9punkt - Die Debattenrundschau

Oh, Sie lesen einen Bestseller?

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2016. Ferdinand von Schirachs Fernsehspiel "Terror" erregt die Gemüter, wie kein Krieg im Nahen Osten es je könnte. Und dann war es auch noch Erziehung zum Rechtsmissbrauch, schimpft die SZ. EU-Digitalkommissar Günther Oettinger verteidigt seine geplante Urheberrechtsreform: Die Verleger wüssten schon, was nötig sei. Der BND könnte uns ab Freitag ganz legal massenhaft abhören, warnt Netzpolitik. Demnächst bestimmt Facebook die Debatte, fürchtet die SZ. Im Guardian denkt Kwame Anthony Appiah über Rasse und Identität nach.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.10.2016 finden Sie hier

Medien

Krieg in Syrien, Krieg in Jemen, Putin ante Portas, die Türkei geht den Bach runter, die EU sowieso. Egal. Nichts bewegt die Gemüter auch nur einen Bruchteil so stark wie Ferdinand von Schirachs Fernsehspiel "Terror". Gestern verkündete Claus Kleber gar im Heute Journal mit vibrierender Stimme, das Bundesverfassungsgericht dürfe diesen Volksentscheid nicht ignorieren. Das "Volk" hatte nach dem Stück - das eine Gerichtsverhandlung über einen Piloten zum Thema hat, der ein von Terroristen übernommenes vollbesetztes Verkehrsflugzeug abschießt, das in ein Fußballstadion mit 70.000 Zuschauern zu stürzen droht - abstimmen dürfen und den Piloten freigesprochen. Das war nicht Rechtserziehung, sondern "Erziehung zum Rechtsmissbrauch", ärgert sich in der SZ Heribert Prantl: Schirach und die ARD "haben so getan, als müsse man das Recht verraten, um ihm Genüge zu tun: Sie haben dem Zuschauer verschwiegen, dass das Recht einen Täter schuldig sprechen und ihn trotzdem milde oder gar nicht bestrafen kann. Auf diese Weise könnte die Straftat zwar als Straftat bezeichnet, aber die tragische Situation des Täters berücksichtigt werden. ... Mit der Methode Schirach & ARD kann man auch Waterboarding zu einer notwendigen, schuld- und straflosen Terrorbekämpfungs-Handlung machen."

Auf Zeit online schlägt der Karlsruher Bundesrichter Thomas Fischer in die selbe Kerbe und kritisiert Schirach und die ARD, die eine komplizierte Sachlage unzulässig vereinfacht hätten: "An ihrer eigentlichen Aufgabe scheitert diese mediale Wirklichkeit notorisch und penetrant. Und da sie das weiß, hat sie zugleich die zirkuläre Figur ihrer Rechtfertigung eingebaut: Das 'Niveau der Zuschauer / Leser / Hörer' ist so gering, dass es einfach nicht möglich ist, die jeweilige Sache sachgerecht darzustellen. Das ist natürlich gelogen. Es erlaubt aber, der eigenen Faulheit oder Unzulänglichkeit praktisch unbegrenzt nachzugeben und sich selbst dabei noch permanent als überlegenen Sachwalter der Interessen des dummen Volks da draußen aufzuspielen."

Ecuador hat Julian Assange vom Netz genommen - nicht für immer, versichert die Botschaft in London, aber doch während des amerikanischen Wahlkampfes, meldet der Guardian. Wikileaks hatte zuletzt gehackte Emails des Wahlkampfberaters von Hillary Clinton John Podesta geleakt. Diese Mails zeigen unter anderem, was für ein enges und leicht schmieriges Verhältnis viele Journalisten zu Politikern haben: "Reading the emails, we witness CNBC/New York Times contributor John Harwood slathering Podesta with flattery, giving him campaign advice and praising Hillary Clinton. In another email, the Washington Post's Juliet Eilperin offers Podesta a 'heads up' about a story she's about to publish, providing a brief pre-publication synopsis", berichtet Jack Shafer in Politico und verteidigt seine Kollegen gegen den Vorwurf der Kumpanei: "Critics of the reporters exposed by emails aren't wrong to find these courtship rituals kind of icky. But few are talking about how the sausage ends up tasting. Eilperin, Leibovich, Thrush and Haberman appear to have conned their way into the inner sanctums to produce creditable work that is accurate and useful to readers. What appear to be compromises ultimately redound to their favor."
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Internet

Außer Fernsehen sind Warnungen vor den schrecklichen Mächten im Internet derzeit die einzige "Debatte", die deutsche Feuilletonisten noch pflegen. Diesmal also Johannes Boie in der SZ, der die potentielle Fähigkeit des Facebook Messengers fürchtet, selbst Debattenthemen vorzuschlagen: "Ein Problem ist die Funktion, weil mit ihr eine weitere Tech-Firma an dem schraubt, was man allgemein als den freien Willen bezeichnet. Google Maps schlägt den Nutzern den besten Weg vor, zahlreiche Apps berechnen die besten Bewegungen beim Sport, das gesündeste Essen, die angemessene Schlafdauer für ihre Nutzer. Es geht längst so weit, dass Menschen, die Dating-Apps verwenden, der potenziell beste Partner vorgeschlagen wird." Schlotter.
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Ideen

In seinen Reith-Lectures für die BBC hinterfragt der Philosoph Kwame Anthony Appiah, dem der Guardian einen "mixed race background" bescheinigt, den Begriff der Rasse - jedenfalls wie er derzeit gebraucht wird, als Bestätigung oder gar Konstituierung der eigenen Identität, berichtet im Guardian Hannah Ellis-Petersen. "'The way that we talk about race today is just incoherent,' he says. 'The thing about race is that it is a form of identity that is meant to apply across the world, everybody is supposed to have one - you're black or you're white or you're Asian - and it's supposed to be significant for you, whoever and wherever you are. But biologically that's nonsense.' It's not new information, but for Appiah it is essential to voice it. Despite growing up mixed-race and gay in Ghana, then moving to the UK aged 11, Appiah says these supposedly conflicting aspects of his identity were never a problem for him until he moved to the US. As a student at Yale in his early 20s, others began to define him entirely by his race, and even questioned whether having a white mother made him 'really black'."
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Gesellschaft

Mit der Freiheit verloren die russischen Leser den Appetit auf anspruchsvolle Literatur, klagt Olga Martynova in der NZZ: "Über den ganzen sowjetischen Literaturbetrieb urteile ich heute weniger rigoros als damals: Es gab immer wieder Menschen, die versuchten, trotz allen Widrigkeiten gute Bücher zu machen. Anfang der achtziger Jahre erschien zum Beispiel eine hoch ersehnte Taschenbuchreihe von Übersetzungen der modernen europäischen Klassik. Als ich auf einer Rolltreppe meinen neu erworbenen 'Dubliner' von Joyce las, reagierte ein Passant auf den billigen Paperback-Glanz: 'Oh, Sie lesen einen Bestseller?' Und ja, für das Jahr 1982 stimmte das sogar!"
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Überwachung

Auf Netzpolitik fasst Sven Braun noch einmal die wichtigsten Punkte des geplanten BND-Gesetzes zusammen, über das der Bundestag am Freitag abstimmt: So soll der Auslandsgeheimdienst BND künftig auch legal im Inland abhören dürfen. Statt einzelner Leitungen soll der BND künftig "ganze Telekommunikationsnetze ohne Begrenzung anzapfen" dürfen. Metadaten soll der BND künftig legal anlasslos ein halbes Jahr speichern und an die NSA weitergeben dürfen. Und auch mit der Begründung für eine Überwachung muss man sich künftig nicht lange aufhalten: "Bislang galten für den BND acht Abhörgründe wie Terrorangriffe auf die BRD oder Menschenschmuggel, die aber zuletzt auch schon aufgeweicht wurden. Mit dem BND-Gesetz kommen neue schwammig formulierte Anlässe, die de facto keine echte Begrenzung darstellen. Dazu zählen: 'Gefahren für die innere und äußere Sicherheit der BRD' oder 'sonstige Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung'. Mit solchen Gummiparagrafen lässt sich alles rechtfertigen."

Die Briten haben schon vorgemacht, wie man massenhaftes Ausspionieren der eigenen Bevölkerung nachträglich legalisiert: Ein für die Geheimdienste zuständiges Gericht hat am Montag bestätigt, dass die Abhörpraxis der britischen Geheimdienste GCHQ, MI5 und MI6 illegal war. Statt die Praxis zu ändern, sollen jetzt die Gesetze geändert werden, meldet Hendrik Obelöer in Netzpolitik: "Downing Street 10 hätte die Chance im letzten Jahr ergreifen können, viele kritische Punkte nachzubessern, selbst wenn diese nicht zwingend gegen Recht verstießen. Stattdessen hat die damalige Innenministerin und jetzige Premier-Ministerin Theresa May mit der 'Investigatory Powers Bill' ein Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, das den gegensätzlichen Weg einschlägt. Viele aufgedeckte Aktivitäten werden einfach legalisiert - ähnlich wie des die Bundesregierung aktuell mit dem neuen BND-Gesetz vorhat."
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Urheberrecht

In Brüssel hat EU-Digitalkommissar Günther Oettinger seine viel kritisierte geplante Urheberrechtsreform verteidigt, berichtet auf Spon Fabian Reinbold, der hören durfte, wie Oettinger behauptete, "dass er bei seinen Plänen die deutschen Verlegerverbände hinter sich habe - und dass diese besser Bescheid wüssten als jene Journalisten, die ihn kritisiert hätten. Unter Verweis auf einbrechende Einnahmen der Verlage sagte der CDU-Politiker, es gebe eindeutige 'Zahlen von Zeitungen, und die kennen die Verleger.' Chefredakteure würden die Zahlen nur 'eingeschränkt' kennen."
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