11.10.2016. Die Schließung der Népszabadság, der wichtigsten kritischen Stimme in Ungarn, ist ein finsterer Meilenstein für die dahinsiechende ungarische Demokratie, schreibt András Hont in HVG. Wir bringen eine ungarische Presseschau zum Thema. Widerstand ist machbar, beteuern Karolina und Chris Niedenthal, die in der taz über die Proteste gegen das polnische Abtreibungsgesetz sprechen. Nach wie vor ist die Honorierung freier Journalisten in Deutschland ein Hohn. Carta wundert sich nicht, dass die Medien darüber schweigen.
Medien, 11.10.2016
Schwerpunkt Népszabadság
(Letztes Titelblatt von Népszabadság.)
Am Samstag den 9. Oktober 2016 erschien (zumindest vorläufig) die letzte Ausgabe der auflagenstärksten ungarischen Tageszeitung
Népszabadság. Nach einem geplanten Umzug der Redaktionsräume wurde den Mitarbeitern der Zugang zu den neuen Büros durch die Eigentümerin und Herausgeberin Mediaworks verwehrt. Mediaworks, das von der österreichischen Investmentfirma
Vienna Capital Partners (VCP) kontrolliert wird, begründet den Schritt mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Zeitung, wobei gerade im vergangenen und im laufenden Jahr eine Konsolidierung sichtbar geworden war. Gleichzeitig wurden Online-Auftritt und -Archiv abgeschaltet. Mediaworks gehören neben
Népszabadság weitere Medien, unter anderem eine Sportzeitung und Regionalmedien und scheint sich für letztere in Verkaufsgesprächen mit regierungsnahen Verlagen zu befinden - ein weiterer drohender Schlag gegen die Meinungsvielfalt in Ungarn.
Élet és Irodalom veröffentlicht eine Solidaritätserklärung mit den Kollegen: "In Kenntnis der bis zum Samstag zur Verfügung stehenden Informationen sind wir angesichts der
Brutalität der Verfügung schockiert - und betonen, dass auch juristische Zweifel bestehen. Diese Vorgehensweise ist ein weiteres Beispiel für die
politische Gnadenlosigkeit, für die Kulturlosigkeit, für die sinnlose und zerstörerische Anmaßung der Orbán-Regierung."
András Hont
schreibt in HVG: "Ja, die Einstellung von
Népszabadság als Zeitung ist ein
finsterer Meilenstein auf dem Weg, an dessen Ende das vollständige Dahinsiechen der Freiheit der ungarischen Presse steht. (…) Die konkrete Geschichte handelt nicht von Wirtschaftlichkeit oder Marktlogik, sondern von Macht und ihren Kammerdienern. (…) Unsere Solidarität mit den Mitarbeitern von Népszabadság ist groß - aber
die größten Verlierer sind nicht sie, sondern jene, die für die fügige Presse gänzlich unbekannt sind: die Leser."
Und
Magyar Narancs kommentiert: "Wenn die größte politische Tageszeitung des Landes in einem Augenblick so abgeschossen wird, dass die Redaktion - inklusive dem Chef-Redakteur der Zeitung - davon
aus den Nachrichten erfährt, dann handelt es sich nicht um wirtschaftliche Motive, sondern um eine
politische Aktion. Die Gleischaltung von
Népszabadság stand seit Jahren auf der Tagesordnung. (...) Niemand sollte sich Illusionen machen,
Népszabadság ist nicht das letzte Ziel. Trotzdem: niemand sollte vor Angst schlottern. Die ungarische politische Geschichte kennt kaum einen feigeren Politiker als
Viktor Orbán. Wenn er einer ernsthaften Kraft gegenüber steht, wird er unsicher, gestört und reagiert hektisch - wie alle Menschen, die Kraft zur Schau stellen, um deren Fehlen zu verhüllen. Wir machen weiter... Wenn
Népszabadság wirklich am Ende ist - und in diesem Augenblick ist es schwer, etwas anderes zu denken, egal wie sehr wir das Gegenteil wünschen und glauben möchten - dann tun wir dies auch
an Stelle von Népszabadság und für sie."
Zusammengestellt und übersetzt von Jozsef Berta.
=================In der
Berliner Zeitung gratuliert Christian Bommarius dem Kollegen
Arno Widmann zum Spezialpreis der Otto-Brenner-Stiftung: "Es hat lange gedauert, bis endlich auch die Jury eines bedeutenden Journalistenpreises bemerkt hat, dass Arno Widmann, nicht nur den Lesern dieser Zeitung als Autor seit Jahren bekannt,
einer der besten Journalisten der Bundesrepublik ist." Finden wir auch und haben deshalb unserem
"Vom Nachttisch geräumt"-Autor zum Siebzigsten ein
kleines Sträußchen gebunden.
Trotz gesetzlicher Verbesserungen bleibt es dabei, dass die Honorierung
freier Journalisten in den an sich so honorigen deutschen Medien
ein Hohn ist,
schreibt Laurent Joachim bei
Carta, der einige horrende Fälle erzählt und auch Gerichtsurteile zitiert, in denen Journalisten riesige Entschädigungen zugesprochen wurden, weil ihre Honorare geradezu stittenwidrig waren. Allerdings wagt kaum jemand zu klagen: "Im Rahmen der Recherchen für diesen Artikel ließen übrigens mehrere voneinander unabhängige Quellen erkennen, warum sich weder investigative Sendungen des
öffentlichen Rundfunks noch die
renommierten Federn des Landes dieses äußerst skandalösen Themas annehmen: Inzwischen ist Lohndumping überall so verbreitet, dass
keine Krähe einer anderen ein Auge aushacken kann, ohne sich selbst in Verlegenheit zu bringen. Eigentlich ein perfektes Machtsystem samt Schweigekartell."
Die
öffentlich-rechtlichen Sender möchten künftig auf die lästigen Verhandlungen zu ihrer
Finanzierung verzichten,
berichtet Hans Hoff in der
SZ: "Lieber hätten sie ein Modell, bei dem sich Erhöhungen regelmäßig
nach einem Index richten. Steigt dieser Index, steigt auch der Rundfunkbeitrag. Diesen Wunsch äußern die Sender in Stellungnahmen, die sie am Montag an jene Arbeitsgemeinschaft gesandt haben, die sich im Auftrag der Bundesländer um 'Auftrag und Strukturoptimierung des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks' kümmern soll." Dieser Index könnte etwa das
Bruttoinlandsprodukt sein.
Wissenschaft, 11.10.2016
Im
Interview mit
Zeit online erklärt der Ökologe
Hanno Schäfer, Professor für Biodiversität der Pflanzen, warum
grüne Gentechnik ökologisch verträglich ist und gleichzeitig helfen würde, kommende Generationen zu ernähren. Dringend gebraucht würden etwa "Nutzpflanzen, die den
Klimawandel überstehen. Die trockenheitstolerant sind oder salztolerant oder die mehrjährig sind und deshalb die Flächen vor Bodenerosion schützen. Wenn wir gentechnisch veränderte Pflanzen produzieren könnten, die Nährstoffe effizienter nutzen und weniger Düngung benötigen, wäre auch das ein großer Fortschritt. ... Ich sehe die
universitäre Forschung in der Bringschuld, die ist großteils durch Steuergelder finanziert. Nur sie könnte so arbeiten, dass das Saatgut nachher
frei verfügbar ist und über mehrere Generationen hinweg verwendet werden kann."
Europa, 11.10.2016
Jaroslaw Kaczyński "steht tief in der Schuld der
katholischen Kirche", sagt der polnische Fotograf
Chris Niedenthal, der zusammen mit seiner Frau
Karolina Niedenthal, einer Übersetzerin aus dem Deutschen, von
taz-Korrespondentin Gabriele Lesser zu den Protesten gegen das Abtreibungsgesetz
interviewt wird. Beide hoffen, dass der Erfolg dieser Proteste die Stimmung im Land verändert: "Die Frauen wollen die Entscheidungshoheit über ihren Körper behalten. Die Politiker aber wollen
schwangere Frauen entmündigen und sie zwingen, ihr Leben in einer Risikogeburt aufs Spiel zu setzen oder aber schwer missgebildete Säuglinge zur Welt zu bringen. Den Imageschaden wird die PiS so schnell nicht mehr los. Es war ein
massiver Fehler, die Androhung drakonischer Haftstrafen gegen Schwangere und die sie behandelnden Ärzte zu unterstützen."
Mit der
Identität ist das gar nicht so einfach, schon gar nicht in Frankreich, wo Nicolas Sarkozy gerade von den Franzosen ein Bekenntnis zu ihren
gallischen Vorfahren verlangte,
meint Christophe Büchi in der NZZ. Denn wer sind Frankreichs Vorfahren? "Die
fränkischen Germanen, mit Karl dem Großen und Hugo Capet an der Spitze - oder vielmehr die
Römer, von denen die französische Sprache abstammt? Die Frage lässt sich nicht entscheiden, oder genauer: Frankreich ist das Produkt all dieser und anderer Einflüsse. Aber weil der nationale Diskurs nicht auf das viele, sondern
auf das eine abzielt, haben sich französische Publizisten seit Jahrhunderten über solchen Fragen den Kopf zerbrochen. Und weil die Frage 'Römer oder Franken?' nicht entschieden werden kann, sind französische Vordenker im 18. und 19. Jahrhundert auf eine andere Idee gekommen: Die Franzosen sind Gallier, also
Kelten."
Geschichte, 11.10.2016
Das
Bundesjustizministerium war in den fünfziger Jahren ein Hort alter Nazis,
erzählt tazler Christian Rath nach Lektüre der Studie einer Studie des Historikers Manfred Görtemaker und des Juristen Christoph Safferling im Auftrag des Hauses: "Erst ab
Ende der sechziger Jahre wehrte sich das Ministerium aktiv gegen den Einfluss der Alt-Nazis. In der Großen Koalition war nun auch die SPD an der Regierung beteiligt. Der Eichmann-Prozess in Israel und der Auschwitz-Prozess in Frankfurt hatten die Öffentlichkeit sensibilisiert. Die Studentenbewegung stellte die bislang vorherrschende Schlussstrich-Mentalität offensiv in Frage."
Götz Aly
richtet sich in der
Berliner Zeitung schon mal darauf ein, in Polen
in den Knast zu wandern. Dort soll nämlich nach einem Gesetzentwurf künftig jeder, der "dem polnischen Staat öffentlich
Mitverantwortung für Verbrechen zuschreibt, die durch die Nazi-Besatzer begangen wurden" für drei Jahre ins Gefängnis. Aly erinnert da gleich an ein paar unbequeme Fakten: "Im Januar 1942, die Deutschen hatten gerade die
ersten Gaskammern in Betrieb genommen, verkündete die Untergrundzeitschrift
Naród (Volk): 'Wir bestehen darauf, dass die Juden ihre politischen Rechte und das Eigentum, das sie verloren haben,
nicht zurückerhalten. In Zukunft müssen sie allesamt unser Land verlassen.' Herausgegeben wurde Naród von der christlich-demokratischen Arbeiterpartei. Diese gehörte der
polnischen Exilregierung in London an und trat für eine Föderation slawischer Staaten ein."
Überwachung, 11.10.2016
Der Schweizer Schriftsteller
Max Frisch wurde 42 Jahre lang von den Behörden seines Landes überwacht - ohne echten Grund und ohne jeden Verstand, wie man
jetzt nachlesen kann. Hat man daraus gelernt? Andreas Tobler b
ezweifelt es im
TagesAnzeiger: "Sind die Ermittlungen mit dem Zuwachs an Überwachungsmöglichkeiten besser geworden und wird die Qualität nochmals steigen, wenn das neue Nachrichtendienstgesetz in Kraft tritt, über das wir vor zwei Wochen abstimmten? Wer ins Schweizer Aktenmassiv vordringt, kann daran berechtigte Zweifel haben: Man wird mit
völlig überforderten Behörden bekannt, die riesige Großablagen mit Verdachtsmomenten fütterten, worin Max Frisch wiederholt auftaucht. Eine von ihnen trägt den raunenden Titel 'Journalisten'. Ein Blick in den Katalog des Schweizerischen Bundesarchivs zeigt, dass diese Ablage noch
bis vor wenigen Jahren geführt wurde, vielleicht noch heute existiert."