21.12.2016. Einen Tag nach dem Blutbad an der Gedächtniskirche versuchen die Medien ohne Faktengrundlage zu diskutieren: Zurückgewiesen werden auftrumpfende Rechtspopulisten wie Nigel Farage und die AfD, die Angela Merkels Flüchtlingspolitik verantwortlich machen. Gerne beweihräuchern sich die Medien aber schon mal selbst und loben sich für ihre Zurückhaltung. Nur Stefan Niggemeier fragt sich, wie zurückhaltend es war, ohne Faktengrundlage einen Verdächtigen zu küren. Und die Öffentlich-Rechtlichen begeben sich in Handschellen...
Europa, 21.12.2016
"Das sind
Merkels Tote" - so sagte es direkt nach dem Anschlag die AfD, und die CSU fordert bereits eine neue Sicherheitspolitik. Die Zeitungen machen sich das weitgehend nicht zu eigen, aber der Vorwurf,
Merkels Flüchtlingspolitik sei irgendwie mitschuld an dem Attentat, wird in der Berichterstattung so oft wiederholt, dass er sich schon fast als wahr manifestiert hat.
"Die Regierung muss die Frage beantworten, ob sie mit ihrer
unbedachten Grenzöffnung im Herbst 2015 die Sicherheit des Landes gefährdet hat",
meint in der
NZZ Eric Gujer. Auch wenn er einen Satz später zugeben muss, dass dieser "Vorwurf in mancher Hinsicht
ungerecht und polemisch ist, weil sich Deutschland bereits seit der Jahrtausendwende im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus befindet. Die
Attentate des 11.
September 2001 wurden in Hamburg vorbereitet, wenig später richteten sich die ersten Anschlagspläne auch gegen Deutschland selbst. Sie konnten durch unermüdliche Fahndungsarbeit und viel Glück meist vereitelt werden."
In der
Berliner Zeitung fragt Jochen Arntz, ob eine
Grenzschließung ein Attentat wirklich unmöglich machen würde: "Glauben wir wirklich, Terroristen hätten
keinen anderen Weg gefunden als den durch die offenen Grenzen? Glauben wir, sie wären nicht hergekommen, wenn wir auch die Schutzsuchenden abgewiesen hätten? Nein. Aber Tatsache ist: Unser Leben, wie wir es gewohnt waren, ist bedroht. Gegen diese Bedrohung aber helfen uns
keine Populisten und Leute, die auf dem Rücken der Opfer jetzt politische Gefechte austragen. Gegen diese Bedrohung helfen Polizei, Grenzschutz und auch Geheimdienste. Gegen diese Bedrohung hilft die Überwachung von Verdächtigen, wo immer sie auch herkommen mögen."
Rudolf Balmer
erinnert in der
taz an das
Attentat von Nizza, das in Frankreich sehr schnell zu scharfer Kritik wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen führte - die Nation war nicht mehr geeint: "Das Attentat von Nizza war in doppelter Hinsicht
eine Wende in der Konfrontation mit dem Terrorismus des IS. Neu war das Vorgehen mit einem Laster als Waffe für einen Massenmord. In gewissem Sinne stellte es auch einen
nachträglichen '
Erfolg' des Attentäters dar, dass sich wegen der Polemik über die Prävention und Bekämpfung des Terrorismus solche Risse in der trauernden Nation bildeten."
Auch in
Britannien wird erbittert über das Berliner Massaker diskutiert - besonders seit der Populist
Nigel Farage in einem Tweet Angela Merkel für die Toten verantwortlich machte. Viel retweetet wird eine
Antwort von Matthew d'Ancona in
gq-magazine.co.uk, der fragt, ob man tatsächlich durch eine
Steigerung der Einwanderung eine Steigerung des Terrorismus bekomme: "Die
Faktenlage - erinnern Sie sich an dieses Zeug aus der Zeit, bevor das 'Postfaktische' in Mode kam? - weist in eine andere Richtung. Ja, es gab Terroristen, die die Migrantenrouten ausnutzten. Aber die meisten islamistischen Extremisten sind
hierzulande herangewachsen - Das Problem liegt nicht bei den Newcomern, sondern bei der Radikalisierung hiesiger Bürger. Der Mordimpuls kommt aus Laptops, nicht aus Migration." Ähnlich sieht es Jürgen Kaube in der
FAZ.
Medien, 21.12.2016
Die Medien bescheinigen sich allenthalben einen gereiften Umgang mit "Breaking News". In der
taz schreibt Amna Franzke: "Das Format '
Was wir sicher wissen und was wir nicht wissen' scheint bei vielen Online-Nachrichtenseiten mittlerweile zum Standard für Breaking-News-Situationen geworden zu sein. Die Auflistung aller bestätigten Fakten und unbestätigten Meldungen trug dazu bei, dass Leser*innen sehr schnell erkennen konnten, welche
Meldungen im Netz echt sind und welche nicht."
Stefan Niggemeier ist in seinem Blog
nicht ganz so überzeugt, dass das Format funktioniert hat und zitiert die
dpa-Meldung über den
angeblich mutmaßlichen Täter, die die ganze deutsche Öffentlichkeit auf eine falsche Spur führte: "Der festgenommene mutmaßliche Fahrer
könnte nach Erkenntnissen aus Sicherheitskreisen ein Pakistaner oder Afghane sein. Er
sei wohl als Flüchtling eingereist." Niggemeiers Kommentar: "Das ist ziemlich
exakt das Gegenteil dessen, was ein 'Was wir wissen'-Listenpunkt wäre: Eine anonyme Quelle, eine Möglichkeit anstelle einer Tatsache (und diese Möglichkeit besteht dann auch noch aus zwei Möglichkeiten), ein vages 'wohl', das die Einreise als Flüchtling relativiert." Weniger zufrieden ist auch Michael Hanfeld, der in der
FAZ Noten für die
Berichterstattung der anderen über den Anschlag in Berlin
vergibt.
Manche Journalisten reden lieber selber gleich
wie der Erzbischof aus der Gedächtniskirche.
Spiegel online-Kolumnistin Margarete Stokowski
schreibt: "Wie soll man Weihnachten feiern, nach dem Schock von Berlin? Jetzt ist es wichtig, nach Hause zu fahren, gemeinsam mit der Familie zu diskutieren und zu trauern - und sich
auf die Werte zu besinnen, für die dieses Fest steht."
Und auch die
Zeit hat eine
Botschaft des Friedens, die allerdings nur gegen Cash erhältlich ist:
Der Burgfriede zwischen den
Zeitungsverlegern und den
Öffentlich-Rechtlichen wird gefestigt. Laut der Sendung "Zapp" (
hier) und
turi2 (
hier) haben sich BDZV-Boss
Mathias Döpfner,
ARD-Chefin
Karola Wille und
NDR-Intendant
Lutz Marmor auf eine Formel für den
Online-Auftritt der Sender geeinigt: "Demnach sollen die Sender eine Art Selbstverpflichtung eingehen: Auf den Startseiten der Online-Angebote zeigen die Sender maximal
ein Drittel Text, der Rest müsse aus Bildern, Video und Audio-Playern bestehen." Bei "Zapp" heißt es melodramatisch: "Der öffentlich-rechtliche Rundfunk könnte sich bei seinen Online-Aktivitäten schon bald
selbst Handschellen anlegen."
Lorenz Lorenz-Meyer, Professor für Online-Journalismus,
findet in
Carta, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen aber nicht von den
übermächtigen Verlegern beeindrucken lassen und weiter ungeniert im Netz ausbreiten sollten: "Die vom Verfassungsgericht in Urteilen von 1987 und 1991 postulierte und auch im Rundfunkstaatsvertrag verankerte '
Bestands- und Entwicklungsgarantie' sichert den öffentlich-rechtlichen Medien nicht nur eine hinreichende Finanzierung, sondern auch die Freiheit, ihrem Grundversorgungsauftrag gegebenenfalls auch mittels neuer Dienste und Verbreitungswege nachzukommen. Sich dabei auf die rein audiovisuellen Formate des klassischen Rundfunks zu beschränken, ist angesichts der essentiell multimodalen Welt zeitgemäßer digitaler Medien
absoluter Blödsinn."
Politik, 21.12.2016
Jürgen Gottschlich
kommentiert in der
taz die erstaunlich sanfte Reaktion
Russlands auf den Mord am russischen Botschafter in Ankara, die auf eine neue Allianz hindeute: "Putin agiert geschickt, wenn er Erdoğan damit schmeichelt, nur die
Türkei,
Russland und
Iran hätten in Syrien genug Einfluss, um etwas zu bewegen. Wohingegen die westlichen Mächte, allen voran die USA, doch nur Propaganda betrieben. Für Putin ist die Rolle Erdoğans in den Syrien-Verhandlungen klar. Er soll leisten, was die USA nicht geschafft haben, nämlich die Rebellen und Dschihadisten, die die Türkei, Katar und Saudi-Arabien seit Jahren unterstützt haben, nach deren Niederlage in Aleppo zu einem
Agreement mit dem Assad-Regime zu bewegen - und wenn es zunächst erst einmal nur ein Waffenstillstand ist."
Die türkische Regierung macht unterdessen die
Gülen-Bewegung für das Attentat auf den russischen Botschafter in Ankara verantwortlich,
berichtet Zeit online: "Die Behörden nahmen zunächst
vier Familienmitglieder des Attentäters fest. Am Dienstag erfolgten nach Informationen von Anadolu drei weitere Festnahmen. Unter den sieben Menschen in Polizeigewahrsam sind neben den
Eltern und der
Schwester des Täters drei weitere
Verwandte sowie der
Mitbewohner des Mannes. Einer der Festgenommenen soll an einer Gülen-Schule gearbeitet haben."
Dass der neue Berliner Staatssekretär für Stadtentwicklung
Andrej Holm mit 19 Jahren einige Monate für die
Stasi gearbeitet hat,
verbucht Götz Aly in der
Berliner Zeitung unter Jugendsünde. Dass Holm aber 2007 in seinem Buch "Revolution als Prozess" den damaligen venezolanischen Präsidenten
Hugo Chávez als "Ermöglicher" lobte und die "Strukturen der repräsentativen Demokratie" zugunsten einer rätedemokratischen ablehnte, macht ihn für das Amt eines Senators ungeeignet, so Aly: "Wer wie Holm aus dem sozialistischen Desaster Venezuelas 'Denkanstöße' importieren und noch 2014 mit der türkischen 'Jugendantifa' die Berliner Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte, gefährdet das Wohl der Stadt!"
Ideen, 21.12.2016
In der
NZZ sieht die russische Schriftstellerin
Elena Chizhova viel Ähnlichkeit zwischen Trump-Wählern und Putin-Anhängern: "
Ohne Putin gäbe es Trump nicht. Mit der Annexion der Krim hat der russische Präsident eine Pandorabüchse geöffnet, aus der sämtliche 'Armen und Benachteiligten' gekrochen kamen - und zwar nicht nur Russen, was noch verständlich gewesen wäre, sondern auch jene '
weißen Männer mit bestenfalls mittlerer Schulbildung und traditioneller sexueller Orientierung', die auf der anderen Seite des Atlantiks, am entgegengesetzten Ende der Welt, leben. Die amerikanischen Wahlen haben gezeigt, dass nicht nur die Russen (von denen viele tatsächlich unterhalb der Armutsgrenze leben)
im Herzen zutiefst gekränkt sind - weil die globalisierte Welt nicht mehr die ihre ist, weil der Nachbar eine bestimmte Automarke fährt oder - allgemeiner - weil ihre Hoffnungen geplatzt sind, ihr Leben verpfuscht ist."
Weiteres: Ebenfalls in der
NZZ steht der Soziologe
Heinz Bude dem neuen Hass gegen "Eliten" etwas ratlos gegenüber. Und
Hans Ulrich Gumbrecht findet im
Interview mit dem
TagesAnzeiger, die "Eliten" sollten jetzt einfach mal zuhören. Mit Blick auf die
Weihnachtsmärkte geißelt der Ethnologe
Thomas Hauschild in der
Welt die "Ignoranz politischer Eliten, die den Kontakt zu den Festen wie zu den Kleinkriegen an der Basis verloren haben".
Internet, 21.12.2016
Im Interview mit der SZ warnt der Arzt und Therapeut Jan Kalbitzer vor einer "Technophobie", die "dem Netz" oder "den Algorithmen" die Schuld an allem Elend in der Welt geben: "Wir sind derzeit durch das Internet mit so vielen neuen Informationen konfrontiert wie noch nie zuvor. Ich denke, dass viel von der gefühlten gesellschaftlichen Überforderung auch damit zu tun hat. Außerdem habe ich den Eindruck, dass das Argument der Filterblase oft ein Herabblicken ist auf Leute, die sich angeblich in solchen Filterblasen befinden. Wir werfen das gerne unseren 'gefühlten' Gegnern vor, das erinnert mich immer an Ehestreits, in denen es ja auch oft so parallele Realitäten gibt, aber man immer seine eigene Realität für unglaublich objektiv hält und dem anderen Verzerrung vorwirft."