9punkt - Die Debattenrundschau

Statt sich ums Weltgeschehen zu kümmern

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2016. Fast schlimmer als die Enthemmung der Dresdner Demonstranten ist das Umfeld, das sie gewähren lässt, meint Thomas Schmid in der Welt. Politico.eu porträtiert einen der wenigen offen homosexuellen Politiker Polens, Robert Biedroń, der zur Hoffnung der Opposition werden könnte. Die FR schlägt eine Reduzierung der Öffentlich-Rechtlichen und einen Fonds für neue Medienprojekte vor. Die NZZ sorgt sich um die Kulturdenkmäler aus vorislamischer Zeit in Tunesien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.10.2016 finden Sie hier

Europa

Die konservative britische Premierministerin Theresa May hat es mit ihrer Parteitagsrede geschafft, die schottischen Nationalisten gegen sich aufzubringen, erzählt Peter Geoghegan in politico.eu: "Sie sagte, sie werde 'spalterischen Nationalisten niemals erlauben, die kostbare Union der vier Nationenen des Vereinten Königreichs zu untergraben'. Mays Worte wurden in Edinburgh nicht begrüßt. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon beschuldigt May, dass sie 'keine Mühe scheut zu verdeutlichen, dass die schottische Stimme und schottische Interessen nicht zählen'. 'Seltsamer Ansatz für jemand, der das Vereinte Königkreich zusammenhalten will', twitterte sie außerdem."

Auch in Kreuzberg sind die innertürkischen Auseinandersetzungen spürbar, schreibt der Kreuzberger Max Thomas Mehr im Hauptstadtbrief - und leider sind nicht wenige Kreuzberger türkischer Herkunft pro Erdogan: "Während ich mich aufrege über die Verurteilung des Cumhuriyet-Chefredakteurs Can Dündar wegen seiner Aufdeckung türkischer Waffenlieferungen nach Syrien, die in meinen Augen eine investigative Glanzleistung ist, gilt er meinen Kreuzberger türkischen Nachbarn als Hochverräter - offenbar vor allem deshalb, weil Erdogan den Deal gedeckt hatte. Was deutsche Medien darüber berichten, ist 'Lügenpresse'-Propaganda."

In der Welt blickt Thomas Schmid mit Abscheu auf die Enthemmung in Dresden, die sich am Tag der deutschen Einheit in ihrer abstoßendesten Variante zeigte: "Es ist eine besonders trübe Ironie der Geschichte, dass heute Elemente der NS-Sprache ausgerechnet in der Stadt Klemperers wieder in Umlauf und Mode kommen. Und dass, am Tag der Deutschen Einheit, in dieser Stadt - von der Polizei nicht beanstandet - ein Plakat herumgetragen werden kann, auf dem ein Satz von Joseph Goebbels steht: 'Der Idee der NSDAP entsprechend sind wir die deutsche Linke.' ... Wie enthemmt der Mob sein kann, zeigte sich daran, dass einzelne Demonstranten in Dresden, unbehindert von ihren Mitdemonstranten, sich das Recht nahmen, die Definitionsmacht darüber auszuüben, wer ein Mensch sei und wer nicht. Als sie am Rande der Einheitsfeier eines Schwarzen ansichtig wurden, gaben sie Affenlaute von sich und ahmten Affenbewegungen nach."

In der Sonntags-FAZ (nachträglich online gestellt) schildert Karen Krüger das Leben der Muslime in Dresden: "Ich traf Muslime, denen in der Stadt, in der sie leben und mit der sie sich verbunden fühlen, Woche für Woche grölend erklärt wird, dass sie da nicht hingehören. Sie erzählten mir, dass es viel Kraft erfordere, sich davon nicht das Selbstwertgefühl nehmen zu lassen. Nun, nach dem Bombenattentat fragen sie sich: Wie sicher sind wir noch in Dresden?"

Claudia Ciobanu porträtiert in politico.eu den Bürgermeister der polnischen Stadt Stolp, heute Slupsk, Robert Biedroń, einen der wenigen offen homosexuellen Politiker in Polen und einem der möglichen Anführer einer Opposition gegen die  katholisch-nationalistische Regierung. Kleine Städte wie Stolp seien zwar in der Regel ehe konservativer als Großstädte, aber das gelte nicht für Stolp, so Ciobanu: "Wie andere Landstriche Westpolen ist die Stadt weniger religiös und liberaler als der Osten. Biedroń beschreibt sie als einen Ort, 'wo jeder ein Flüchtling ist' und spielt damit auf ihre turbulente Geschichte an. Die Stadt war bis 1945 deutsch. Nach 1945 kamen Polen und Ukrainer aus dem Osten und wurden hier an stelle der deutschen Bevölkerung der ermordeten Juden angesiedelt." In der taz berichtet Judyta Smykowski nochmal von den polnischen Protesten gegen das geplante totale Abtreibungsverbot.
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Medien

In der FR greift Christian Bommarius in die Diskussion um die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen ein und plädiert nach Lektüre des Aufrufs "Bewegt Euch!", den zwei Politik-Wissenschaftler der Universität Friedrichshafen letztes Jahr in der SZ veröffentlichten, für eine Fusionierung von ARD und ZDF zu einem deutlich verschlankten Sender. Anschließend könne man die Gebühren senken und: "Parallel zur Fusion sei die Gründung einer nationalen Medienstiftung sinnvoll, schrieben die Wissenschaftler. Diese Stiftung könne 'in den Wettbewerb um die spannendsten, innovativsten und zukunftsfähigsten Medienprojekte' eintreten. Sie hätte Risikokapital für neuartige Produktionen zur Verfügung zu stellen und müsste diejenige Institution werden, 'die dafür sorgt, dass Deutschland international bei neuen Formaten und neuen Medienprodukten mithalten kann'."

Sebastian Jannasch schildert in der SZ Tendenzen im deutschen Lokaljournalismus: "Weniger Abonnenten, geringere Anzeigenerlöse und sinkende Auflagen führen gerade bei Regionalzeitungen zu großem Kostendruck. Ihr Heil suchen immer mehr Verlage in der engeren Verzahnung von zuvor eigenständigen Redaktionen. Überregionale Berichte aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft liefern übergeordnete Zentralredaktionen. Die Idee: Statt sich ums Weltgeschehen zu kümmern, bleibt mehr Zeit fürs Wesentliche, also für lokale Themen. Verleger feiern es als die Rettung des regionalen Qualitätsjournalismus, Kritiker sehen die Pressevielfalt durch redaktionellen Einheitsbrei in Gefahr."
Archiv: Medien

Geschichte

In der NZZ sorgt sich Beat Stauffer um die Kulturdenkmäler aus vorislamischer Zeit in Tunesien. Die Behörden kümmern sich kaum mehr darum. Die Folge: Korruption, Raubgrabungen, Verfall. Kleine lokale Vereine versuchen diese Entwicklung zu bekämpfen, lernt Stauffer: So hat der kleine Verein Association de la sauvegarde des monuments de Sidi Bou Said Geld gesammelt für die Renovierung des von Salafisten schwer beschädigten Grabmals eines Lokalheiligen und es renoviert: "Heute erstrahlt das historische Monument, welches nach wie vor von einer Bruderschaft genutzt wird, wieder in neuem Glanz. Der Verein kümmert sich laut Aussagen seines Präsidenten, Walid Maaouia, auch allgemein um die Sensibilisierung der Bevölkerung in Sachen Denkmalschutz und versucht außerdem die Behörden in dieser Hinsicht aufzurütteln. Zeichen der Hoffnung wie die kleine Bürgerinitiative haben im nachrevolutionären Tunesien Seltenheitswert. Umso mehr verdienen sie Unterstützung."

Außerdem: Matthias Heine liest sich für die Welt durch ein Fundstück aus dem Jahre 1941 über "Die Sprache der Hitlerjugend". Die Historikerin Brigitte Hamann ist gestorben, meldet Lisa Mayr im Standard. Die Autorin von "Hitlers Wien" und vielen anderen Büchern wurde von Akademikern ebenso gelesen, wie vom breiten Publikum, schreibt Mayr: "Brigitte Hamanns Erfolg bestand vor allem darin, exakt recherchierte historische Fakten verständlich, plausibel und mit humanistischer Haltung so zu erzählen, dass sie sehr viele Menschen erreichen - so, dass sie Debatten im Großen und Reflexionsprozesse im Kleinen auslösen."
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Überwachung

Mit den offenbar vom russischen Geheimdienst gesteuerten "DNC-Enthüllungen" hat Wikileaks jüngst dem Wahlkampf von Donald Trump genützt. Die herzliche Feindschaft zwischen Julian Assange, der in diesen Tagen wie immer großspurige Andeutungen über neue Enthüllungen macht, und Hillary Clinton datiert aus dem Jahr 2010, als Wikileaks Dokumente des State Department veröffentlichte, erläutert Bernd Pickert in der taz: "Ihre Reaktion gegen Assange fiel beinhart aus. In internen Besprechungen soll sie, so schreiben es jetzt verschiedene US-Medien unter Berufung auf anonyme Quellen aus dem damaligen State Department, ernsthaft die Ermordung Assanges per Drohne diskutiert haben. Das wiederum schlachtet Wikileaks nun groß aus - nachprüfbar ist die Information nicht. Spätestens seit den DNC-Enthüllungen ist Wikileaks fester Bestandteil des US-Wahlkampfs geworden."

Reuters meldet, dass Yahoo seine Nutzer per Software ausspionierte und die Daten an amerikanische Geheimdienste weitergab.
Archiv: Überwachung