9punkt - Die Debattenrundschau

Dethematisierung, ja Verachtung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2016. Die türkischen Intellektuellen sind eingeschüchtert, schreibt Ilija Trojanow nach seiner Rückkehr von der Istanbuler Buchmesse in der taz. Politico.eu überlegt, wie die EU dem  Kaczynski-Regime Einhalt gebieten kann. Facebook macht bei Zensurtechniken Fortschritte, berichtet die New York Times. Die Diskussion um die VG-Wort-Entscheidung des BGH geht weiter. Verlegerin Susanne Schüssler schildert in der taz die Probleme der Verlage, Autorin Nina George reicht ihr Geld gleich weiter. Wolfgang Michal rät in diesem Kontext zu Fact Checking. Und, ach ja: Donald Trump. Er hat der New York Times ein erstes stubenreines Interview gegeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.11.2016 finden Sie hier

Europa

Die Intellektuellen in der Türkei sind eingeschüchtert, schreibt Ilija Trojanow nach seiner Rückkehr von der Istanbuler Buchmesse in seiner taz-Kolumne. Zu den Mitteln der Einschüchterung gehört etwa die Inhaftierung der Schriftsellerin Aslı Erdoğan, der nicht mal medizinischer Beistand gewährt wird: "Die Anklageschrift, die gegen sie vorbereitet wird, verlangt lebenslange Haft wegen der 'Unterstützung einer terroristischen Organisation'. Das ist die staatliche Keule par excellence, die auch gegen viele andere geschwungen wird. Übersetzt bedeutet dieser juristische Mummenschanz: Da alle Gegner der Regierung Terroristen sind, erfüllt das Einfordern von Rechten gemäß der türkischen Verfassung den Tatbestand des Terrorismus."

Paul Taylor von politico.eu trifft polnische Intellektuelle um zu erkunden, wie die EU auf das Kaczynski-Regime reagieren soll: "Marek Wasilewski, Redakteur des Kulturmagazins CzasKultury in Posen sagt, dass die EU zumindest zu symbolischen Sanktionen greifen solle, etwa zur temporären Aufhebung der polnischen Stimmrechte im EU-Parlament, um zu zeigen, dass man nicht zahnlos ist: 'Die Regierung spielt mit der EU, weil sie vermutet, dass sie nichts tun wird und eine bloße Quasselbude ist... Die Proteste gegen Abtreibung zeigen, dass sie zurückweicht, wenn sie starken Druck bekommt.'"

Barcelona ächzt unter seinen Touristen noch mehr als Berlin, leider führt Bürgermeisterin Ada Colau bisher noch keinen sonderlich erfolgreichen Krieg gegen die Tourismusbranche: Trotz saftiger AirBnB-Strafen steigen die Mieten, berichtet Diego Torres bei Politico. "Taleb Rifai von der UN warnte vor einer Politik, die den anti-touristischen Affekten der Bewohner nachgebe, also etwa die Zahl der Touristen zu begrenzen, die in die Stadt dürfen, oder die Zahl neuer Hotel-Lizenzen einzufrieren. Er schlägt höhere Steuern für das Gastgewerbe in der Innenstadt vor, damit die Touristen an den Stadtrand gehen. 'Das heißt Crowd Management' und Barcelona sollte diesen Weg gehen. Colau ist für einen direkteren Ansatz. Im März verabschiedete sie einen Plan, der neuen Touristen-Lizenen in der gesamten Ciutat Vella und anderen innerstädtischen Gebieten verbietet." Wir empfehlen Klebefallen hinter der Stadtgrenze.
Archiv: Europa

Geschichte

SZ-Reporter Julian Hans erlebt in Moskau, wie dort gerade russische Geschichte gemacht wird: "Unter dem Schriftzug 'Russland - meine Geschichte' neigen die Besucher ihre Häupter und küssen das Heiligenbild. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ist die Stunde null, damit beginnt die Ausstellung. Gemeinsam wurde Hitlerdeutschland besiegt, aber was tun die vermeintlichen Verbündeten aus dem Westen? Sie schließen sich zusammen, um die Sowjetunion zu vernichten! Auf einem großen Bildschirm steigen Atompilze auf. Daneben sind 'Pläne zur Bombardierung der UdSSR mit Atomwaffen' aufgeführt."
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

(Via turi2) Das Magazin Fakt des MDR hat herausgefunden, dass in den Depots der Stiftung Preußischer Kulturbesitz weit mehr Schädel und Skelette aus ehemaligen deutschen Kolonien lagern als bisher bekannt: "Teilweise stammen die Schädel von Aufständischen, die während der damaligen Kolonialkriege von deutschen Truppen hingerichtet und deren Körperteile zu Forschungszwecken nach Berlin geschickt worden sind." Stiftungschef Hermann Parzinger sagt dazu in einer Stellungnahme: "Diese Schädelsammlungen wurden angelegt aufgrund eines rassischen, rassekundlichen Wissenschaftsverständnisses. Das ist etwas, was man meiner Meinung nach restituieren muss."
Archiv: Kulturpolitik

Internet

In der New York Times berichtet Mike Isaac, dass Facebook an einer Zensur-Software arbeitet, die eine Rückkehr nach China erlauben könnte, weil sie bestimmte posts auf chinesischen Gebiet unterdrückt: "Das Feature, dessen Code für die Ingenieure des Konzerns einsehbar ist, wurde bisher nicht benutzt und noch nicht den chinesischen Behörden angeboten. Aber das Projekt zeigt, wie bereitwillig Facebook Kompromisse eingeht, selbst wenn es um sein proklamiertes Kernanliegen geht, 'die Welt offener und verbundener zu machen'."

Die Spendenkampagnen der Wikipedia wirken. Benjamin Fischer hat für faz.net hat bei der Stiftung erfragt, dass die Online-Enzyklopädie über ein Vermögen von 92 Millionen Dollar verfügt: "Alle Spenden, die wie in Deutschland bei den Landesgruppen eingehen, fließen zunächst geschlossen nach Amerika und werden von dort aus verteilt. Deutsche Spender überweisen ihr Geld auf das Konto der Wikimedia Fördergesellschaft. Nutznießer ist wiederum der Wikimedia-Verein."
Archiv: Internet
Stichwörter: Wikipedia, Facebook

Urheberrecht

Sind tatsächlich 20 bis 25 Prozent der Verlage in ihrer Existenz bedroht, wenn sie die den Autoren zustehenden VG-Wort-Ausschüttungen zurückzahlen? Oder verbreitet der Börsenverein Fake News?, fragt Wolfgang Michal in seinem Blog: "Man möchte ja doch wissen, wie der Börsenverein jene 'horrenden' Zahlen ermittelt hat, die er so 'überzeugend' hinausposaunt, dass sie ungeprüft von Zeitungen und Rundfunksendern übernommen werden. Anstatt sich über falsche Facebook-Berichte aufzuregen, könnten die Medienseiten ja mal prüfen, ob es sich bei den Zahlen des Börsenvereins um belegbare Fakten... handelt."

Die taz bringt ein von Sonja Vogel moderiertes Gespräch der Wagenbach-Verlegerin Susanne Schüssler und der Autorin Nina George zum Thema, die beide im im Verwaltungsrat der VG Wort sitzen. George versteht den Standpunkt der Verlage, die ihren Beitrag am Zustandekommen eines Buchs nicht gewürdigt sehen (obwohl die Autoren ja in der Regel nur zehn Prozent des Buchpreises bekommen): "Deshalb habe ich mich entschieden, die mir nun zustehenden Gelder an den Verlag abzutreten. Denn das fertige Buch in der Bibliothek oder im Copyshop gibt es nur, weil mein Verlag etwas dazu beigetragen hat."
Archiv: Urheberrecht

Medien

Erster Schritte zur Normalisierung? Donald Trump hat Redakteure der New York Times zum Interview getroffen. Erster Absatz des ganz frischen Berichts: "President-elect Donald J. Trump mäßigte einige seiner extremsten Wahlkampfversprechen, ließ sein Versprechen, Hillary Clinton ins Gefängnis zu stecken, fallen, drückte Zweifel über den Wert der Folter von Terrorverdächtigen aus und bekannte, dass er beim Thema Klimawandel offen sei." Hier das Transkript des Interviews. In der Washington Post erzählt Margaret Sullivan unterdessen, was alles beim Treffen von Trump und einigen der wichtigsten Anchormen des amerikanischen Fernsehens schief ging. Auch David Remnick schreibt im New Yorker über dieses Treffen und fürchtet, dass es keine "Normalisierung" bei diesem Präsidenten geben wird.

Im Guardian kann Lindy West unterdessen gar nichts mit dem begriff der Alt-Right, "Alternativen Rechte", anfangen und fordert ihre KollegInnen zur Klarheit auf: "Be brave, writers, and be honest. If you see a Nazi, say a Nazi."

Im Tagesspiegel gratuliert Gregor Dotzauer den Blättern für deutsche und internationale Politik, die mit der aktuellen Ausgabe ihr sechzigjährigen Bestehen feiern und in der Jürgen Habermas mehr Mut zur Metaebene fordert: "Rechtspopulismus lässt sich in seinen Augen nicht mit Linkspopulismus begegnen. Für ihn heißt die Devise 'Dethematisierung', Aufmerksamkeitsverweigerung, ja 'Verachtung'. So seltsam das für einen Anwalt herrschaftsfreier Kommunikation klingt, muss man ihm doch zugute halten, dass er damit einer ihrerseits in der reinen Verweigerung stecken bleibenden Rechten entgegentritt, die Redebereitschaft nur grinsend simuliert."
Archiv: Medien