9punkt - Die Debattenrundschau

Schranken-Schranken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2016. Die Welt erklärt, warum die relativ hohe Wahlbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern nicht gefeiert wird: Mobilisiert wurden vor allem AfD-Wähler. Die taz fordert nach den Wahlen eine Trauerarbeit unter Konservativen. Manuel Valls streitet mit der New York Times über Frankreich und den Islam.  In der FAZ kritisiert der Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht die Lobby-Politik der Digitalkommissars Günther Oettinger. Bei irights.info erklärt Martin Kretschmer, wie verwaiste Werke zugänglich gemacht werden könnten. Wofgang Michal fürchtet in seinem Blog, dass Autoren bei der VG Wort ihre Rechte verspielen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.09.2016 finden Sie hier

Ideen

Angesichts der Wahlerfolge der AfD müssten "konservative Intellektulle" Trauerarbeit leisten, meint Dirk Knipphals in der taz, der seine Diskursgegner aber leider nicht namhaft macht: "Wo stößt man etwa auf die Figur des konservativen Renegaten, auf jemanden, der ernsthaft an die Autorität des hierarchisch durchformatierten Obrigkeitsstaats geglaubt hat - und dann feststellen muss, dass das gesellschaftliche Zusammenleben mit ihm nicht mehr funktioniert? Stattdessen gibt es Publizisten, die entweder raunend oder im Gestus, es im Zweifel doch nicht so gemeint zu haben, Begriffe wie Volk, Nation, Katholizismus in die Debatten einbringen - und, sobald sie auf Widerstand stoßen, sich als Märtyrer inmitten angeblich linker Hegemonie aufführen."

Ach, immer nur der AfD den Stinkefinger zeigen, bringt es auch nicht, meint Paul Ingendaay in der FAZ: "Es ist an der Zeit, die politische Debatte furchtloser zu führen. Wo bleibt das Vertrauen in den Parlamentarismus? Und sind wir wirklich darauf angewiesen, vor Hitler zu warnen, um der AfD mit Argumenten zu begegnen? Das ganze Antifa-Gedöns vernebelt doch nur eine ziemlich weit verbreitete Empfindung in diesem Land: Wir wissen nicht mehr, was kommt. Wir schaffen das, schon klar. Höchstwahrscheinlich. Aber wir müssen uns deutlicher darüber verständigen, wie wir das schaffen sollen."
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Europa

Auf einen zusätzlich unangenehmen Aspekt der jüngsten  Landtagswahlen macht Thomas Schmid in der Welt aufmerksam: "Am Sonntag sind in Mecklenburg-Vorpommern fast zehn Prozent mehr Wähler an die Wahlurne gegangen als bei der vorigen Landtagswahl 2011. Das wäre in Zeiten allgemein abnehmender Wahlbeteiligung lauthals bejubelt worden - wäre das nicht dem Umstand zu verdanken, dass weit mehr als die Hälfte dieser ehemaligen Nichtwähler der AfD ihre Stimme gaben."

Deutsche Verleger und Politiker sollten endlich mit dem Klagen aufhören, auf nutzlose nationale Alleingänge verzichten und lieber EU-weite Regelungen zur Digitalisierung unterstützen, meint in der FAZ Jan Philipp Albrecht, Europaabgeordneter der Grünen. Und blickt dabei besonders auf deutsche Politiker wie Alexander Dobrindt und den deutschen EU-Digital-Kommissar" Günther Oettinger: "Vor wenigen Tagen haben die Telekommunikationsregulierungsbehörden Europas eine wichtige Entscheidung zum Schutz der Netzneutralität gefällt und schützen damit die kleinen und mittelständischen Unternehmen in der EU vor massiver Diskriminierung im Wettbewerb, weil sich Amazon, Apple, Netflix und Co. keine Überholspur im Internetmarkt kaufen können. Diese Gefahr bestand, weil das zuständige Verkehrsministerium aus Deutschland und der deutsche Kommissar Oettinger bis zuletzt nicht etwa das Wohl einer EU-weiten Digitalwirtschaft, sondern bloß das der nationalen Netzversorger im Blick hatten."

Veronika Hartmann beschreibt in der NZZ die Säuberungsaktionen der türkischen Regierung an den Universitäten: Dort werden reihenweise Akademiker entlassen, die zur Gülen-Bewegung (von Erdogan jetzt "Terrororganisation Fetö" genannt) gehören, aber auch Linke und Säkulare trifft es: "Zwar beteuert die Regierung, dass man Unschuldige verschonen werde. Gleichzeitig macht sie bei ihren Anschuldigungen jedoch keinen Unterschied zwischen tatsächlichen, bewaffneten Terroristen, politischer Opposition und einfachen Beobachtern. An der Universität Gümüshane wurde beispielsweise ein Fragebogen verschickt, mittels dessen Angestellte darüber Auskunft geben sollten, ob sie Verbindungen zur 'Terrororganisation Fetö' haben: Ein Abonnement der 'falschen' Zeitung wird dabei genauso zum Verdachtsmoment wie der Besuch bestimmter Veranstaltungen..."

Lillie Dremaux hat für die New York Times am Wochenende nach der Burkini-Debatte die Stimmen einiger betroffener Musliminnen (oder sollte man sagen, Muslimas, mehr hier) gesammelt, die über ihr schwieriges Leben in Frankreich klagen: "Laurie Abouzeir, 32, sagte, dass sie einen Kinderladen bei sich zu Hause in Toulouse, Südfrankreich starte, weil ihr der erlaube, ein Kopftuch zu tragen, über das man an vielen Arbeitsplätzen sonst die Stirn runzle, wenn es nicht ganz verboten werde."

Auf diese Betroffenenäußerungen antwortet bei huffpo.fr der publizistisch nie verlegene französische Premierminister Manuel Valls mit einer Information über den Ort, wo die Stimmen gesammelt wurden, einem "camp d'été décolonial", einem "Treffen - und diese Information ist nicht unwichtig - bei dem, ich zitiere, 'Personen weißer Hautfarbe' der Zugang verboten war! Sein Ziel war, alle Anhänger der Kommunitarismen zu versammeln, alle Gegner der Vermischung unter 'weißen' und 'nicht weißen' Personen, all jene, ich zitiere nochmal, die den 'Staatsphilosemitismus' anprangern, dessen Opfer Frankreich sei."

Mehr zum Thema auf der Website des Express - woher Valls seine Information über den New York Times-Artikel hat, wird dort aber leider auch nicht erklärt.
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Urheberrecht

Trotz einiger gesetzlicher Initiativen ist es bis heute fast unmöglich "verwaiste Werke" zu digitalisieren und damit der Öffentlichkeit neu zugänglich zu machen, erklärt Martin Kretschmer, Professor für Immaterialgüterrecht an der Universität Glasgow, im Gespräch mit Henry Steinhau von Irights.info. Er skizziert auch einen Weg aus dem Gestrüpp der Rechte: "Man könnte eine Regel einführen, wie man sie aus dem internationalen Markenschutzrecht kennt. Wird eine geschützte Marke eine bestimmte Zeit lang nicht genutzt, kann der Rechteinhaber sie verlieren. Etwas Ähnliches ließe sich für urheberrechtliche Werke entwickeln. Meiner Ansicht nach wäre das ein pragmatischer Weg, weil es ein solches Rechtsprinzip, das den Schutz einschränkt, bereits gibt."

In der FAZ erklärt Verleger Georg Siebeck vom Wissenschaftsverlag Mohr Siebeck, dass vor allem kleine Verlage unter einer Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht, wie sie der Gutachter Justus Haucap propagiert (mehr hier), leiden werden. Am Schluss fordert er die Quadratur des Kreises: So sei "die Vielzahl der verschiedenen Schranken (und Schranken-Schranken) höchst problematisch. Die Zusammenfassung in ein oder zwei übersichtlich gestaltete Ausnahmeregeln wäre sicher besser. Jede Gesetzesänderung muss jedoch die Vielgestalt und die Differenzierungen berücksichtigen und insbesondere die Auswirkungen realistisch abschätzen."
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Wissenschaft

Matthias Heine führt in der Welt ein instruktives Gespräch mit dem Schriftforscher Ernst Kausen über die Frage, ob die jüngst in Bulgarien gefundenen Tafeln mit Symbolen die älteste Schrift der Welt seien - er verneint: "Insbesondere wäre ja dann die Schrift eine europäische und keine orientalische Erfindung, gewissermaßen 'ex occidente lux'. Die große Mehrheit der Forscher, die sich mit der Entstehung der Schrift befassen, lehnt die Deutung der die meisten Zeichen sind wahrscheinlich traditionelle Töpfermarken als Schrift aber aus guten Gründen ab." Grund: "Die meisten Zeichen sind wahrscheinlich traditionelle Töpfermarken."
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Geschichte

In der Berliner Zeitung erinnert Götz Aly daran, wie deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg systematisch russische Kriegsgefangene sterben ließen, wie es u.a. der polnische Arzt Dr. Zygmunt Klukowski beobachtete: "Anfangs waren es besonders viele: Zwischen September 1941 und Januar 1942 verhungerten und erfroren monatlich etwa 400.000 sowjetische Gefangene. Man schweigt darüber. Warum nur? Die Lebensmittel, die mit den von Klukowski geschilderten mörderischen Methoden eingespart wurden, kamen deutschen Soldaten, Müttern und deren arischen Wonneproppen zugute. Im Sinne transparenter Politik verkündete Hermann Göring im Radio: 'Wenn in diesem Krieg gehungert wird, dann hungern andere!'"
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Medien

Der bisherige VG-Wort-Scheck für Buch- und Presse-Autoren von etwa 500 bis tausend Euro im Jahr könnte sich glatt verdoppeln, schreibt Wolfgang Michal in seinem Blog. Der Jurist Martin Vogel hat vor dem BGH (und vier Instanzen zuvor) erstritten, dass die Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaft allein den Autoren, nicht den Verlagen zustehen (mehr hier). Auf die Autoren wartet außerdem eine Rückzahlung aus den Vorjahren. Michal erklärt die komplizierte Sachlage noch einmal sehr verständlich und macht auf eine Versammlung der VG am Samstag aufmerksam, in der sich die Autoren ihr Recht womöglich schon wieder abnehmen lassen: "Die VG Wort-Funktionäre haben extra zwei hochkomplizierte Anträge aufgesetzt, mit denen sie die Autoren am kommenden Samstag von einer schnellen und umfassenden Rückforderung des Geldes abhalten wollen. Auch die großen Koalitionen in Berlin und Brüssel arbeiten daran, die einschlägigen Urteile des BGH und des Europäischen Gerichtshofs durch hastig gestrickte Gesetze wieder auszuhebeln, und selbst die Gewerkschafts-Funktionäre, die doch eigentlich die Interessen der Autoren zu hundert Prozent vertreten müssten, wollen, dass ihre Mitglieder auf einen Teil ihres Einkommens zugunsten der Verleger verzichten." Mehr zum Thema in zwei offenen Briefen, die Martin Vogel im Perlentaucher veröffentlicht hat.

Micha Brumlik kritisiert einen in der Tagesschau verlesenen Halbsatz, der besagte, "dass die von der Türkei begangenen Massaker an den Armeniern vom Deutschen Bundestag als Völkermord" bezeichnet werden. Was hat die Redaktion getrieben, den Begriff "Massaker", statt die Ereignisse von vornherein als Genozid einzuordnen, fragt Bumlik: "Die ARD, das dürfte jetzt deutlich geworden sein, hat sich mit seiner feinsinnigen Unterscheidung seines bisher untadeligen Rufs als unabhängige Rundfunkanstalt entledigt und sich in vorauseilendem Gehorsam als Staatsfernsehen der Bundesregierung offenbart. Die Argumente? Kann man sich denken: 'Nur kein Öl ins Feuer gießen - wir müssen schließlich an das Wohl unserer Korrespondenten am Bosporus denken …'"

Weiteres:  Jens Twiehaus  von turi2 fand im neuen Zeit-Magazin Mann "Edelstahl-Uhren, Rindsleder-Rucksäcke und Unterhemden aus Mako-Baumwolle" und 180 Seiten Luxusmarken-Werbung.
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