28.09.2016. Michel Houellebecqs Schirrmacher-Preisrede stößt auf teils recht böse Reaktionen in den Zeitungen. In der taz freut sich die malaysische Popsängerin Yuna, dass Dolce und Gabbana nun auch tugendhafte Mode machen. Timothy Garton Ash bringt eine Tafel mit zehn Geboten fürs Internet und für Redefreiheit. Die SZ nimmt sie dankend entgegen. Bei Zeit online erfährt man, dass Geheimdienste eher miteinander befreundet sind als mit ihren Staaten. Bei Carta fordert Christian Humborg von correctiv.org Stiftungen auf, Journalismus zu finanzieren.
Ideen, 28.09.2016
Böse Reaktionen gibt es in den Feuilletons auf die
Dankesrede Michel Houellebecqs zum Schirrmacher-Preis. Muss der Mann seine Potenzprobleme politisch ausagieren,
stöhnt Robin Detje auf
Zeit online? "Der Kern von Houellebecqs großer
altmännergeiler Weltdeutung aber lautet: Europa steht vor dem Selbstmord, und zwar wegen höherer Geburtenrate der Muselmanen. Muselmanen
vögeln einfach mehr und geben ihren Frauen keine Pille, und Vögeln ohne Verhüten ist die Männermacht, die Kulturkriege entscheidet. Unser Preisträger wirft hier sozusagen mit großer Geste das blutige Handtuch der Kameliendame. Untergang! Unterwerfung!" Ein Chor, in dem Detje auch Sarrazin, Safranski und Monika Maron hört.
Gregor Dotzauer
ist im
Tagesspiegel für jede Houellebecqsche Provokation zu haben, solange sie
literarisch bleibt: "Der Rätselmann aber, der sich auch in der öffentlichen Rede hinter Andeutungen versteckt, ist
eine Zumutung." Für Andreas Rosenfelder (
Welt) dagegen
zeigt sich genau darin, dass Houellebecq
immer ein Schriftsteller ist (oder ein Prophet), egal wo und wie er auftritt: "Man muss nicht gleich im Lexikon für Theologie und Kirche nachschlagen, um die wichtigste Eigenheit der
prophetischen Rede in Erinnerung zu rufen: Sie ist mehrdeutig, uneindeutig, auf Auslegung angewiesen. Der Prophet spricht die Wahrheit aus, aber er kann sie nur im Modus der Unverständlichkeit aussprechen. Das verbindet ihn mit dem Schriftsteller: Die
Unentscheidbarkeit des Sinns ist vielleicht das einzige Kriterium zur Bestimmung von Literatur, das vom verlotterten Erbe der Postmoderne übrig blieb."
Karen Horn
mahnt in der
NZZ auch Liberale zu intellektueller Offenheit und warnt vor den "
Echo Chambers" Gleichgesinnter, wie sie auf
Facebook entstehen: "Gewiss eröffnen sie einen idealen Raum dafür, eine Argumentation zu verfeinern, ohne dass man jeweils bei Adam und Eva anfangen muss. Wenn sie aber zur Normalität werden, zur vorherrschenden Form des Austausches, dann geraten sie zum
Forum für Rabauken und Denkfaule. In der Ödnis eines weltanschaulichen Reduits schaukelt man sich gegenseitig hoch; Drastik ersetzt Präzision; Wut verdrängt Geist."
Timothy Garton Ash betätigt sich als Moses der Digitalisierung und bringt
zehn Gebote fürs Internet und
für Redefreiheit, die Gustav Seibt in der
SZ zustimmend referiert: "Unmissverständlich benennt Garton Ash auch das Gewaltproblem großer Teile des
heutigen Islams, seine in der Kosmopolis
völlig inakzeptable Intoleranz. Aber genauso weiß er: 'Kaum etwas ist lächerlicher als ein westlicher Atheist, der kaum etwas über den Islam weiß, aber dennoch mit einer kaum benutzten Penguin-Ausgabe des Korans herumwedelt und verkündet: Da seht ihr's, im Islam muss der Abfall vom Glauben immer mit dem Tode bestraft werden!' Wenn es hierzulande die Reclam-Ausgabe und nicht
irgendein Google-Treffer ist, hat man noch Glück."
Außerdem
liest Kersten Knipp in der
NZZ neue Bücher
französischer Intellektueller zur Krise des Landes.
Politik, 28.09.2016
Die USA, Großbritannien und Frankreich sparten beim Treffen des Sicherheitsrates in New York nicht mit harten Worten gegen den
blutigen Krieg Assads und Putins gegen die syrische Bevölkerung, vor allem derzeit in Aleppo. Doch anschließend geschah - nichts,
entsetzt sich Andrea Backhaus auf
Zeit online: "Weder wurde eine Verlängerung der
Waffenruhe beschlossen, noch die Einrichtung einer
Flugverbotszone oder von
Fluchtkorridoren für die eingeschlossene Bevölkerung in Ost-Aleppo. Es wurde nicht einmal eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Das ist nicht mehr nur beschämend. Es ist nicht mehr zu ertragen. Denn es zeigt: Es gibt
kein Instrumentarium, keine westliche Strategie, um die Syrer vor den Massakern der eigenen Regierung zu beschützen."
"Zum ersten Mal in der Geschichte des Völkerstrafrechts ist die
Zerstörung von Kulturgütern als Kriegsverbrechen geahndet worden", schreiben Alexander Haneke und Thomas Scheen in der
FAZ nach der Verurteilung des Islamisten Ahmad al Faqi al Mahdi durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. "Immer wieder in der Geschichte hat es solche Angriffe gegeben. Aber seit der Sprengung der Buddha-Statuen im afghanischen Bamiyan durch die Taliban im Jahr 2001 und den jüngsten Zerstörungen in der syrischen Oasenstadt Palmyra durch die Terrormiliz 'Islamischer Staat' ist die
Strategie der Auslöschung vorislamischer Kultur ins Bewusstsein der Weltgemeinschaft gerückt."
Religion, 28.09.2016
In der
taz unterhält sich Osia Katsidou mit der malaysischen Popsängerin
Yuna, die auch international bekannt ist und in Amerika lebt. Sie klagt über Hate Speech in Amerika und begrüßt es, dass Designer wie Dolce und Gabbana neuerdings auch "
bescheidene"
Mode entwerfen: "Ich finde es sehr cool, dass man sich uns öffnet. Heute erst habe ich in einer Modezeitschrift gelesen, dass der neueste Trend das Tragen von Hosen unter Kleidern ist. Das machen
wir Musliminnen ja ständig. Ich finde diese Bewegung gut, weil sie plötzlich Frauen in Betracht zieht, die vorher aus dem Fashion-Kontext herausfielen - und zwar grundlos. Vor allem, wenn man sie Dingen wie dem
Burkini-Verbot in Frankreich gegenüberstellt, ist das eine sehr gute Entwicklung. Dabei geht es auch nicht in erster Linie um Kleidung, sondern darum, dass Musliminnen
plötzlich sichtbar sind und wahrgenommen werden. "
Überwachung, 28.09.2016
Dass Geheimdienste nur untereinander loyal sind und nicht gegenüber den Staaten, die sie angeblich beschützen, lernt man wieder einmal aus einem
Bericht auf
Zeit online über die
Videoüberwachungstechnik der amerikanischen Firma NetBotz. Sie hat
Hintertüren für die NSA eingebaut, mit der die Amerikaner die gesammelten Überwachungsdaten abgreifen können. Auch in Deutschland. Und der
BND wusste das: "Normalerweise wäre das ein Fall für den Verfassungsschutz (BfV) gewesen, der in Deutschland für die Spionageabwehr zuständig ist. Aber der BND verschwieg sein Wissen ganz bewusst, wie es in dem Papier aus dem Jahr 2005 heißt. Der Dienst fürchtete, eine Offenlegung könne politische Auswirkungen haben. Im Klartext: Aus Angst, die US-Geheimdienste könnten ihre
Kooperation mit dem BND beenden, ließ man den großen Bruder bei der Spionage in Deutschland gewähren."
Wissenschaft, 28.09.2016
Auf
faz.net beklagt Katharina Laszlo die
Ökonomisierung der Geisteswissenschaften in Britannien. Das Ranking der Institute und damit auch die Höhe der Fördergelder hänge jetzt zum Teil davon ab, wieviel "Impact" Forschungsprojekte hatten: "'Impact' wird den Universitäten nur dann bescheinigt, wenn sie nachweisen können, dass sie ihre 'neuen Funde'
aktiv in die Außenwelt befördert haben. An der Universität Durham konnte ein Literaturwissenschaftler dokumentieren, dass seine Forschung zum 'medizinischer Kannibalismus in der Frühen Neuzeit' zu
BBC-Sendungen mit Titeln wie 'The people who drink human blood' führte. Das Englisch-Institut in Durham schnitt danach
deutlich überdurchschnittlich ab."
Höchst eigenwillige wissenschaftliche Wege gehen auch die engsten Vertrauten des russischen Präsidenten Putin,
erzählt Nikolai Klimeniouk in der
FAS. Das zeigte ihm unter anderem ein Blick in die wissenschaftlichen Arbeiten des neuen Chefs der russischen Präsidialverwaltung,
Anton Waino, der ein Gerät namens
Nooskop vorstellte, mit dem man "das kollektive Bewusstsein der Menschheit erforschen" und beeinflussen könne. Der Gedanke ist nicht neu, meint Klimeniouk: "So erzählte ein ehemaliger KGB-General in einem Zeitungsinterview, russische Geheimdienste würden über
Gedankenscanner verfügen und hätten damit
antirussische Gedanken im Kopf der früheren amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright gelesen."
Medien, 28.09.2016
In der
Carta-Serie über die Zukunft der Journalismusfinanzierung
findet auch
Christian Humborg, Geschäftsführer von
correctiv.org,
kein Geschäftsmodell für Information. Er schlägt darum, besonders auf lokaler Ebene, mehr "gemeinnützigen Journalismus" vor: "Auch
Stiftungen können bei der Gestaltung neuer, innovativer Organisations- und Geschäftsmodelle wichtige inhaltliche und finanzielle Impulse geben. Ich bin verblüfft, wenn ich sehe, wie viel Geld Stiftungen zur
Produktion von Studien stecken und wie wenig in journalistische Recherchen. Eine gute Studie ist teuer, wird bei einer Pressekonferenz vorgestellt und dann erfreut man sich an
zwei Schnipseln des Pressespiegels. Lange, tiefe Recherchen und ihre Veröffentlichung haben eine vielfach höhere Kraft, gesellschaftliche Debatten zu verändern. Stiftungen müssen verstärkt Medienprojekte fördern, denn lange, tiefe Recherchen haben eine große Kraft, gesellschaftliche Debatten anzustoßen." Humborg ist nicht schüchtern und fordert außerdem, dass die
Öffentlich-Rechtlichen radikal reformiert und dass die "
Datenkonzerne" wie Google und Facebook zerschlagen werden.
Alex T. Williams
berichtet in der
Columbia Journalism Review über die Lage des Journalismus in den USA. Zwar habe sich die Zahl der Journalisten in Online-only-Publikationen in den letzten zehn Jahren verdreifacht: "Dieses Wachstum verblasst allerdings vor der Hintergrund der Zahl
entlassener Zeitungsjournalisten. Und in den letzten Jahren stagniert die Zahl der Journalisten in digitalen Publikationen. Da es heute insgesamt weniger Journalisten gibt, konzentrieren sich die meisten Reporter an den beiden Küsten.
Investigativer und
lokaler Journalismus schrumpfen, und die Kluft zwischen der Zahl der Journalisten und der Zahl der PR-Spezialisten wird immer größer."
Im amerikanischen Magazin
Nautilus beklagt Trevor Quirk die vielfachen Überschneidungen zwischen
Wissenschaftsjournalismus und PR: "Profis bewegen sich mit relativer Leichtigkeit und ohne großes Stigma zwischen Zeitungen, Webseiten, Magazinen und dem, was man
Propagandazentren nennen könnte: den Kommunikationsabteilungen von Universitäten, Regierungsagenturen, Firmen-PR-Abteilungen, Forschungsabteilungen des Militärs und so weiter. Es sollte also niemanden überraschen, dass man diese beiden Domänen manchmal kaum noch auseinanderhalten kann. Versuche, die Öffentlichkeit über Wissenschaften zu
informieren, lassen sich kaum noch unterscheiden von Versuchen, sie zu
promoten."