9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht einfach rhetorisch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2017. Alle diskutieren über den Silvestereinsatz der Kölner Polizei: Ist "Racial Profiling" in Deutschland ein Problem? Die dänische Parlamentarierin Ida Auken malt sich in ihrem Blog eine goldene, von Algorithmen gesteuerte Zukunft aus, die FAZ ist entsetzt. Slate.fr beschreibt, wie schwer es überlebende Opfer von Attentaten haben, ihr Trauma zu bewältigen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.01.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Im Tagesspiegel resümiert Johannes Schneider genervt die hysterische Debatte, die nach dem Kölner Silvestereinsatz ums sogenannte "Racial Profiling" entstanden ist. Immerhin wurden in diesem Jahr auf der Domplatte keine Frauen massenhaft sexuell belästigt. Ist das nichts? "Das Argument, dass Polizisten im Einsatz es eh schon schwer genug haben, mag dem einen oder der anderen etwas plump erscheinen. Es ist aber angesichts der diversen abzuwägenden Bedrohungen und Gefahren ebenso legitim wie der Verweis darauf, dass der Kölner Einsatz zum jetzigen Zeitpunkt durchaus ein Erfolg gewesen zu sein scheint. In einer explosiven Situation ist niemand körperlich zu Schaden gekommen. Das ist - natürlich - eine gute Nachricht."

Die Gegenposition vertritt unter anderem Stefan Niggemeier in seinen Uebermedien: "In einem Bahnhof in einer deutschen Millionenstadt werden Besucher  von der Polizei nach Hautfarbe sortiert und dann durch unterschiedliche  Ausgänge geführt: Wer südländisch aussieht, kommt nicht ungehindert auf den Platz, sondern landet in einer Kontrolle oder wird abgewiesen oder eingekesselt. Darüber soll man nicht diskutieren dürfen?"

23 mal sei sie in letzter Zeit von der deutsche Polizei kontrolliert worden, schreibt Sandhya Kambhampati bei Correctiv.org, jedes Mal frage sie nach dem Grund: "Natürlich weiß ich, dass diese Fragen überflüssig sind. Ich werde kontrolliert wegen meiner dunklen Hautfarbe. Wenn ich den Polizeibeamten dann meinen Pass zeige, scheinen sie stets überrascht, dass ich aus den USA stamme. Und nicht aus Indien, dem Land meiner Eltern. Ich finde das beleidigend. Wie kommt es, dass die Polizisten in einer europäischen Metropole solche provinziellen Stereotype mit sich herumtragen?"

In der Welt findet Birgit Kelle das fingerpicking bei der Erwähnung eines Migrationshintergrunds heuchlerisch: "Migrationshintergrund soll keine Rolle spielen, wir zählen aber den Migrantenanteil. Zumindest bei Grundschülern in meinem Wohnsitz NRW, nicht aber bei den Straftätern im Land. Bei letzteren wäre der Hinweis auf die Herkunft ja Rassismus, bei Grundschülern wiederum ist er gern gesehen. Dort geht es nämlich um die Verteilung von Geld und Lehrerstellen. Berlin wiederum erhebt die Statistik, ignoriert sie aber. Weil es rassistisch ist auszusprechen, dass über 80 Prozent aller Intensivtäter entweder türkischer oder arabischer Herkunft sind. Da wird in Feuilleton und Bundestag das 'postfaktische' Zeitalter beweint, gleichzeitig verschwinden Fakten in Schubladen oder werden praktischerweise nicht erfasst."
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Internet

Die dänische Parlamentarierin Ida Auken hat sich in einem Blogeintrag beim Weltwirtschaftsforum mal die Zukunft ausgemalt, wie sie uns blühen könnte: Die ganze Arbeit wird von Maschinen geleistet, die Menschen können tun, wozu sie lustig sind. Privatsphäre und Privateigentum sind abgeschafft - letzteres, weil man alles kostenlos bekommen kann und es darum immer nur ausleiht, wenn man es gerade braucht. Ressourcen werden so  vorbildlich genutzt: "Once in awhile I get annoyed about the fact that I have no real privacy. No where I can go and not be registered. I know that, somewhere, everything I do, think and dream of is recorded. I just hope that nobody will use it against me. All in all, it is a good life. Much better than the path we were on, where it became so clear that we could not continue with the same model of growth. We had all these terrible things happening: lifestyle diseases, climate change, the refugee crisis, environmental degradation, completely congested cities, water pollution, air pollution, social unrest and unemployment. We lost way too many people before we realised that we could do things differently."

In der FAZ ist Adrian Lobe gründlich entsetzt von dieser Utopie: "Der Gesellschaftsentwurf, den die Politikerin skizziert, ist eine Dystopie, weil alles Politische algorithmisch wegreguliert wird und sich in einer endlosen Unterhaltungsschleife auflöst. Man kann das heute schon bei Facebook sehen: Katzenvideos verdrängen Konflikt-Themen. Die Soziologin Zeynep Tufekci notierte einmal: 'Inmitten einer Revolte fühlt sich mein Newsfeed wie Disneyland an.'"
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Geschichte

Joel Whitney, Mitbegründer des superlinken Magazins Guernica, legt ein Buch über die kulturelle Einflussnahme der CIA im Kalten Krieg vor, das Patrick Iber in der New Republic bespricht. Er wolle "zeigen, dass die von manchen getroffene Unterscheidung zwischen einer 'guten, literarischen' CIA und einer 'bösen', die Linke auf der ganzen Welt drangsaliserte und Demokratie rund um den Globus unterminierte, künstlich sei. Whitneys Argument ist, dass die Regierung Kultur zur Waffe gemacht habe und Medien kompromittierte, die noch heute dazu dienten 'unsere Interventionen zu rechtfertigen'. Der Begriff 'Fink' (Informant, Spitzel), den er im Titel benutzt, impliziert schon, dass die Hauptpersonen des Buchs Komplizen der Verbrechen der Agentur seien." Whitneys Bête noire ist die Paris Review, über die er schon 2012 bei Slate einen Essay publizierte.
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Stichwörter: The Paris Review, Noir, Spitzel

Europa

Die EU soll die Polen nicht allein lassen, fordert Piotr Buras in politico.eu. Er lehnt zwar Sanktionen gegen die europäische Standards verletzende Regierung ab, schlägt aber vor, dass EU-Institutionen und Politiker ihren Kollegen eine "klare Botschaft" senden und die Verletzungen verurteilen: "Solche Erklärungen mögen keine Gesetzeskraft haben, aber sie sollten nicht einfach als rhetorisch abgetan werden. Symbolik ist in diesen Tagen wichtig. Sie erzeugt Aufmerksamkeit und hilft eine gemeinsame Sprache eines Europas als einer wertebasierten Gemeinschaft über Grenzen hinweg entwickeln. Langfristig wäre eine solche Sprache eine wichtige Investition und vielleicht ein Baustein für eine wirkliche europäische Öffentlichkeit, die der EU-Demokratie immer noch abgeht."

Die Reporterin Lucile Berland publiziert ein Buch über die überlebende Opfer der Pariser Attentate von 2015 vor. Slate.fr bringt einen Auszug, in dem die Autorin beschreibt, wie schwierig es für Opfer und Angehörige ist, das Trauma zu bewältigen: "Die Rückkehr zur Normalität ist sowohl für die Überlebenden als auch für ihre Angehörigen, die nicht immer wissen, wie sie reagieren sollen, eine Herausforderung. Es gibt in diesem Fall zwei schlechte Lösungen, sagt der Psychiater Boris Cyrulnik in seinem Buch 'Ivres paradis, bonheurs héroïques': 'Die erste falsche Lösung liegt darin, die Überlebenden am Sprechen zu hindern. Die andere schlechte Lösung ist, sie zum Sprechen zu zwingen.' Die Angehörigen müssen diese schwierige Balance zwischen Sprechen und Schweigen permanent neu justieren."
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Medien

Der Spiegel feiert sich zu seinem siebzigsten Geburtstag selbst. Investigativ brillierte man zuletzt mit den Fußball-Leaks, aber insgesamt ist man vor allem gegen die SZ abgefallen, schreiben Anne Fromm und Daniel Bouhs in der taz: "Mindestens genauso wichtig ist für investigative Recherchen heute .. auch der Anschluss an die globalisierte Welt und damit an andere Medienhäuser. Allein: Beim bedeutendsten Verbund, dem Journalistenkonsortium ICIJ mit Sitz in Washington, ist der Spiegel außen vor - und damit bei Recherchen wie 'Offshore Leaks', 'Lux Leaks' und 'Panama Papers', die allesamt in der Süddeutschen erschienen." Auch Marvin Schade wirft bei Meedia einen kritischen Blick auf den Jubilar.
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Stichwörter: Der Spiegel, Panama Papers

Überwachung

Der Soziologe Nils Zurawski ist im taz-Gespräch mit Svenja Bergt skeptisch beim Thema Videoüberwachung und fürchtet eine Dynamik der Aufrüstung: "Niemand baut Kameras ab, weil irgendwo lange nichts mehr passiert ist. Im Gegenteil: Beim nächsten Mal kommen dann die Kameras mit automatischer Gesichtserkennung. Und danach die nächste technische Entwicklung."

In punkto Überwachung sind sich Linke und Rechte einig: Sie ist immer gut, wenn sie vom Staat kommt, meint der amerikanische Informatiker Christopher Soghoian, Cheftechniker der American Civil Liberties Union ACLU, im Interview mit der SZ. Obama habe nicht weniger abgehört als republikanische Präsidenten vor ihm. Hacker könnten zwar vor Gefahren warnen, aber sie würden zu wenig gehört: "Hacker können sehr gut die Schwächen unserer technischen Altlasten verdeutlichen. Aber der Hacker-Gemeinde fällt es schwer, den Ball ins Tor zu bringen. Es hätte nicht so einfach für die NSA sein dürfen, Angela Merkels Telefon abzuhören. Aber Deutschlands Telefonnetzwerke hatten Schwachstellen, die Hacker schon lange kannten. Diese Erkenntnisse wurden auf Hacker-Kongressen vor einem kleinen Publikum präsentiert, die Medien schrieben darüber. Aber fünf oder zehn Jahre später sind die Netze immer noch angreifbar."
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