9punkt - Die Debattenrundschau

Ist erstmal eine Fensterscheibe eingeworfen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2016. Der Guardian fasst zusammen: Der Satz, der angeblich Trumps Wahlchancen zerstörte, brachte ihn an die Macht. Für David Remnick im New Yorker und andere Autoren ist Facebook allerdings genauso schuld. Naomi Klein wünscht sich im Guardian eine kräftige Linke, die die Depossedierten mit der Aussicht auf Umverteilung zurückholt. Judith Butler bekennt in der SZ nun doch ihr  Unbehagen. Und Andrew Sullivan vibriert im NYMag wie stets vor Pathos.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.11.2016 finden Sie hier

Politik


Hadley Freeman fasst im Guardian nochmal zusammen: "'Grab 'em by the pussy' war der Satz, der angeblich Donald Trumps Chancen zerstörte. Stattdessen erwies er sich als der erstaunlichste und erfolgreichste Baustein einer Strategie. In einem Wahlkampf, der auf Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Schikane beruhte, bewies Trump, dass Prahlerei mit sexueller Belästigung von Frauen, die Karriere eines Mannes vorantreibt, statt sie zu ruinieren."

Was David Remnick im New Yorker schreibt, ist auch kein Trost: "Faschismus ist nicht unsere Zukunft. Wir dürfen es nicht erlauben - aber ganz sicher kann Faschismus so beginnen." Die sozialen Medien sind für ihn ganz entschieden mit schuld: "Auf Facebook sieht ein Artikel aus der traditionellen, auf Fakten beruhenden Presse genauso aus wie Artikel aus den verschwörungstheoretischen alt-right-Medien. Die Sprecher des Unaussprechlichen haben heute Zugang zu einem riesigen Publikum. Dies war, zusammen mit der frauenfeindlichen Sprache, der Tiegel, der half, Clinton zu schaden und zu zerstören. Die alt-right-Presse sorgte für ständige Lügen, Propaganda, Verschwörungstheorien, die Trump als Brennstoff für seine Kampagne benutzte. Steve Bannon, eine zentrale Figur bei Breitbart, war sein Propagandist und Wahlkampfmanager."

Vibrierend vor Pathos und Angstlust vorm Kommenden Andrew Sullivans Artikel im NYMag: "Und dann wird eine Terrorattacke kommen - oder mehrere, da er den Kampf gegen den Terror als Kampf gegen eine ganze Religion definiert und damit Al Qaida und Isis neue Energie einflößt. Was er nach einer Attacke tun wird, ist voraussagbar und wird die bürgerlichen Freiheiten, die uns verbleiben, weiter reduzieren. Und dann wird es einen Zusammenstoß zwischen der Polizei und hauptsächlich schwarzen Demonstranten geben, nachdem ein weiterer unbewaffneter schwarzer Mann erschossen wurde. Und er wird eine Polizeimacht entfalten, die dieses Land in Flammen setzt, wie wir es wohl seit den sechziger Jahren nicht mehr gesehen haben. Und dann wird er Guantanamo wieder beleben..."

Ziemlich provokant liest sich Lawrence Lessigs Kommentar bei Medium.com. Er wirft Hillary Clinton vor, nicht die Korruption und die "Ökonomie des Einflusses" in Washington angetastet zu haben und stets auf der Seite der "Status quo-Elite" geblieben zu sein. Anders als Bernie Sanders und Donald Trump: "Die Gemeinsamkeit zwischen der Linken und der Rechten in diesem Wahlkampf war ein Verlangen nach tatsächlicher Veränderung des korrupten Systems, zu dem Amerikas Regierung geworden ist - eine Forderung, die der Clinton-Wahlkampf entschlossen nicht wahrnehmen oder gar erfüllen wollte."

In der Welt schlagen sich Mathias Döpfner (hier), Andreas Rosenfelder (hier) und Hans Ulrich Gumbrecht (hier) an die Brust: Sie, sprich die Medien, die Liberalen, die Intellektuellen haben versagt, haben den einfachen Mann in seinen Sorgen ignoriert und verhöhnt mit ihren kläglichen Versuchen, Trump lächerlich zu machen. Man könnte fast meinen, sie seien die Verlierer dieser Wahl. Welt-Kollegin Hannah Lühmann macht den Herren klar, dass es um sie nicht geht (und nie ging), sondern um "den Schaden, den die trumpsche Erosion unseres Wertesystems anrichtet. Es gilt die 'Broken Window Theory': Ist erst einmal eine Fensterscheibe eingeworfen, folgen die anderen. Unser Geist ist eine Vorstadt. Donald Trump hat darin gewütet, mit seinen Äußerungen über Muslime, Mexikaner, Frauen. Und genauso hätte eine Hillary Clinton, als erste Frau im Amt der Präsidentin, die Weichen der Zukunft anders gestellt. Wie konnte das untergehen?"

Judith Butler hatte sich vor der Wahl zwar nur naserümpfend zu Hillary Clinton bekennt - sie wähle Clinton, weil sie lieber gegen Clinton als gegen Trump auf die Straße gehe (unser Resümee) -, aber nun bekennt sie in der SZ ihre höhere Schokiertheit: " Das Wort 'Verheerung' beschreibt nur annähernd das Gefühl, das sich unter meinen Bekannten verbreitet. Wir wussten nicht, wie groß der Zorn auf die Eliten ist und wie tief die Wut weißer Männer gegen Feminismus und Bürgerrechtsbewegung, wie sehr die wirtschaftliche Zwangsenteignung viele zermürbt, wie stark Isolationismus, das Versprechen neuer Mauern und die nationalistische Streitlust sie beflügeln."

Für Naomi Klein im Guardian ist der Schuldige klar: Neoliberalismus. "Leute wie Bill und Hillary Clinton gehören zu den Stars der Parties in Davos. In Wahrheit waren sie eigentlich diejenigen, die diese Parties schmissen. Trumps Botschaft war: "'Es ist die Hölle.' Clinton antwortete: 'Alles ist bestens.' Aber das stimmt nicht, weit davon entfernt. Neofaschistische Antworten auf die grassierende Unsicherheit und Ungleichheit werden nicht verschwinden. Aber wir wissen seit den Dreißigern, was man braucht, um den Faschismus zu bekämpfen: eine richtige Linke. Ein Großteil der Trump-Unterstüzung könnte zerstört werden, wenn ein echtes Umverteilungsprogramm auf den Tisch kommt."

Die Schriftstellerin Lauren Groff kann es in der Welt immer noch nicht fassen, dass so viele Frauen für Trump gestimmt haben: "Ich bin bestürzt, dass diese Frauen sich selbst so sehr hassen und die amerikanische Cowboy-Misogynie derart internalisiert haben, dass sie jemanden wählen, der sie verachtet, hasst und behandelt, als wären sie ein Stück Fleisch."

Außerdem: Interessant für deutsche Verleger unter den Perlentaucher-Lesern. Die New York Times empfiehlt "sechs Bücher, die helfen, Trumps Sieg zu verstehen".
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Europa

Es gibt viele Gründe, warum Europa und insbesondere die Deutschen so nachsichtig sind mit der Türkei. Die Regulierung der Flüchtlingsströme ist das eine, schreibt der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar in der Zeit. "Eine weitere bemerkenswerte Zahl sickerte vorletzte Woche an die Presse durch: Aus dem im deutschen Bundestag zur Debatte anstehenden Bericht über Rüstungsexporte geht hervor, dass die Waffenverkäufe Deutschlands an die Türkei in den letzten sechs Monaten enorm gestiegen sind: Mit Rüstungskäufen im Wert von 76,4 Millionen Euro rückte die Türkei von Platz 25 auf Platz 8 der Abnehmerländer vor. Weit oben auf der Liste stehen auch die kurdischen Kräfte im Irak. Sollte die Türkei im Irak eingreifen, würden also Türken und Kurden mit den gleichen Waffen aufeinander schießen."
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Überwachung

Der Grüne Malte Spitz und der Berliner Richter Ulf Buermeyer haben einen Verein gegründet, der die von der Verfassung garantierten Freiheitsrechte gegen Staatsspitzel verteidigen will. Legal natürlich, mit Klagen. Erklärt Buermeyer in der Zeit: "Der Schutz von Grundrechten bleibt im politischen Betrieb häufig auf der Strecke. Dafür ist das neue BND-Gesetz ein sehr gutes Beispiel. Es lässt vom Telekommunikationsgeheimnis schlicht nichts übrig, weil der BND jedes Netz abhören darf, sofern das Bundeskanzleramt zustimmt. Es gab viele Warnungen und heftige Proteste dagegen, aber im parlamentarischen Verfahren fand nichts davon Berücksichtigung. Das ist ein Beispiel, das zeigt, wie wichtig es ist, dass es auch Akteure außerhalb der Politik gibt, die auf die Einhaltung von Grundrechten drängen."

Ebenfalls in der Zeit ist Wolfgang Uchatius doch ziemlich enttäuscht von den Überwachungs- und Spionagemöglichkeiten Googles: Da stellt er all seine Daten zur Verfügung, und sie bieten ihm "Werbung für Hundefutter der Marke Pedigree. Werbung für einen Rasenmähroboter von Viking. Werbung für SheIn, einen Onlineshop für Damenbekleidung. Werbung für Airwaves Kaugummis. Dazu muss ich sagen: Ich habe keinen Hund, sondern zwei Kaninchen. Ich habe keinen Garten, sondern einen Balkon. Röcke trage ich eher selten. Nur Kaugummis kaufe ich mir hin und wieder."
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Medien

Charlotte Theile kann es in der SZ kaum fassen. Da kündigen mit  Christof Moser und Constantin Seibt zwei prominente Schweizer Journalisten an, ein neues Online-Magazin aufzumachen (nächstes Jahr soll es eröffnen), "und so viele wollen dabei sein? Was ist los mit der Branche, wenn altgediente Journalisten bereit sind, für ein paar Schlagworte - Crowdfunding, Online, Rebellion - alles aufs Spiel zu setzen?" Das ist richtig, von Journalisten, die etwas riskieren, haben wir hier auch nicht viel mitbekommen.
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Ideen

In der NZZ denkt der Kulturwissenschaftler und Soziologe Dirk Baecker darüber nach, wie sich im digitalen Wandel der Medien unsere Wahrnehmung verändert: "Ein etwas anspruchsvollerer Medienbegriff stellt daher darauf ab, dass Medien nicht nur bereits vorhandene Wirklichkeiten vermitteln, sondern neue Möglichkeiten in Reichweite rücken und vorstellbar machen. Die Medien, in denen wir uns bewegen, schaffen die Welt, an der wir uns mit ihrer Hilfe orientieren. Erst auf diesem Umweg versteht man, was sich mit der Einführung von Sprache, Schrift, Buchdruck, Elektronik und anderen Medien jeweils ereignet. Jedes dieser Medien eröffnet eine neue Welt, die mit der alten Welt nicht abgestimmt ist."

In der FAZ macht Magnus Klaue die 68er verantwortlich für die Gender- und Identitätsmode in der Wissenschaft, die alles abstrafe, was mit dem Label "weiß, männlich, heterosexuell" versehen werden kann: "Auch die Beschwörung von Identitäten ist ein Erbe der Neuen Linken, deren von Herbert Marcuse bezogene Randgruppentheorie den Identitätsbegriff massentauglich gemacht hat. Die Neigung zur genussvollen Selbstkasteiung, die sich in der imaginären Identifikation der vorwiegend dem Bürgertum entstammenden Achtundsechziger mit den Unterprivilegierten gegen den Universitätsbetrieb wandte, wird heute jedoch in diesem selbst eingeübt. Zentral dabei ist der Verzicht auf den aller Ideologiekritik zugrundeliegenden Begriff der Wahrheit."

"So etwas wie westliche Zivilisation gibt es nicht" - wäre wohl auch ein Satz, der Klaue auf die Palme bringen würde. Gesagt hat ihn Kwame Anthony Appiah in seiner BBC Reith lecture, die der Guardian publiziert: "Values aren't a birthright: you need to keep caring about them. Living in the west, however you define it, being western, provides no guarantee that you will care about western civilisation. The values European humanists like to espouse belong just as easily to an African or an Asian who takes them up with enthusiasm as to a European. By that very logic, of course, they do not belong to a European who has not taken the trouble to understand and absorb them. The same, of course, is true in the other direction. The story of the golden nugget suggests that we cannot help caring about the traditions of 'the west' because they are ours: in fact, the opposite is true. They are only ours if we care about them. A culture of liberty, tolerance, and rational inquiry: that would be a good idea. But these values represent choices to make, not tracks laid down by a western destiny."
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Internet

Auch Joshua Benton glaubt im Niemanlab, dass Facebook schuld sei am Ausgang der amerikanischen Wahlen. Der Journalismus habe die Staaten des mittleren Westens schließlich aufgegeben. "Ich komme aus einer Kleinen Stadt in Süd-Louisiana. Am Tag vor der Wahl sah ich mir die Facebook-.Seite des dortigen Bürgermeisters an. Unter den Themen, die dort in den letzten 48 Stunden gepostet worden waren, fand ich: 'Hillary Clinton ruft zum Bürgerkrieg auf, falls Trump gewinnt.'Papst Franziskus schockiert die Welt durch seine Unterstützung für Donald Trump.' Barack Obama gibt zu, dass er in Kenia geboren ist.' 'Der FBI-Beamte, der im Verdacht steht, Hillarys Korruption geleakt zu haben, ist tot.'"
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