9punkt - Die Debattenrundschau

Utopischer Kampf um Revision der Geschichte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2016. "Die Verwundeten liegen auf dem Boden mit ihren offenen Wunden, und wir waten durch das Blut." Die taz hat per Skype und WhatsApp Zeugenberichte aus Aleppo gesammelt.  Sollen Schachspielerinnen aus der ganzen Welt Kopftücher aufsetzen, um in Teheran zur Weltmeisterschaft anzutreten?, fragt die SZ.  Sollte das polnische Parlament nach den Protesten gegen das Abtreibungsverbot eine Kehrtwende machen?, fragt der Guardian.  Und: Wagenknecht ist nicht die Petry der Linkspartei, beteuert Lafontaine laut taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.10.2016 finden Sie hier

Politik

Cedric Rehman hat für die taz über Skype und WhatsApp Zeugenberichte aus Aleppo gesammelt, das unter fortwährendem Beschuss russischer und syrischer Bomber steht. Der Arzt  Mohamed Alhalaby sagt: "Wir verlieren täglich Patienten, weil wir sie nicht angemessen behandeln können. Andere müssen wir abweisen, weil unsere Kapazitäten erschöpft sind. Unser Gesundheitswesen war nicht schlecht vor dem Krieg. Jetzt sind die Kliniken in Aleppo alle mehr oder weniger zerstört. Wir arbeiten in Ruinen. Die Fenster haben kein Glas, Staub und Rauch ziehen durch die Gänge, wenn in der Nähe bombardiert wird. Es herrscht Chaos. Die Verwundeten liegen auf dem Boden mit ihren offenen Wunden, und wir waten durch das Blut."

Der Schachverband hat festgelegt, dass die Weltmeisterschaft der Frauen 2017 ausgerechnet in Teheran stattfinden soll - die Spielerinnen aus der ganzen Welt wären gezwungen, Kopftuch zu tragen. Dagegen hat die georgische Spielerin Nazi Paikidze-Barnes schon heftig protestiert, berichtet Christoph Droner auf der Seite für Vermischtes der SZ. Auch andere Spielerinnen wollen sich nicht das Kopftuch aufsetzen: "Die Kommission für Frauenschach im Weltverband hat die Spielerinnen nun dazu aufgerufen, 'kulturelle Differenzen zu respektieren'. Doch nicht nur die frühere Schachmeisterin Carla Heredia aus Ecuador meint: 'Keine Institution, keine Regierung und auch keine Weltmeisterschaft im Schach sollte Frauen zwingen, ein Kopftuch zu tragen.' Jetzt aber haben, das ist die andere Seite, iranische Schachspielerinnen im britischen Guardian ihre Kolleginnen zur Teilnahme aufgefordert. 'Die Spiele sind wichtig für die Frauen in Iran. Sie geben uns eine Gelegenheit, unsere Stärke zu zeigen', argumentierte Großmeisterin Mitra Hejazipour, 23. Was tun?" Ohne Kopftuch spielen, so viel kulturelle Differenz muss schon sein.
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Stichwörter: Aleppo, Syrien, Schach, Drone, Ecuador

Kulturmarkt

Von wegen Freihandel und freier Austausch der Ideen. Buchmessenchef Juergen Boos desillusioniert die FAZ-Redakteure Jürgen Kaube und Andreas Platthaus im Gespräch: "Im Gegenteil, die Welt wird immer verschlossener. Auch von den Inhalten her. Selbst hier in Europa, in Italien zum Beispiel, ist es in der Regel so, dass Verleger auch Buchhändler sind. Die großen Verlage kontrollieren in Italien jeweils ein Drittel des Buchhandels. Und in den Läden führt man dann nicht unbedingt die Bücher der Konkurrenz. Die italienischen Verlage sind in der Regel auch an Tageszeitungen beteiligt, so dass sie in gewisser Weise die Promotion der Bücher gleich mitsteuern können."
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Internet

Die neuen Google-Geräte tun vor allem eins: Sie verbinden bereits bestehende Apps über Sprachbefehle, schreibt Sascha Lobo in seiner Spiegel-Online-Kolumne: "Sprache als Interface verschiebt die ökonomische Macht dramatisch in Richtung der Plattformen. In der komplizierten und vielschichtigen App-Welt begegnet man jeder Alltagsaufgabe mit einer eigenen App. In der kommenden, dialoggesteuerten Netzwelt sollen sich digitale Assistenten wie eine sprachfähige Mehltauschicht über alles Digitale legen. Man benutzt keine App mehr, man lässt den Assistenten eine App benutzen." Und der Benutzer muss alle Schleusen der Überwachung aufmachen, um richtig Spaß zu haben."

Außerdem: Sarah Pines versucht, die Leser der NZZ von den Schönheiten der kommenden Virtual-Reality-Technologie zu überzeugen.
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Gesellschaft

Toleranz der Gleichgültigkeit genügt heute nicht mehr, Empathie ist gefragt mit allen sich zurückgesetzt Fühlenden. Druckmittel ist das Beleidigtsein, diagnostiziert Jens Jessen im Feuilleton der Zeit: "Da man der Männer nicht mehr habhaft werden kann, die in der Vergangenheit Sklaven gehalten haben, Frauen unterdrückt, Schwule verfolgt, ferne Länder kolonialisiert haben, darf man sich an ihren Nachkommen schadlos halten. In diesen Zusammenhang gehört die notorisch abfällige Rede von den weißen heterosexuellen (gerne auch: alten) Männern. ... Es gilt die Regel: Da die Opfer seinerzeit unschuldig waren, können die Nachfahren der Täter heute auch mal unschuldig etwas zu leiden bekommen. Im Übrigen kann niemand als ganz unschuldig gelten, dessen Geschlecht oder Herkunft auf die einstmals Herrschenden weist. So wird ein utopischer Kampf um Revision der Geschichte geführt: Beleidiger und Beleidigte sollen die Plätze tauschen. Eine rasende Wut hat die Idee der Sippenhaft und Erbschuld renoviert und bringt sie gegen die aufgeklärte Gesellschaft in Stellung."

In der NZZ denkt Barbara Vinken angesichts der Debatte um Burka, Kopftuch und Burkini über Kleiderordnungen im Westen nach. Gewiss, es gibt sie noch heute. Aber: "Angesichts der von Frantz Fanon beschriebenen Zwangsentschleierungen der Algerierinnen auf öffentlichen Plätzen, die die französischen Kolonialherren unter Rufen wie 'Vive l'Algérie française' unternahmen, könnte man aus der Geschichte doch eines gelernt haben: Es ist keine wirklich gute Idee, Leute mit Gewalt zur Freiheit zu zwingen."

Vielleicht ist der Widerstand gegen das Kopftuch so groß, weil man das Gefühl hat, es bleibt nie dabei? In Kaschmir etwa, berichtet Jan Ross in der Zeit, ist in jüngster Zeit eine fortschreitende Islamisierung zu erkennen: "Kaschmir, das seit Jahrhunderten muslimisch, aber nicht puritanisch-einförmig war, wird weniger bunt und vielfältig. ... Ein Universitätsmanager erklärt, Kulturveranstaltungen mit traditioneller Musik und Tanz, bei denen auch Frauen mitmachen, seien auf dem Campus mittlerweile unmöglich. Das Klima ist kälter und strenger geworden, wie unter einer unduldsamen Sittenpolizei."
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Europa

Eine Kehrwende scheint das polnische Parlament beim Abtreibungsgesetz zu machen, schreibt Christian Davies im Guardian: "Die Proteste haben uns Demut gelehrt", soll ein Abgeordneter gesagt haben, und einige Abgeordnete der Pis-Partei distanzierten sich von dem Gesetzentwurf, der ein bereits superscharfes Abtreibungsgesetz zum totalen Verbot verschärft: "Unter den Pis-Mitgliedern des Ausschusses, die nun gegen das Gesetz stimmen war  Krystyna Pawłowicz, die die Gegner des Abtreibungsverbots vor den Protesten am Montag noch als 'Fans von Babymord' bezeichnet hatte. Pis hatte den Gesetzesvorschlag nicht angestoßen. Er war durch eine Bürgerinitiative ins Parlament gebracht worden, eine Petition, die mehr als 100.000 Stimmen bekommen hatte und die von den konservativen Lobbygruppen Ordo Iuris und Stopp Abtreibung eingebracht worden war."

Eine Folge des Brexit wird die Verschärfung des britischen Überwachungsstaats sein, berichtet die SZ in ihrem Aufmacher über den Parteitag der Tories und die Rede der Premierministerin Theresa May: "Konzerne sollen darüber informieren, wie groß der Anteil der ausländischen Beschäftigten bei ihnen ist. Das soll in der Öffentlichkeit den Druck auf Manager erhöhen, die sehr vielen Einwanderern Jobs geben. Die Regeln für Studenten-Visa werde sie ebenfalls überprüfen, kündigte die konservative Politikerin an, die vor dem Referendum für den Verbleib in der EU geworben hatte."

In der Zeit fordert Museumsdirektor Martin Roth Museums- und Theaterleute auf, sich dem grassierenden Nationalismus in Europa offen entgegenzustellen: "Wie großartig aber wäre es, wenn jeder, der in Europa verantwortlich ist für die Zeugnisse der Geschichte - in den Hochschulen, Archiven, Bibliotheken, Museen, Theatern, Opern -, aufstehen würde und ganz einfach erklärte, zu welchem kulturellen Selbstmord ein übersteigerter Nationalismus führt. Vor allem sollten sich jene zu Wort melden, die durch ihre Reputation, ihre Erfahrung - und ihre Macht in der Lage sind, den gesellschaftlichen Diskurs entscheidend zu prägen. Sie sollten es tun, solange sie dies noch unabhängig und mit stolzer Stimme vermögen."

Ist Sahra Wagenknecht die Petry der Linkspartei? Die taz hatte jedenfalls nach einen Gespräch zwischen Frauke Petry und Wagenknecht in der FAS erstuunliche Harmonie zwischen den beiden festgestellt (unser Resümee) - woraufhin Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine auf Facebook die taz des "rechten Schmieren-Journalismus" bezichtigte. Georg Löwisch antwortet darauf in der taz: "Er ist der Mann, der 2005 in Chemnitz Familienväter und Frauen vor Arbeitslosigkeit warnte, 'weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen'. Und er ist auch der Mann, der heute noch gern erzählt, wie er Anfang der neunziger Jahre die Aushöhlung des Asylrechts mitgetragen hat."
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