9punkt - Die Debattenrundschau

'Das Volk' hat keine Sorgen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2016. Macht Donald Trump die acht Obama-Ära rückgängig? Oder darf man darauf setzen, dass er seine Wahlversprechen sowieso nicht hält? Die Beobachter schwanken zwischen Zweckoptimismus und Fatalismus. Bernhard Pörksen analysiert auf Zeit Online das mediale Klima, das Trump zum Sieg verholfen hat. Tagesspiegel und taz überlegen, wie Medien besorgte Bürger erreichen können. Im Guardian schreibt Manuel Valls zum morgigen Jahrestag der Terroranschläge von Paris.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2016 finden Sie hier

Politik

Der Historiker Allan J. Lichtman gehört zu den wenigen Experten, die einen Wahlsieg Trumps vorhergesagt haben. In der FAZ zeichnet er ein düsteres Bild der künftigen Präsidentschaft: "Trump wird unmittelbar nach seiner Vereidigung die Pattsituation im Obersten Gerichtshof beenden und dafür sorgen, dass die Republikaner dort mindestens für die nächsten dreißig Jahre das Sagen haben... Die Republikaner haben versprochen, Obamas Gesundheitsreform abzuschaffen und Unternehmensvorschriften zu lockern. Sie werden vermutlich alles zurücknehmen, was Obama in Sachen Klimaschutz getan hat, und seine präsidialen Verfügungen in puncto Einwanderung, Umweltschutz, Waffengesetze und Mindestlohn widerrufen."

Die anstehenden Neubesetzungen im Supreme Court könnten auch einer der Gründe sein für die nach Trumps offen rassistisch geführtem Wahlkampf überraschend hohe Unterstützung seitens der Hispanics, erklärt die Politologin Joyce Mushaben im Gespräch mit Felix Zimmermann in der taz: "Zur Zeit ist eine Stelle vakant, bald könnte eine zweite dazu kommen. Der künftige Präsident kann also einen Richtungswechsel einleiten. Trump hat versprochen, Richter einzusetzen, die gegen das Recht auf Abtreibung sind. Mit Hillary wäre es anders gekommen. Das hat viele Hispanics dazu bewegt, für ihn zu stimmen. Viele von ihnen sind sehr katholisch."

Hoffnung macht Trump-Gegner in dieser Situation nur, dass sich der gewählte Präsident nicht sonderlich an seine Wahlversprechen gebunden zu fühlen scheint. So gehört die Abschaffung von Obamacare laut SpOn nun plötzlich doch nicht mehr zu seinen Prioritäten. Die New York Times meldet, dass Trump sein Übergangsteam vornehmlich aus wirtschaftsnahen Experten und Lobbyisten zusammenstellt und zitiert Peter Wehner, einen ehemaligen Mitarbeiter der Reagan- und Bush-Regierungen: "Die ganze Idee, er sei ein Außenseiter, der das politische Establishment zerstören und den Sumpf trockenlegen wolle, war das Werk eines Trickbetrügers, als der er sich jetzt entpuppt. Er fällt durch seine erste Prüfung und sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden."

Währenddessen halten die Proteste von Trump-Gegnern in zahlreichen amerikanischen Städten an. Vanessa Steinmetz, Christian Teevs und Martin Sümening berichten auf SpOn, dass die Demonstranten eine Änderung des Wahlverfahrens fordern, nach der sich die Wahlmänner nicht nach der Mehrheit innerhalb ihres Bundesstaats, sondern nach der Mehrheit im Land richten sollen - die sogenannte "national popular vote" hat Clinton bekanntlich hauchdünn gewonnen. Eine Petition mit diesem Anliegen gewann innerhalb kurzer Zeit mehr als drei Millionen Unterstützer.

Wenn es darum geht, eine zusammenhängende politische Agenda zu entwerfen, ist Trump als "unbegabter Amateur" auf fähige Köpfe in seinem Umfeld angewiesen, schreibt der amerikanische Soziologe und Publizist Norman Birnbaum in der taz. Genau da hat er jedoch seine Zweifel: "Wenn er kompetente Leute in sein Kabinett, an die Spitze der Bundesbehörden und in seinen Stab im Weißen Haus holt, werden diese geneigt sein, eigenständig mit dem Kongress und der öffentlichen Meinung umzugehen. In drei oder sechs Monaten ist er womöglich nur noch ein Aushängeschild - oder gar eine Spottfigur, die nach und nach das Ansehen der eigenen Wähler verliert... Trumps Problem ist neben seiner umfassenden Unwissenheit sein pathologischer Narzissmus. Er weiß nicht, wie wenig er begreift, und er wird sich höchstwahrscheinlich keine Berater aussuchen, die ihn auf seine Unzulänglichkeiten hinweisen."
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Überwachung

Dass Barack Obama nach den Snowden-Enthüllungen nur halbherzige Reformen in den Geheimdiensten einleitete, hat man ihm durchgehen lassen, weil man ihm vertraute, meinen Spencer Ackerman und Ewen MacAskill im Guardian. Was aber soll werden, wenn Donald Trump die Kontrolle über das mächtige Überwachungsarsenal erlangt? Dazu zitieren sie den NSA-Whistleblower Thomas Drake: "The electronic infrastructure is fully in place - and ex post facto legalised by Congress and executive orders - and ripe for further abuse under an autocratic, power-obsessed president. History is just not kind here. Trump leans quite autocratic. The temptations to use secret NSA surveillance powers, some still not fully revealed, will present themselves to him as sirens."

Auf Zeit Online beschwichtigt Patrick Beuth: Der künftige Präsident handelt nicht ohne Korrektiv: "Experten mit Erfahrung im Geheimdienstbereich rechnen zudem mit Widerstand in den Reihen der Dienste. Eine NSA im Privatauftrag des Präsidenten werde es nicht geben, sagte etwa der Anwalt Bradley P. Moss, der Geheimdienstmitarbeiter vertritt, im Gespräch mit Motherboard, 'allein schon, weil es zu viele institutionelle Sicherungen gibt'. Es gebe eine 'interne Bürokratie, die so ausgelegt ist, dass sie die ungeheuerlicheren oder verrückteren Ideen eines Politikers limitiert'."
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Medien

Was den Sieg Donald Trumps begünstigte, war die hierzulande mit dem Reizwort "Lügenpresse" artikulierte Medienverdrossenheit, analysiert der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen auf Zeit Online: "Die ohnehin vorhandene Skepsis hat es ihm erlaubt, kritische Stellungnahmen und brisante Enthüllungen über seine Geschäftspraktiken, seinen Umgang mit Spendengeldern und Steuertricks immer wieder als das böswillige Machwerk manipulativ agierender Journalisten abzutun. Das war stets die zentrale Argumentationsfigur: Die Botschaft durch den Pauschalangriff auf die angeblich korrupte Front der Botschafter ('the failing New York Times …') zu diskreditieren."

Wie aber können Medien jene Bürger erreichen, die sich abgehängt fühlen und auf Populisten anspringen? Jedenfalls nicht, indem man die Sprache der Populisten übernimmt, meint Bettina Gaus in der taz: "Im letzten Satz eines Beitrages von n-tv hieß es am Donnerstag, der Sieg von Trump könne 'ein letzter Warnschuss für Merkel, Gabriel und Co' gewesen sein, 'das Volk und seine Sorgen ernst zu nehmen'. Das 'Volk und seine Sorgen'! In einem Nachrichtentext! Geht's noch? Für alle Nicht-Journalisten hier mal eine Grundregel unseres Berufes, die im Regelfall selbst Praktikanten nach der ersten Woche verstanden haben: 'Das Volk' hat keine Sorgen. Teile des Volkes machen sich Sorgen über Altersarmut, über die Gefahr von Einbruchskriminalität oder terroristischen Anschlägen, über zu hohe oder zu niedrige Steuern, über einen zu hohen oder zu niedrigen Mindestlohn. Übrigens alles Themen, mit denen sich Parlament und Regierung befassen. Die Ergebnisse finden jeweils Teile des Volkes toll, blöd, egal."

Im Tagesspiegel stellt Peter von Becker klar: "Eine neue Political Correctness spricht nun immerzu von den 'Sorgen' der Bürger, die von der Politik 'endlich' thematisiert werden müsse. Solche Sorgen gibt es tatsächlich: etwa in Fragen der Rentensicherheit und (künftiger) Altersarmut... Aber: Es gibt auch die Phantomschmerzen derjenigen, die von der 'Flüchtlingswelle', der 'Überfremdung' und 'Islamisierung' in Gebieten reden, wo kaum Flüchtlinge, Ausländer, Migranten leben. Es gibt 'Sorgen', die in Wahrheit reine Ressentiments sind, Ausdruck von aggressivem Rassismus. Von einem neuen Faschismus zudem, der nach neuen starken Führern verlangt: à la Trump, Orban, Erdogan, Putin."

Und hier noch ein Beitrag garantiert ohne Trump-Bezug: Seit die Bildzeitung 2013 mit BildPlus eine Zahlschranke für ihr Online-Angebot eingeführt hat, sind SZ, FAZ und Spiegel Online ihrem Vorbild gefolgt und haben auch die Bezeichnung "Plus" übernommen, stellt Ilija Matusko in der taz fest: "Plus suggeriert: Es gibt mehr Auserwähltes, das Beste vom Besten. Den Produkten ist allerdings anzusehen, dass sie mehr auf Erlöse zielen. Auf der Suche nach einem Geschäftsmodell wird viel ausprobiert, das ist nachvollziehbar. Bloß scheint es so, als wolle man Menschen nur über den Negativeffekt motivieren, sonst nicht an die bewährten, markengestützten Inhalte zu kommen. Die Branche krankt damit an einem Geburtsfehler ihrer digitalen Produkte: Diese versuchen, Grenzen und Hürden da einzuziehen, wo sie übergestülpt und künstlich erscheinen müssen. Doch digitale Information will verbreitet und geteilt werden. Sie schert sich nicht um die Bedingungen ihrer Produktion."
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Europa

Am morgigen Sonntag jähren sich die Terroranschläge von Paris mit 130 Toten und Hunderten Verletzten. Im Guardian zählt der französische Premierminister Manuel Valls auf, welche Maßnahmen angesichts der anhaltenden Bedrohung ergriffen wurden und noch zu ergreifen sind: "There is the EU, and then there is what each country should do at the national level: allocate the necessary financial resources and staff, and adapt legislation. We have done this in France in addition to developing a new security culture, which fully integrates the threat of terror into our daily lives. Every citizen should contribute to security, by learning first aid, by knowing how to react in the event of a terrorist attack, or by devoting some of their spare time to the security and defence forces. We are developing these policies in France, and I am pleased to say my compatriots have responded with enthusiasm."

Marc Zitzmann besucht für die NZZ das Pariser Archiv, in dem die Hommagen versammelt sind, die nach den Attentaten für die 130 Ermordeten gebracht wurden.
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Ideen

Die NZZ erinnert in ihrer Beilage Literatur und Kunst an den Universalgelehrten Leibniz, der vor dreihundert Jahren starb. Michael Kempe etwa rekapituliert Leibniz' Leben als Akademikerkarriere: Leibniz suchte "als vielseitig begabter Intellektueller zeit seines Lebens die Nähe zur politischen Macht, um auf diese Weise seine weitreichenden Pläne zur Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts verwirklichen zu können, auf den er als ebenso rationalistischer wie gottgläubiger Philosoph setzte. Unermüdlich antichambrierte er an den Höfen Europas, sprach zweimal beim Kaiser in Wien vor, traf dreimal den russischen Zaren Peter I. und hoffte noch 1716 auf eine Übersiedlung nach London, um dort am Hofe von Georg I. als Historiograf wirken zu können. Trotz seiner europaweiten Berühmtheit als Philosoph und Wissenschaftsorganisator (die Gründung der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften 1700 war wesentlich sein Verdienst) gelang es ihm nicht, in Wien, Paris oder London dauerhaft Fuß zu fassen." Außerdem schreiben Uwe Justus Wenzel (hier) und Karl-Heinz Ott (hier).
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