9punkt - Die Debattenrundschau

Ich bin, grundsätzlich, Konsument

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2016. Das höchste Gericht Frankreichs hat das Burkini-Verbot aufgehoben. Die ehemalige französische Umweltministerin Corinne Lepage befürchtet auf huffpo.fr eine Spirale aus Provokationen, Verboten und Genehmigungen. Das Thema Burkini ist damit jedenfalls noch lange nicht erledigt, meint SpOn mit bangem Blick auf den französischen Wahlkampf. In der FR entdeckt der Sinologe Wolfgang Kubin Konfuzius als religiösen Denker. Murat Kayman, Koordinator des Moscheenverbands Ditib, erklärt in der taz, weshalb in Deutschland ausgebildete islamische Theologen nicht als Imame in Frage kommen. Und Abdel-Hakim Ourghi fordert in der FAZ eine Reformation des Islam.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.08.2016 finden Sie hier

Europa

Gestern hat das höchste Gericht Frankreichs, der Conseil d'Etat, gegen das Burkini-Verbot eines französischen Bürgermeisters verfügt. Frantz Durupt und Ismaël Halissat erläutern in Libération das Urteil: "Der Conseil d'Etat will, dass der Zugang zum Strand den Bedürfnissen der öffentlichen Ordnung, die sich aus Umständen der Zeit, des Orts, der Sicherheit, der Hygiene und des Anstands ergeben, 'angepasst, verpflichtet und angemessen' sein sollen. Die Richter weisen die von den Bürgermeistern vorgebrachten Begriffe wie die Laizität, die guten Sitten oder die Gleichheit zwischen Mann und Frau zurück." Geklagt hatten die Ligue des droits de l'homme (LDH) und ein "Collectif contre l'islamophobie en France (CCIF)". Das Urteil ist bindend für die Verwaltungsgerichte, gilt aber immer erst dann, wenn gegen konkrete Verfügungen von Bürgermeistern geklagt wird.

Die ehemalige französische Umweltministerin Corinne Lepage, die bei huffpo.fr bloggt, ist mit dem Urteil des Conseil d'Etat nicht zufrieden. Für sie wäre die eigentliche Frage (die aber an das Gericht nicht gestellt wurde), "zu wissen, ob das Symbol der Ungleichheit und Unterwerfung der Frau, das der Burkini wie die Burka ist, der öffentlichen Ordnung einer sich egalitär und laizistisch verstehenden Republik entspricht oder nicht". Das Urteil erscheint ihr nun als "grünes Licht für den Gebrauch des Burkini auf den Stränden, und sei es aus Zwecken der Provokation. Es können sich also Störungen der öffentlichen Ordnung ergeben, die dann wieder nach der jetzt gefundenen Rechtsprechung Verfügungen motovieren können, die den Burkini verbieten, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Wir riskieren also eine Art Gewaltspirale, die in der höchst angespannten Sicherheitslage zur Zeit nicht willkommen ist."

Die deutschen Zeitungen begrüßen die Entscheidung dagegen einhellig. "Religion gehört zum öffentlichen Leben", meint Reinhard Müller in der FAZ: "Religion darf deshalb sichtbar sein, solange sie ein offenes, friedliches Zusammenleben ermöglicht." Im Tagesspiegel sieht Malte Lehming das Urteil als wichtige Intervention in einen Teufelskreis: "Eine Minderheit, deren Werte angegriffen werden, schottet sich ab. Das wiederum ruft das Misstrauen der Mehrheit hervor. Burkini-Verbote beschleunigen diesen unheilvollen Prozess."

Auf SpOn macht sich Stefan Simons Sorgen, dass der Burkini jetzt erst recht zum Wahlkampfthema wird: "'Frankreich ist das Land der Befreiung der Frau, das Land, das den Minirock erfunden hat und den Feminismus', so Luc Chatel, Abgeordneter der Republikaner (LR). 'Es geht nicht an, Frauen hinter Burka und Burkini zu verstecken.' Nicolas Sarkozy legt noch nach und nennt den Einteiler nicht weniger als ein 'militantes Bekenntnis zum Salafismus'. Der frisch angetretene Ex-Star der Konservativen fordert sogar ein Verbot für alle ostentative Zeichen religiöser Zugehörigkeit. Wie gesagt, es ist Wahlkampf.

Auch die Debatte um die Bilder aus Nizza, auf der Polizisten eine Frau zur Rede stellen, die "bescheidene" Badekleidung trägt, welche die Frau dann ablegt, geht weiter. Sueddeutsche.de hatte die Szene unter die Überschrift "Französische Polizei zwingt Frau am Strand zu mehr nackter Haut" gestellt. Nachdem die Deutsche Welle (hier) und Meedia nachrecherchiert haben, hat Sueddeutsche.de die Überschrift verändert. Denn die Frau ist offenbar nicht gezwungen worden, sich auszuziehen, schreibt Marvin Schade in Meedia: "Seitens der Polizei heißt es: 'Die Polizisten haben ihr gesagt, dass sie nur ohne die Tunika am Strand bleiben darf. Aber sie hat sie wieder angezogen. Also musste sie eine Strafe von 38 Euro zahlen. Kurze Zeit später hat sie den Strand verlassen - friedlich.' Man hat also einen Bußgeldbescheid ausgestellt und der Frau das Verbot mitgeteilt. Sie gezwungen, sich in der Öffentlichkeit auszuziehen, habe man nicht."

In The Intercept hat Robert Mackey Fotos und Videos zusammengetragen, auf denen Polizisten das Burkini-Verbot durchsetzen, und zitiert den französischen Journalisten David Thomson, der diese Bilder im Radio France als "Gottesgeschenk für Dschihadisten" bezeichnet hat: "'Das dschihadistische Narrativ besteht seit Jahren darauf, dass es für Muslime in Frankreich unmöglich ist, ihre Religion mit Würde auszuüben.' Innerhalb von Minuten nach ihrer Veröffentlichung würden diese Fotos zu den meistdiskutierten Themen in der 'Dschihadosphäre' des Internets." Christian Estrosi, der Präsident der französischen Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, hat derweil angekündigt, Social-Media-Nutzer zu verklagen, die Bilder von Polizeiaktionen gegen Burkini-Trägerinnen verbreiten, meldet Markus Reuter auf Netzpolitik.org.
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Wissenschaft

Bildung ist kein Konsumgut des neoliberalen Marktes, ruft der Literatur-Dozent William Egginton in der NZZ den amerikanischen Hochschulen zu. Gründe für das Schwinden einer freien Lehre, besonders in den Geisteswissenschaften, sieht er im wachsenden Effizienzdruck, aber auch im "Komfort-Konservatismus" der Studierenden, die sich über unbequeme Lehrinhalte beklagen: "Die Rechtfertigung für dieses Verlangen könnte man in dem Menschenbild finden, das nicht zuletzt von der neuen Medienkultur portiert wird: Ich bin, grundsätzlich, Konsument; meine Persönlichkeit zeigt sich in meiner Fähigkeit, mich durch die Entscheide, die ich als Konsument treffe, zu definieren. Oder, wenn wir es mit den Worten einer Kampagne für Apples iPhone sagen wollen: I have the right to be unlimited. Und genauso, wie der Mann hinter dem Starbucks-Tresen sich nie erlauben würde, meinen Entscheid für einen caramelisierten Latte mit Magermilch infrage zu stellen, hat mein Professor nicht das Recht, mich mit Aussagen oder Interpretationen zu behelligen, die von meiner Weltsicht abweichen."
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Ideen

Der große Sinologe Wolfgang Kubin unterhält sich in der FR mit Arno Widmann und räumt unter anderem mit ein paar Vorurteilen über Konfuzius auf: "Es heißt immer, er habe nicht über den Tod, nicht über Geister, nicht über Götter gesprochen. Das ist falsch. Er sprach unentwegt darüber. Ich meine darum, man muss die Gespräche des Konfuzius völlig neu lesen. Aber das ist eine Minderheitenposition. Es gibt immer noch Sinologen, die sich für ihren Atheismus auf Konfuzius berufen. Sie haben die 'Gespräche des Konfuzius' nicht richtig gelesen und ganz sicher nicht richtig verstanden."

Auf FAZ.net porträtiert Henrike Wiemker zwei Anhänger der unter jungen Leuten zunehmend populären Philosophie des Effektiven Altruismus.
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Medien

In der taz porträtieren Bernhard Clasen und Anne Fromm die Blogger Graham Phillips und Martin Lejeune als Vertreter eines "Selfie-Journalismus", der die Nähe zu Autokraten sucht und traditionellen Medien kritisch gegenübersteht: "Im April veröffentlichte Lejeune ein Foto von sich neben dem sudanesischen Diktator Umar al-Baschir, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord gesucht wird. Ein Mann, wie Lejeune sagt, 'der große Visionen für sein Land hat'. Das Interview, das Lejeune mit Baschir geführt hat, ist bislang nirgends erschienen. Er findet keine Abnehmer, sagt er. Das Facebook-Foto ist eines von vielen: Lejeune neben Politikern der türkischen Regierungspartei AKP, neben türkischen 'Kriegshelden' oder vor dem türkischen Präsidentenpalast."
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Geschichte

Ein nun gefundener letzter Brief Ludwigs II. stellt klar, dass der König sehr wohl um die Verschwörung hinsichtlich seiner Absetzung wusste, berichtet Berthold Seewald in der Welt. Zweifel an der geistigen Gesundheit Ludwigs hat er dennoch: "Paranoia, also Verfolgungswahn und Wahngedanken, können sowohl bei Psychosen wie etwa der Schizophrenie auftreten als auch Teil einer schweren Depression sein. Diese verläuft - wie auch andere psychische Erkrankungen - in der Regel in Schüben. Sie können schleichend beginnen - aber auch ganz plötzlich. Dazwischen kann es dem Patienten durchaus gut gehen. Ganz ähnlich ist es bei Psychosen: Auch hier gibt es Phasen, in denen der Betroffene 'verrückt' zu sein scheint, und Phasen, in denen er fast symptomfrei ist und normal am Alltag teilnehmen kann."
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Religion

Im Interview mit Daniel Bax (taz) wehrt sich Murat Kayman, Koordinator des türkischen Moscheenverbands Ditib, gegen die Kritk an türkischen "Import-Imamen" in deutschen Moscheen (siehe unser 9Punkt von gestern). Absolventen deutscher Universitäten kämen für das Amt nicht in Frage: "Dort werden keine Imame ausgebildet, sondern Theologen oder Theologinnen. Das ist auch gut so. Das bedeutet aber auch, dass diese Absolventen durch die Religionsgemeinschaften für die konkreten gemeindlichen Aufgaben weiter ausgebildet werden müssen... Die Finanzierung ist ein weiterer Faktor, der für unsere Gemeinden wichtig ist. Wer hier kein seriöses Alternativmodell anbieten kann, sollte sich mit Forderungen zurückhalten."

In der FAZ erneuert der islamische Theologe Abdel-Hakim Ourghi seine gestern bereits in der NZZ erhobene Forderung nach einer aufklärerischen Reform des Islam: "Die fortdauernde Unmündigkeit der Muslime zeigt sich in der blinden Übernahme von herkömmlichen Denksystemen der Islamgelehrten aus vergangenen Epochen. Durch den Gebrauch der kritischen Vernunft können sich die Muslime in ihrer Religion emanzipieren und zum aktiven Akteur der Selbstbestimmung ihrer religiösen Identität werden."

In Polen spielt Exorzismus noch immer eine zunehmend große Rolle, berichtet Renate Meinhof in der SZ.
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Kulturpolitik

Dass die Zerstörung von Welterbestätten inzwischen als Kriegsverbrechen geahndet wird, findet Rainer Haubrich in der Welt zwar berechtigt, schwerer als Massaker an Menschen wiege sie aber nicht, meint Haubrich und verweist auf die Möglichkeit des Wiederaufbaus. Allerdings: "Für manche Experten bedeuten Rekonstruktionen auch heute noch 'Gehirnwäsche', Identität könne nicht an Kulissen geknüpft, sondern nur in 'Prozessen' gewonnen werden. Auch Verluste zählten zum Erbe, ja, sie seien 'das eigentlich Zusammenhaltende'. Debatten dieser Art sind durchzogen von Ideologie und einer - teils widersprüchlichen - Moral: Was in dem von Deutschen verschuldeten Krieg zerstört wurde, gilt als ewige Strafe, während die Opfernationen Teile ihrer Altstädte wieder aufbauen dürften - etwa in Warschau."
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