9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne Verdacht auf ein Verbrechen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2016. Die Debatte über den Berliner Anschlag intensiviert sich. Wo die einen mit Überraschung ihre eigene emotionale Taubheit wahrnehmen, nehmen andere, wie Timothy Garton Ash im Guardian, den Anschlag in die Reihe Madrid, London, Paris, Nizza auf. Auch über die Sicherheitsbehörden muss diskutiert werden, meint die FAZ, und die Welt fordert entschiedene Worte der Politik gegen den Terror.  Außerdem: Die SZ erklärt, warum allüberall jetzt nicht mehr Demokratie, sondern mehr Republik gefordert ist. Und der Guardian reist auf den Todesstern der Überwachungsgesetze.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.12.2016 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Berlin

Stefan Kuzmany schreibt bei Spiegel online über seine emotionale Taubheit nach dem Berliner Anschlag: "Ich finde es schlimm, dass zwölf Menschen auf dem Breitscheidplatz sterben mussten, jeder zu früh und jeder sinnlos. Aber obwohl der Anschlag in Berlin stattgefunden hat, in der Stadt, in der ich seit bald 15 Jahren lebe, bleibt mir der Horror abstrakt." Und erklärt diese Empfindungslosigkeit gleich zur höheren Moral: "Trotzig bleibe ich dabei, menschenfreundlich zu sein, jetzt erst recht. Ich kann mich nicht dazu bringen, eine Gruppe zu hassen oder eine Religion für den Terror verantwortlich zu machen. Ich bin stur überzeugt davon, dass Schuld nur der Täter selbst trägt und jene, die ihn dazu manipuliert haben, seine Tat zu begehen."

Im Tagesspiegel singt Peter von Becker eine Hymne auf diese "heroische Gelassenheit": Es sei "ein gutes Zeichen auch in schlechten Tagen, wenn eine Gesellschaft wie jetzt die der Berliner Bürgerinnen und Bürger trotz aller Trauer ganz überwiegend mit Besonnenheit und ohne Verzagen reagiert. Wenn eine manchmal gewiss ruppige Stadt sich das im Grunde doch lächelnde Gesicht nicht zur trostlosen Grimasse verzerren lässt. Mit anteilnehmender Entspanntheit. Mit Empathie statt Hysterie."

Aber selbst wenn viele es nicht wahrhaben wollen, und sogar auf dem Weihnachtsmarkt ein trauriges business as usual wieder aufgenommen wurde: "Berlin reiht sich nun hinter Madrid, Paris, London und Nizza auf der Gedenkliste der größeren Terrorattentate in diesem Jahrhundert ein", schreibt Timothy Garton Ash im Guardian: "Der Name des Breitscheidplatzes, eines eher trostlosen, länglichen Areals in dem seltsam zentrumslosen Zentrum West-Berlins, wird nun zu einem Schlagwort für Terror, wie das Bataclan in Paris, die Atocha-Station in Madrid und die Pronmenade des Anglais in Nizza."

In der NZZ staunt Joachim Güntner über die Besonnenheit, mit der deutsche Politiker und Medien auf den Terroranschlag reagierten. Jürgen Kaubes Hinweis in der FAZ, Rechtsstaatlichkeit bestehe darin, "die Schuld dem Täter und nicht seiner Herkunft zuzurechnen", hält er allerdings entgegen: "Natürlich ist kein Flüchtling ein potenzieller Terrorist, nur weil er Flüchtling ist. Aber wenn man bei gewöhnlichen Kriminellen das Milieu heranzieht, um die Prägung ihrer Motive zu beleuchten, dann ist es nicht absurd, bei Tätern mit Migrationshintergrund auch ebendiesen Hintergrund mitverantwortlich zu machen. In juristische Haftung lässt sich zwar nur das Individuum nehmen, das verbrecherisch gehandelt hat. Die gesellschaftliche Haftung indes reicht weiter."

Mindestens einen "Hauch von Fatalismus" meint Richard Herzinger in der Welt aus den zurückhaltenden Reaktionen der Politiker herauszulesen: "Eine Rhetorik und Tonlage der Beschwichtigung und emotionalen Ruhigstellung der Bevölkerung bestimmt auch das Auftreten der Spitzen von Politik und Staat - als ob sie eine mögliche Aufheizung der öffentlichen Stimmung mehr fürchteten als die Gewalt der Terroristen selbst... Gerade um extremistischen und rassistischen Einpeitschern nicht das Feld zu überlassen, muss von den demokratischen Politikern auch eine klare und immer wieder überzeugend erneuerte Kampfansage an den Terrorismus formuliert werden."

Eine Debatte über die Sicherheitsbehörden ist nun auch fällig, meint Christian Geyer in der FAZ, der staunt, dass  es jemandem, der bekanntermaßen eine Waffe besorgen will und Kontakte zur Salafistenszene unterhalt, so einfach "gelingt, einfach abzutauchen, nachdem die eine Behörde vor einer schwer staatsgefährdenden Tat Amris gewarnt, die andere Behörde ein Ermittlungsverfahren in dieser Sache wieder eingestellt hatte, weil, wie sie sagt, ein Straftatbestand nicht erkannt werden konnte. Was läuft hier systemisch schief?"

Hans-Christoph Buch stimmt dem in der Welt zu: "Dass der Anschlag gelang, obwohl Weihnachtsmärkte seit Jahren im Visier von Terroristen sind, gibt ebenso zu denken wie die Flucht des Hauptverdächtigen und die unglaublichen Verwerfungen, die langsam zutage treten, was dessen kriminelle Vergangenheit und das Versagen der Behörden anbelangt."

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Für die SZ schicken die britischen SchriftstellerInnen Deirdre Madden, A. L. Kennedy, Ben Rawlence und Adam Thirlwell Stimmungsbilder aus Großbritannien. Über das politische Klima nach dem Brexit-Votum schreibt Thirlwell: "Die Lager der Parteien wurden ersetzt durch die Befürworter von 'Leave' und 'Remain', was zeigt, wie fragil unser System ist. Es ist sinnlos geworden, einer Partei treu zu sein. Ohne solche Zugehörigkeiten verpufft aber die Struktur der Demokratie. Obwohl wir noch die Sprache der Demokratie und Freiheit benutzen, befinden wir uns bereits in einer neuen Landschaft voller Beschränkungen. In Diskussionen kontrovers um ein stillschweigend akzeptiertes Dogma zu kreisen, ist keine Freiheit. Freiheit bestünde darin, die Gültigkeit des Dogmas zu leugnen - des faschistischen Dogmas, dass man Menschen in ihrer Angst respektieren müsse, Menschen, die sich in der Angst vor Zuwanderung, in Engherzigkeit, Misogynie und Verdrossenheit einigeln."
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Religion

Ist die muslimische Demokratie Indonesien wegen einer immer stärkeren Radikalisierung des Islams gefährdet? Gerade wird dem christlichen chinesischstämmigen Gouverneur von Djakarta, Ahok, ein Blasphemieprozess gemacht. Ahok wird auch für gemäßigte Muslime im Land zu einer Identifikationsfigur, schreibt Marco Stahlhut in der FAZ: "Tatsächlich wird Ahok nicht nur von fortschrittlich gesinnten Künstlern und Intellektuellen, von Frauenrechtsverbänden und der überwältigenden Mehrheit von Angehörigen religiöser Minderheiten - neben Christen auch Hindus und Buddhisten - unterstützt, sondern von allen, die Angst vor einem endgültigen Sieg des konservativen und radikalen Islams im Land haben."
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Überwachung

Das einst als Königreich des Laissez-faire gepriesene Großbritannien ist gerade vom EuGH wegen seiner Überwachungspraktiken gerüffelt worden. Dies betraf die geltende Regelung mit Namen "Dripa". Aber nun kommt der "Investigatory Powers Act", den die Datenschutzaktivistin Martha Spurrier im Guardian als "Todesstern der Überwachungsgesetze" bezeichnet: "Er stellt all die Befugnisse wieder her, die von dem Urteil als unrechtmäßig erkannt worden waren - aber er geht noch viel weiter. Er zwingt Internetprovider, unsere gesamte Internethistorie aufzuzeichnen. Jede Website, die wir besuchen, jede, App, die wir öffnen, jede Sofware, die wir herunterladen. Was legen Ihre Internetsuchen offen, das in den Händen anderer gefährlich sein könnte, wenn Sie darüber nachdenken? Religion? Sex? Gesundheitsfragen? Politische Ansichten? So wie bei 'Dripa' können Hunderte von Behörden - vom Arbeits- und Rentenamt bis hin zur Glücksspielkommission diese Daten einsehen. Ohne einen Richter um Autorisierung bitten zu müssen. Ohne Verdacht auf ein Verbrechen."
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Stichwörter: Vorratsdatenspeicherung, Eugh

Politik

Nicht mehr Demokratie, sondern mehr Republik ist in Momenten der Krise gefragt, argumentiert Jens-Christian Rabe in der SZ. Die Republik schränke nämlich die Macht des Volkes ein, damit es nicht auf demokratischem Weg die Demokratie abschaffen könne: "Es ist kein Zufall, dass die Populisten überall die lautstärksten Lobbyisten von unmittelbarer Demokratie und Volksentscheiden sind. Derzeit zeigt die Entmachtung der Verfassungsgerichte in Polen, Ungarn und der Türkei durch rechtskonservative oder autokratische Regierungen, wie schnell es im Namen des Volkes mit der Teilung der Gewalten und liberalen Freiheiten, die für allzu selbstverständlich gehalten werden, vorbei sein kann."
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Gesellschaft

Der Philosophie- und Ethikprofessor Konrad Ott antwortet in der taz auf Richard David Precht, der neulich ebendort für Veganismus eintrat (unser Resümee). Ott sieht Nutztiere als "Augenblicksgeschöpfe, denen man nicht viel nimmt, wenn man sie nach einem guten Leben rasch und schmerzlos tötet und durch andere Tiere der gleichen Art ersetzt. Von Menschen unterscheiden sie sich hinsichtlich Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und Reflexivität. Tiere sind empfindende Wesen, aber keine geistig-diskursiven Wesen. Deshalb setze ich Menschen und Tiere nicht einfach moralisch gleich. Genau dies tun Tierrechtler." Bei einer Universalisierung von Tierrechten wären im übrigen laut Ott auch in anderen Kulturen Konsequenzen zu ziehen: "Wenn Tiere Rechte haben, dann haben sie sie immer und überall. Dann müssen sie auch die Mongolen, die Massai und die anderen nomadischen Tierhaltervölker beachten. Oder wir sagen: Das ist eine Moral nur für westlich urbanisierte Lebenswelten."
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