9punkt - Die Debattenrundschau

Guernica, zum Beispiel

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2016. Die Proteste haben das totale Abtreibungsverbot in Polen verhindert. Die Pis-Partei ist eingeknickt. Im Guardian staunt die Aktivistin Krystyna Kacpura über die breite Mobilisierung gegen das geplante Gesetz. In The Daily Beast erinnert Anna Nemzowa an Anna Politkowskaja, die vor zehn Jahren ermordet wurde - die Hintermänner sind nach wie vor nicht gefasst. Das Schweigen der Weltöffentlichkeit zu Aleppo ist auch nichts anderes als das Schweigen der Weltöffentlichkeit zum Holocaust, meint Nitzan Horowitz in Ha'aretz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.10.2016 finden Sie hier

Europa

Gestern kündigte es sich schon an (unser Resümee): Das polnische Parlament ließ sich durch die Proteste der Frauen beeindrucken und stoppte das totale Abtreibungsverbot, berichtet Gabriele Lesser in der taz. Das heißt allerdings nur, dass die Proteste das Allerschlimmste verhindert haben: "Schon bislang zählt Polens Abtreibungsgesetz mit zu den strengsten in der Europäischen Union. Seit 1993 kann in Polen eine Schwangerschaft nur legal abgebrochen werden, wenn Gefahr für Gesundheit und Leben der Mutter droht, die Schwangerschaft Ergebnis einer Vergewaltigung ist oder aber der Fötus schwere Missbildungen aufweist. Der angebliche 'Kompromiss' wurde aber bereits auf gesellschaftlicher Ebene von Polens katholischer Kirche und katholischen Fundamentalisten so verschärft, dass es pro Jahr zu nicht einmal tausend legalen Schwangerschaftsabbrüchen kommt." Nach dem nun vorerst verhinderten Gesetzentwurf hätten vergewaltigte Frauen, die abtreiben, eine höhere Gefängnisstrafe bekommen als ihre Vergewaltiger.

Bei Vice porträtiert der Fotograf Karol Grygoruk einige der Frauen, die am Montag in Polen demonstrierten.

Die Aktivistin Krystyna Kacpura äußert sich im Guardian noch ganz euphorisch: "Die Proteste waren so spontan. Innerhalb von ein paar Tagen entschlossen sich Tausende von Frauen, an einem Montag ihre Arbeitsstelle zu verlassen, und wenn sie keinen freien Tag bekommen haben, erzählten mir viele, dann haben sie zu ihren Chefs gesagt, dass sie nicht zurückkommen würden, weil sie nicht mit Leuten arbeiten können, die nicht an ihre Rechte glauben."

In Frankreich ist die Rechte inzwischen laizistischer als die Linke, meint Jürg Altwegg auf faz.net und verweist auf die umstrittene Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem. Sie habe in der Schule beispielsweise das christliche Mittelalter zum Wahlfach degradiert, der Islam sei dagegen sei Pflichtstoff: "Der brisante Stoff wird auf den Nenner 'Christentümer und Islam: Welten im Kontakt' gebracht - warum auch nicht? Ehrlicherweise müsste man beifügen, dass diese Ausrichtung ideologische Motive hat und vor der Einsicht kapituliert, dass man das Leben und Wirken des Propheten in den Klassenzimmern der Vorstädte nur noch als Hagiografie lehren kann."

Alan Posener scheibt in der Welt über den ehemaligen Redaktionskollegen Nicolaus Fest, der nach einem muslimfeindlichen Kommentar gefeuert worden war und nun zum Intellektuellen der AfD avanciert. Auf einer Presskonferenz in Berlin forderte er dann gleich - unter Aufbietung von Gramsci-Zitaten - ein Verbot sämtlicher Moscheen. Posener: "Was man im Haus der Bundespressekonferenz erblickte, war wohl die Zukunft der AfD. Nicht kleinbürgerlich und verdruckst rechts, sondern urban und offen rechtsradikal."
Archiv: Europa

Überwachung

Die geplante Neufassung des Bundesarchivgesetzes sorgt für Kritik, berichtet Björn Czieslik bei turi2: "Das Netzwerk Recherche fürchtet eine Einschränkung der Informationsfreiheit. Denn die Novelle sieht vor, dass Nachrichtendienste wie der BND ihre Dokumente nur noch unter gewissen Umständen an das Bundesarchiv übergeben müssen, etwa wenn 'schutzwürdige Interessen' einer 'Abgabe nicht mehr entgegenstehen'."
Archiv: Überwachung

Politik

Eine ziemlich drastische Frage stellt Nitzan Horowitz in Ha'aretz: "How Did the World Remain Silent During the Holocaust? Exactly the Way It's Doing in Aleppo." Und er führt sein Argument aus: Warum wurden nicht wenigstens gegen Ende des Krieges, als sich der alliierte Sieg abzeichnete, die Gleise nach Auschwitz bombardiert? Die ungarischen Juden hätten noch gerettet werden können: "Hunderttausende Menschen. Wie konnten sie die Tore nicht sprengen? Wie? Blicken Sie nach Aleppo, dann wissen Sie, wie. Keine Vergleiche? Ich vergleiche. Mit Guernica zum Beispiel, dem Symbol faschistischer Gewalt im Spanischen Bürgerkrieg. Der Massenmörder Baschar al-Assad und sein brutaler Gehilfe Wladimir Putin werfen Fässer mit brennendem Öl auf Wohngebäude. Sie betreiben Flächenbombardierungen von Wohngebieten, töten Kinder, alte Leute, Bauern und Händler. Das dauert nun seit fünf Jahren. Eine halbe Million Menschen wurde getötet."

Vor zehn Jahren wurde in Moskau die investigative Journalistin Anna Politkowskaja auf offener Straße erschossen. Und immer noch weiß man nicht, wer die Auftraggeber für den Mord waren, erinnert Anna Nemtsova in The Daily Beast: "Who financed her killing? And why do those who plotted her murder continue to live unpunished after the crime? Each and every reporter working at Novaya Gazeta today feels responsible for answering that question. 'Even 10 years later we at Novaya Gazeta have different versions about the mastermind of Anya's assassination, but our newspaper cannot replace the state investigation. We have no resources to question all the suspects we have, including state officials, one head of a Russian region, and several military officers,' Novaya Gazeta editor-in-chief Dmitry Muratov told The Daily Beast."
Archiv: Politik

Medien

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Stichwörter: FAZ