9punkt - Die Debattenrundschau

Der plurale Wahrheitsbegriff

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2016. In der Zeit macht Boris Schumatsky das "postmoderne Lebensgefühl" für Figuren wie Wladimir Putin verantwortlich. Nun wurde in der Türkei auch die die Schriftstellerin Asli Erdogan verhaftet - FAZ und NZZ berichten. Motherjones erklärt am Beispiel der Reportagen von Shane Bauer, wie Journalismus eigentlich funktionieren müsste. Die Amerikaner brauchen einen neuen New Deal, sagt Nancy Isenberg in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.08.2016 finden Sie hier

Europa

In der Türkei wurde die Schriftstellerin Asli Erdogan verhaftet, weil sie für die kürzlich verbotene kurdische Zeitung Özgür Gündem arbeitet, das melden FAZ und NZZ. Özgür Gündem wird vorgeworfen, "Propaganda für die PKK betrieben zu haben. Tatsächlich aber war die Zeitung noch die einzige, die über den Konflikt in den Kurdengebieten berichtet hat. Sie gilt als Symbol für das Ringen der Kurden darum, angemessen in den Medien dargestellt zu werden", heißt es in der FAZ. "Asli Erdogan war der sprichwörtliche Falter, der von der tödlichen Flamme nicht lassen kann. In ihren autobiografisch geprägten Büchern atmet das fiebrige Temperament, das sie in sich trug und das für andere auch irritierend sein konnte. Im Innersten scheu und tief verletzt, hochbegabt - mit 24 durfte die damalige Physikstudentin am Cern in Genf forschen -, aber radikal unangepasst, wusste die Schriftstellerin selbst, dass sie immer am Rand des Abgrunds lebte, diese Exponiertheit wahrscheinlich sogar suchte", schreibt Angela Schader in der NZZ.

Tayyip Erdogan ist ein Islamist und kein muslimischer Christdemokrat, als den man ihn so gern gesehen hätte, meint Bassam Tibi im Gespräch mit Johannes C. Bockenheimer vom Tagesspiegel: "Und die Islamisten sind seit dem gescheiterten Putschversuch ein ganzes Stück vorangekommen: Die Idee des Kemalismus, dass es keine Sunniten, keine Aleviten und Kurden, sondern nur die türkische Nation gibt, ist zerbrochen."

Im Donbass bröckelt der Waffenstillstand, und selbst der Urlaub wird für die Ukrainer zum Politikum, berichtet der Schriftsteller Andrej Kurkow in der Zeit aus seinem Heimatland. Während Urlaub in Odessa oder Montenegro als "politisch korrekt" gelte, begingen Hunderttausende Ukrainer an den Stränden der Krim "Vaterlandsverrat", erzählt Kurkow. Auch die finanzielle Stabilität in seinem Land erstaunt ihn, ein Bekannter erklärt ihm: "Die Beamten würden jetzt weniger stehlen. Staatsaufträge würden jetzt über das Programm ProZorro im Internet abgewickelt (ein Wortspiel: Prozoro heißt auf Ukrainisch 'transparent') Staatsgelder zu klauen sei jetzt viel schwieriger, die Einkünfte seien durch diese Neuerung um ein Drittel gewachsen."

Im Zeit-Gespräch mit Adam Sobocynski ärgert sich der russische Schriftsteller Boris Schumatsky über die Putin-Versteher im Westen. Putins Attraktion entsteht seiner Meinung nach nicht nur aus "antiamerikanischen" Reflexen der Linken, sondern "wurzelt im postmodernen Lebensgefühl, das keine Fakten, sondern nur noch Interpretationen kennt. Der plurale Wahrheitsbegriff der Postmoderne wurde von Putin für die politische Praxis überführt. Sein Verfahren stieß hierzulande aufgrund der vulgären Rezeption von Foucault und Derrida auf Verständnis und Nachsicht. Die selbstkritische Manie, den Westen als eurozentristische, phallozentristische, logozentrische, irgendwie beliebige Konstruktion zu entlarven, verhalf mit einem Mal auch autoritären Gesellschaftsmodellen zu ihrem Recht."

Außerdem: In der FAZ erzählt Bülent Mumay am Beispiel der türkischen Sängerin Sila, wie man derzeit mit Abweichlern in der Türkei umgeht. Im Tagesspiegel berichtet Christiane Peitz über den Fall.
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Medien

Alex Spence stellt in Politico.eu thecanary.co vor, ein linkspopulistisches Blog, das von Corbyn-Anhngern gemacht wird und seine Journalisten nach Klicks bezahlt: "Das Wachstum von The Canary wurde durch den krassen Wandel in Medienindustrie und Politik möglich. Da große Anteile der Wählerschaft mit ihren Politikern unzufrieden sind und den Experten und Institutionen misstrauen, entstand Platz für den Aufstieg aggressiver, schneller Wesbsites, die wissen, wie man Artikel verpackt, damit sie sich auf Facebook verbreiten."

Im Juni publizierte Shane Bauer in Motherjones eine riesengroße Story über "Meine vier Monate als Wächter in einem privaten Gefängnis". Die Geschichte hatte viel Resonanz - Bauer wird als Kandidat für den Pulitzer Prize gehandelt. Monika Bauerlein and Clara Jeffery machen nun einem Hintergrund darauf aufmerksam, dass diese Art von Journalismus in einem geschwächten und beschleunigten Medienumfeld kaum mehr möglich ist: "Sie brauchen Zeit (viel mehr als ökonomisch zu rechtfertigen ist) und Stabilität... Nehmen Sie unsere Gefängnisstory. Shane begann vor vier Jahren für uns über das Gefängnissystem zu schreiben, nachdem er in die USA zurückgekeht war und nachdem er im Iran als Geisel gehalten worden war (machen Sie sich das klar, auch wie er diese furchtbare Erfahrung nutzte, um uns zu zeigen, was Gefangensein wirklich ist). Seine erste große Story für uns im Jahr 2012, entstand, nachdem er mehrere Monate über Einzelhaft recherchiert hatte. Kurz danach stelleten wir ihn als Reporter ein. Das ist wichtig: MoJo war ein Magazin, das meist mit Freien arbeitete, aber in letzter Zeit bevorzugen wir Vollzeitjournalisten mit dem Kontext eines wirklichen Newsrooms."

Joseph Croitoru wirft für die FAZ einen Blick in die frisch renovierte Zeitschrift der Ditib und stellt fest, dass sie religiöser - "bis hin zu missionarischem" - geworden ist.
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Gesellschaft

Die Amerikaner brauchen keinen Trump, sondern einen neuen New Deal, meint die Historikerin Nancy Isenberg, deren Buch "White Trash" gerade erschienen ist (mehr) im Interview mit der SZ: "Wir dürfen Empfänger von Sozialleistungen nicht länger dämonisieren. Henry Wallace, Vizepräsident unter Franklin Delano Roosevelt, sagte 1944: 'Was würde passieren, wenn wir 30.000 Kindern der reichsten Eltern und 30.000 armen Kindern die identische Kleidung und Ernährung geben und sie genau gleich ausbilden? Alle würden sehen, dass arme Kinder das Gleiche schaffen können wie reiche Kinder.' Heute stünden bei einer solchen Aussage vielen die Haare zu Berge. Doch weil während der 'Great Depression' jeder Fünfte arbeitslos war, merkten die Amerikaner, dass sie Armut nicht länger mit Faulheit erklären können."
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Internet

Müssen wir alle Programmieren lernen, um Google und Co Paroli zu bieten? Ach was, meint Adrian Lobe in der FAZ: "Man muss nicht programmieren lernen, sondern den selbstbestimmten Umgang mit Technik."
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Stichwörter: Lobe, Adrian

Überwachung

In der NZZ spricht Susanne Schanda mit den ägyptischen Verlegern Karam Youssef und Sherif Bakr über arabische Übersetzungen deutscher Bücher - Der Zweite Weltkrieg kommt nicht gut an, lernt sie -, hohe Buchpreise und wachsende Zensur seit dem arabischen Frühling. Bakr klagt: "Wir haben heute keine Kultur der Debatte. Es ist nicht so, dass ein Zensor Nein sagt und wir uns dann zusammensetzen und darüber diskutieren, sondern man wird gleich zur Polizei zitiert. Wenn es keinen Raum für Argumente und Verhandlungen mehr gibt, ist es wirklich hart. Manchmal spüren wir indirekte Konsequenzen, etwa dass plötzlich die Steuerbeamten vor der Tür stehen und behaupten, sie hätten Unregelmäßgkeiten entdeckt. Niemand gibt zu, dass es wegen der publizierten Bücher ist, aber es liegt auf der Hand, dass dies Sanktionen sind. Das ist schlimmer als Gefängnis."

Der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar erzählt in der Zeit, wie schnell türkische Medienvertreter einknicken, wenn ein beleidigter Erdogan anruft und warum er, nach seiner Verurteilung für einen Artikel über die Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes nach Syrien - und noch vor der Entscheidung des Revisionsgerichtes seinen Posten und sein Land verließ: "Hätten Sie in einem Land, in dem nach einem blutigen Umsturzversuch, der 240 Menschen das Leben kostete, 20.000 Personen festgenommen, 10.000 verhaftet und fast 3.000 Richter und Staatsanwälte des Amtes enthoben worden waren, in dem die Wiedereinführung der Todesstrafe auf der Agenda stand, dem Rechtswesen vertraut und Ihren Kopf der Guillotine der Regierung hingestreckt?"

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