9punkt - Die Debattenrundschau

Woran man sich nicht gewöhnt, ist die Kälte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2016. Nur ein kurzes Aufatmen in Europa: In Österreich siegt die Vernunft, in Italien aber Beppe Grillo. In Polen baut die Regierung derweil das Demonstrationsrecht ab, berichtet die taz. Die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan schickt in der SZ einen Brief aus ihrem türkischen Gefängnis. Die FAZ fürchtet um die Kultur und ihre Institutionen in Vorpommern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.12.2016 finden Sie hier

Europa

Lega Nord und die Cinque Stelle rufen die Niederlage Matteo Renzis beim italienischen Refendum als Siege für sich selbst aus, schreibt Stephanie Kirchgaessner in einer ersten Reaktion im Guardian, "die beiden Kräfte sind nicht alliiert, aber beide vehement gegen den Euro und die EU eingestellt. Allerdings ist klar, dass Italiener, die mit 'nein' stimmten, nicht unbedingt diese Parteien in einer allgemeinen Wahl unterstützen würden. Manchen war das Schicksal Renzis egal, und sie glaubten, dass Verfassungsänderungen im Moment aufsteigender Populismen gefährlich seien."

In der SZ nimmt Oliver Meiler es Matteo Renzi sehr übel, sich ohne Not verzockt zu haben, indem er das Referendum zur Abstimmung über sich selbst machte. "Gewonnen hat Beppe Grillo. Der Gründer und Guru der Protestpartei Cinque Stelle hatte die Italiener aufgefordert, nicht mit dem Kopf zu stimmen, sondern mit dem Bauch. Mit Wut. Wenn dies das einzige Programm für Italiens Zukunft ist - ja dann: Buonanotte."

Österreichs eindeutiges Votum gegen den FPÖ-Mann Norbert Hofer wertet Robert Misik im Standard nicht nur als Aufstand der Vernunft: "Das ist auch eine Absage der Wählerinnen und Wähler an einen Politikstil: einen Politikstil, der Wahlergebnisse nicht akzeptiert, einen Politikstil, der mit Herabwürdigung und Streuen von Gerüchten arbeitet, der davon lebt, Zwietracht zu säen."

In Polen sägt die Kaczynski-Regierung unterdessen weiter an den Freiheitsrechten der Bevölkerung. Nun wird die Demonstrationsfreiheit abgebaut, indem Kirchen und Staat bei Anmeldungen zu Demonstrationen Vorrang erhalten, berichtet Gabriele Lesser in der taz: "In den letzten Monaten gab es in ganz Polen immer wieder Straßenproteste gegen die PiS-Regierung. Millionen Polen folgten den Demonstrationsaufrufen des Komitees zur Verteidigung der Demokratie (KOD), Frauen protestierten massenhaft gegen das absolute Abtreibungsverbot, Lehrer und Eltern protestierten gegen die Abschaffung der Mittelschule... In Zukunft wird es nun ganz einfach sein, eine unliebsame Demonstration zu verhindern. Es muss lediglich eine staatliche oder kirchliche Aktion am gleichen Ort und zur gleichen Zeit angemeldet werden."

In der Berliner Zeitung meldet Philipp Fritz, dass die engagierte Leiterin des Polnischen Institituts in Berlin Warschaus kulturpolitischer Agenda zum Opfer gefallen ist: Katarzyna Wielga-Skolimowska wurde mit sofortiger Wirkung abberufen. 

In der FR plädiert der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza für Vielfalt, aber bitte unter dem Primat des Grundgesetzes: "Wenn ein Mitbürger muslimischen Glaubens sein bürgerliches Engagement aus seinem Glauben schöpft, so muss dies nicht weiter hinterfragt werden."

Außerdem: Pierre Briançon lotet für Politico die Tiefe von François Fillons Russland-Liebe aus.
Archiv: Europa

Politik

"Woran man sich nicht gewöhnt, ist die Kälte", schreibt die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan, die seit drei Monaten im Gefängnis sitzt, in der SZ: "In den vergangenen vier Monaten sind mindestens 40.000 Menschen unter kafkaesken Umständen verhaftet worden, ihre Schuld: Name im Impressum, Konto in einer 'bedenklichen' Bank, Unterschrift unter einer Karikatur, 'unterschwellige Botschaften'. Willkür, Mobbing und Rechtlosigkeit bestimmen unser Leben noch mehr als nach dem Putsch von 1980; ein Leben kann durchgestrichen werden, nur weil ein Nachbar Lust aufs Denunzieren verspürt, oder weil ein Staatsanwalt seinen Ehrgeiz befriedigen muss. Abartigste Anklageschriften werden binnen weniger Tage aufgesetzt, schwerbewaffnete Polizisten stürmen Häuser. Es reicht, dass die betroffenen Politiker, Gewerkschafter, Journalisten, Wissenschaftler aus irgendeinem Grund der Regierung nicht gefallen."

Einige Intellektuelle, darunter Michael Naumann, Volker Schlöndorff, Peter Schneider, rufen zu einer Demo vor der russischen Botschaft auf, um gegen die fortwährende Bombardierung der Zivilbevölkerung in Aleppo zu protestieren: "Vor einigen Tagen haben wir uns spontan entschlossen, wenigstens ein kleines Zeichen gegen das dröhnende Schweigen der Zivilgesellschaft... zu setzen.  Für Putin und den Schlächter Assad sind Hunderttausende von Menschen, die noch im Ostteil Aleppos leben - Frauen, Kinder, Alte, Schwerverletzte und auch Rebellen, die einmal friedlich für mehr Freiheit und Demokratie in Syrien demonstrierten - nichts als Terroristen und Isis-Kämpfer. Ganz offen werden sie jetzt mit 'Vernichtung' bedroht, falls sie sich nicht fügen und die Stadt verlassen." Leider waren die Initiatoren nicht in der Lage, ihren Aufruf auch online zu stellen, darum hier Ort und Termin: am Mittwoch, den 7. Dezember um 13 h vor der Russischen Botschaft.
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Hanns-Georg Rodek freut sich in der Welt, dass die EU nun ein Instrument geschaffen hat, um verbotene Wirtschaftsförderung von erwünschter Kulturförderung zu unterscheiden, in der die Nationalstaaten frei bleiben: "Maßgeblich für die Beantwortung der Frage 'Beihilfe oder nicht?' ist künftig der Anteil der öffentlichen Finanzierung von Kulturprojekten. Beträgt dessen Anteil 50 Prozent oder mehr, liegt automatisch keine Beihilfe vor. Die regional wirkenden Kulturförderungen sind ebenfalls von einer Anwendung des EU-Beihilferechts ausgenommen."

Mit Vehemenz setzt sich Jan Brachmann in der FAZ für die bedrohten Kulturinstitutionen in Vorpommern ein: Ja, "in Vorpommern gibt es engagierte, demokratiefähige Bürger, die lieben tatsächlich ihre Oper, ihr Ballett, ihr Theater, das seit 1994 die Spielstätten Greifswald, Stralsund, Putbus umfasst; und das Theater liebt sie. Beim Premierenapplaus nach Richard Wagners 'Tannhäuser' fliegt in Stralsund eine rote Rose über den Orchestergraben - von der Bühne ins Parkett. Sie sagt: 'Danke, dass ihr da seid und für uns kämpft.'"
Archiv: Kulturpolitik

Internet

In SZ und Guardian plädiert Evgeny Morozov für eine Art Datenpopulismus, um Rechtspopulisten und InternetGiganten etwas entgegenzusetzen: "Daten und KI, die auf ihnen aufbaut, müssen öffentlicher Besitz bleiben. Nur so können Bürger und öffentliche Einrichtungen sichergehen, dass Firmen sie nicht mit Kosten für Dienste erpressen, die ja letztlich die Öffentlichkeit selbst geschaffen hat. Statt Amazon für die KI-Dienste zu bezahlen, die mit unser aller Daten konstruiert wurden, sollte Amazon verpflichtet werden, diese Gebühr an uns zu entrichten."

In der NZZ setzt der Soziologe Dirk Helbing seine ganze Hoffnung auf die Industrie 4.0: "Roboter könnten für uns all die Güter produzieren, die wir zum Leben brauchen. Die so gewonnene Zeit würden wir mit kreativen und sozialen Tätigkeiten, Erkenntnisgewinn und Umweltschutz verbringen."
Archiv: Internet