und detailliert anprangerte, entzog er der Bevölkerung und auch seinen Kirchgängern die Möglichkeit des Wegsehens, des klammheimlichen Einverständnisses mit der 'Aktion Gnadentod'. Deshalb forderte Goebbels zwei Tage nach der dritten Predigt nicht etwa den Kopf Galens ('im Augenblick kaum tragbar'), sondern das vorläufige Ende der Euthanasiemorde, weil man in dieser 'kritischen Periode des Krieges allen Zündstoff aus dem Volke fernhalten' müsse."
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