10.10.2016. "Die Mächte der Aufklärung haben verloren, die des Glaubens auf ganzer Linie gesiegt", klagt heute Benjamin Korn im Tagesspiegel, der einen faszinierenden Blick auf Religionskritik im Italien des 19. Jahrhunderts wirft. In Deutschland wird unterdessen gestritten, welches Islamverständnis "liberal" ist. Außerdem: Britannien will seine Grenzen nach Irland verlegen, meldet der Guardian heute in seinem Aufmacher. In Bosnien brauen sich neue Spannungen zusammen, warnt die taz. Und die beste ungarische Zeitung, Népszabadság, wird geschleift.
Politik, 10.10.2016
Wie
Spon berichtet, ist der syrische Terrorverdächtige
Jaber al-Bakr in Leipzig gefasst worden. Die Überschrift "Polizei fasst verdächtigen Syrer" ist
allerdings falsch, wie sich beim Lesen des kurzen Berichts herausstellt. Gefasst wurde Bakr von einem
syrischen Landsmann: "Den hatte Bakr am Leipziger Hauptbahnhof angesprochen: Ob er bei ihm schlafen könne. Der Syrer lud ihn zu sich nach Hause ein und informierte am Abend die Polizei, nachdem er von der Fahndung gehört hatte. Die Polizisten fanden Bakr
gefesselt in der Wohnung."
In Interview mit dem
Standard plädiert Teju Cole dafür,
unpopuläre Standpunkte einzunehmen. Beispiel Hillary Clinton: "Es ist nicht verkehrt zu sagen, dass Hillary wohl
mehrere Kriege beginnen wird, weil sie daran glaubt, dass das Militär ein Instrument der Außenpolitik ist. Es ist nicht dumm oder naiv, das zu sagen, selbst wenn wir vor der Bedrohung eines Trump stehen. Wir müssen dafür kämpfen, dass Hillary Präsidentin wird, wie wir uns zugleich schon darauf vorbereiten müssen, ihre Präsidentschaft zu bekämpfen. Sie ist im Grunde eine rechtsradikale Liberale, was die Außenpolitik betrifft."
Europa, 10.10.2016
Der
Brexit ist schon eine hässliche Angelegenheit.
Aufmacher im
Guardian heute: Großbritannien setzt
Irland unter Druck. "Britannien will die Grenzlinie für
Einwanderungskontrollen an die irischen Häfen und Flughäfen verlegen, um keine 'harte Grenze' zwischen
Nordirland und der Republik Irland nach Verlassen der EU einführen zu müssen."
In
Bosnien-Herzegowina bauen sich neue Spannungen auf, auch dank
externer Akteure wie der Türkei, der Golfstaaten und Russlands,
schreibt Erich Rathfelder in der
taz: "Wichtigstes Pfund für die Russen sind die
orthodoxen Bevölkerungen, die traditionell große Sympathien für Russland empfinden - in Serbien, Bulgarien, Mazedonien, Montenegro, aber auch in Griechenland. Ökonomisch versucht Russland Abhängigkeiten zu schaffen. Nicht nur dass die meisten Länder des Balkans vom
russischen Gas abhängig sind; in Serbien und der Republika Srpska befindet sich die Ölindustrie schon in russischer Hand. Russische Banken versuchen, westliche und lokale Banken aufzukaufen."
Religion, 10.10.2016
Denkmal Giordano Brunos auf dem Campo dei Fiori in Rom. Auf dem Platz packen gerade die Markthändler ein. In einem
Essay zu Ehren des katholischen Aufklärers und Ketzer
Giordano Bruno erinnert
Benjamin Korn im
Tagesspiegel daran, dass Italien einmal fast so weit war, den
Vatikan aus Italien zu vertreiben. So stark waren die aufklärerischen Kräfte, dass sie gegen den erbitterten Widerstand der Kirche 1889 ein Bruno-Denkmal auf dem Campo dei Fiori in Rom errichteten: "Die Konfrontation, in der die Existenz der Kirche und die Zukunft Italiens auf der Kippe stehen, ist von unvorstellbarer
verbaler Brutalität. Weltberühmte Dichter,
Walt Whitman,
Henrik Ibsen,
Viktor Hugo werfen sich für das Projekt in die Schanze.
Giuseppe Garibaldi, der die Einigung Italiens vorantreibt, nennt das Papsttum 'ein Krebsgeschwür, das man aus Italien herausreißen muss', und unterstützt mit einer symbolischen Geldspende die Denkmals-Idee... Aus dem Schiff ist heute eine unscheinbare Nussschale geworden. ... Die Mächte der Aufklärung haben verloren, die des Glaubens auf ganzer Linie gesiegt.
Staatschef Renzi macht mit seiner Frau, die er bei den katholischen Pfadfindern kennenlernte, dem 'Heiligen Vater' regelmäßig seine Aufwartung, und der von Mussolini und dem Vatikan 1929 unterschriebene Lateran-Vertrag, der den
Katholizismus als Staatsreligion einsetzte - samt obligatorischem Religionsunterricht und Kruzifix in allen Schulen -, ist heute wirksamer denn je."
Die "liberalen Muslime" in Deutschland um
Lamya Kaddor einerseits und
Abdel-Hakim Ourghi andererseits zerfleischen sich gegenseitig, und den Zugang zu den konservativen Muslimen haben sie sich ohnehin verbaut,
glaubt der Islamwissenschaftler
Muhammad Sameer Murtaza in der
FR. Eine Reform des Islam könne nur von "ernsthaften" Gelehrten (wie ihm selbst?) in Angriff genommen werden: "Muslimische Gelehrte müssen analysieren, wie und weshalb extreme Auslegungen entstehen, und
präventive Maßnahmen ergreifen, wie dies in Zukunft zu verhindern ist. Hierzu gehören die Herausbildung eines kritischen Bewusstseins im Umgang mit religiösen Texten, aber auch realistische Erneuerungsvorschläge, die von der Breite der Muslime mitgetragen werden. Vor allem müssen die muslimischen Martin Luthers lernen, einen Weg zu finden,
anständig mit der muslimischen Community zu reden und nicht nur über sie."
Karen Krüger verteidigt in der
FAZ am Sonntag die Religionspädagogin
Lamya Kaddor, die sich wegen Morddrohungen vom Schuldienst zurückgezogen hat und neulich in
Zeit online (
hier) und im
Kölner Stadtanzeiger (
hier) Autoren wie
Henryk Broder, aber auch Karen Krügers
FAZ-Kollegin
Regina Mönch attackiert hatte - mit dem Argument, dass die Artikel dieser Autoren die Autoren von Hassmails gegen sie inspiriert hätten. Diese Attacken seien vielleicht überzogen, aber Kaddor vertrete einen liberalen Islam, so Krüger: "Sie hat 2010 den 'Liberal-islamischen Bund' gegründet, der sich, in bewusster Abgrenzung zu den islamischen Verbänden, als eine Vertretung von deutschen Muslimen und nicht von Muslimen in Deutschland versteht. Er tritt ein für ein offenes und
progressives Islamverständnis. Nicht in dem Sinn, dass er die Grundpfeiler des Islams umwerfen möchte, sondern indem er sich um ein zeitgemäßes Islamverständnis bemüht."
Geschichte, 10.10.2016
In der frühen Bundesrepublik half es, in der richtigen Partei gewesen zu sein, um im Bundesjustizministerium Karriere zu machen, sagt der Jurist Christoph Safferling, der gerade eine Studie zur Rolle des Ministeriums vorlegt, im Gespräch mit Ronen Steinke von der SZ: "Der Anteil der NSDAP-Mitglieder im Justizministerium ist nicht, wie man annehmen würde, nach dem Krieg gesunken, sondern seit Beginn der Fünfzigerjahre sogar noch weiter gestiegen. Die Spitze wurde 1957 erreicht, damals waren 77 Prozent der leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder, vom Referatsleiter an aufwärts. Das hat unsere Auswertung der Personalakten ergeben. Dass die Zahl so hoch sein würde, haben wir nicht erwartet. Erst danach kippt es langsam.
Gesellschaft, 10.10.2016
Wolf Biermann ist immer noch froh, dass er mit 16 Jahren in die DDR ging, bekennt er in einem langen
Interview mit der
Berliner Zeitung. Man stelle sich vor, was
im Westen aus ihm geworden wäre: "Ich wäre heute bei den Linken, bei Gregor Gysi im Verein. Ich wäre
verblödet. Sie verstehen, jemand, der so geprägt wurde wie ich, in einer kommunistischen Judenfamilie, der wäre von Hamburg aus jedes Jahr zweimal in den Osten gefahren auf Kosten der Arbeiter und Bauern zur
ideologischen Runderneuerung. Ich hätte mir eingebildet, klüger zu werden durch die Erlebnisse, die aber gar keine gewesen wären, bei solch einem staatlich organisierten Besuch. Ich musste in der DDR leben, um zu erkennen, was dort wirklich geschah. Ob ich mit meiner Prägung aus dieser Illusion sonst rausgekommen wäre, möchte ich schwer bezweifeln."
In der
FAS denkt Elisabeth Wagner über den alten und neuen Modetrend zur
Androgynität nach, den sie von Herzen begrüßt: Denn "das Androgyne hochaktuell, und es wird dringend im
Kampf gegen Fundamentalismen gebraucht. Nichts ist weiter entfernt von der Freiheit der Mode als die Verschleierung. Nichts zeigt das biologische Geschlecht unausweichlicher an als eine Burka. Genau das ist der sexistische Zweck. Die gängigen Begriffe für androgynen Style streichen die Isolation der Geschlechter. Sie lauten 'gender neutral' oder 'unisex', was ein bisschen technisch klingt, aber im Grunde
geradezu abenteuerlich romantisch ist. Möglich, dass die junge Generation das Geschlecht nicht mehr so sehr an der Kleidung abliest."
Medien, 10.10.2016
Hundert Redakteure der Tageszeitung
Népszabadság, die auch der
Perlentaucher häufig zitiert hat, sind am Samstagmorgen von einem Kurier geweckt worden, der ihnen die sofortige Einstellung der Zeitung mitteilte,
berichten Ralf Leonhard und Tibor Rácz
taz.
Népszabadság ist die letzte starke oppositionelle Stimme unter den ungarischen Medien und gehört zum Mediaworks-Imperium des österreichischen Unternehmers
Heinrich Pecina, der sich zu dem Vorgang nicht äußert und auf die Pressemitteilung verweist. "Die Redaktion glaubt nicht an die darin angeführten ökonomischen Motive und spricht von
Putsch", berichten die
tazler. "Die Zeitung sei in den letzten Jahren so schlankgespart worden, dass sie keine Verluste mehr schrieb. Außerdem sei sie der wichtigste Kunde der Druckerei, die demselben Unternehmen gehört. Mediaworks gibt zudem die wichtigste Sportzeitung, das einzige täglich erscheinende Wirtschaftsblatt und acht Regionalzeitungen heraus. Insgesamt wirft dieses kleine Medienimperium
Gewinne ab."
Zwischen
Hillary Clinton und Donald Trump gibt es einen Riesenunterschied, trotzdem werden sie von den amerikanischen Medien
als Gleiche behandelt,
kritisiert Gunda Trapp auf
faz.net: "Wie ist das möglich? Wie ist es möglich, dass ein Prahlhans neben einer in der Weltpolitik erfahrenen Frau wie Hillary Clinton überhaupt bestehen kann? Dass jemand wie er ernsthafte Aussichten hat, das wichtigste Amt der Welt zu übernehmen? ...
Ungleiches darf man ungleich behandeln. In diesem Fall muss man es. Weil man die Bürger sonst nicht informiert, sondern irreleitet."
Außerdem: (Via
turi2)
Corrrectiv.org meldet, dass der bekannte türkische Journalist
Can Dündar einen türkischsprachigen Dienst für das Rechercheteam aufbaut.