9punkt - Die Debattenrundschau

Das absehbar erfolglose Wüten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2017. In einer E-Mail an den New Yorker erklärt Philip Roth, was Donald Trump von Charles Lindbergh unterscheidet, und warum wir jetzt Melville lesen sollten. In Politico blickt Francis Fukuyama mit der Neugier eines Laborleiters auf das Experiment Trump.  In Zeit online fordert der Grünen-Politiker Malte Spitz eine Meldepflicht für Überwachungskameras.  Und das Max-Planck-Institut für Ethnologie in Halle hatte trotz Protesten und Berichten in der Jüdischen Allgemeinen und der Welt kein Problem damit, einen Holocaust-Relativierer einzuladen, der Fake News über Gaza verbreitet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.01.2017 finden Sie hier

Politik

Philip Roth hat im Jahr 2004 den kontrafaktischen Roman "Verschwörung gegen Amerika" veröffentlicht, in dem 1940 Charles Lindbergh zum Präsidenten gewählt wird, dessen Slogan "America First" lautete und der starke Sympathien für Hitler hatte. Judith Turman vom New Yorker hat Roth per E-Mail gefragt, ob er glaubt, dass sein Roman nun von der Wirklichkeit eingeholt worden sei. Seine Antwort: "Es ist leichter, die Wahl eines imaginären Präsidenten wie Charles Lindbergh als die eines tatsächlichen wie Donald Trump zu begreifen. Lindbergh war trotz seine Nazi-Symapothien und rassistischen Neigungen ein großer Held der Luftfahrt, der enormen physischen Mut und aeronautisches Genie unter Beweis gestellt hatte, als er 1927 den Atlantik überquerte. Er hatte Charakter und Substanz und war zusammen mit Henry Ford der berühmteste Amerikaner seiner Zeit. Trump ist nur ein Trickbetrüger. Das eigentliche Buch über Trumps Urahn ist Herman Melvilles 'The Confidence Man', dieser tief pessimistische, kühn innovative Roman - Melvilles letzter - der genau so gut  'Die Kunst des Beschisses' heißen könnte."

Francis Fukuyama bekennt in Politico seine Faszination über die beginnende Trump-Ära, zumindest wenn man Amerika als eine Art Versuchsratte im Labor betrachtet: "Die Amerikaner glauben tief an die Legitimität ihres Verfassungssystems, vor allem weil es durch seine Gewaltenteilung Sicherungen gegen Tyrannei und exzessive Machtkonzentration in der Exekutive vorsehe. Aber dieses System ist noch nie durch einen Politiker herausgefordert worden, der Regeln und Normen untergraben will. So sehen wir uns also in ein großes Experiment versetzt, das zeigen wird, ob die Vereinigten Staaten eine Nation der Gesetze oder eine Nation der Menschen ist." Fukuyama ist übrigens optimistisch und sagt voraus, dass Trump an der "enormen Bürokratie" der USA scheitern wird.

Sven Hansen wirft in der taz der einst so verehrten Aung San Suu Kyi vor, die Minderheiten - etwa die Christen - in Birma nicht zu verteidigen und "trotz ihres starken Mandats jeglichem Konflikt mit den Generälen aus dem Weg zu gehen". Am meisten leidet die muslimische Minderheit der Rohingyas: "Der Konflikt erreichte am 9. Oktober 2016 eine neue Dimension, als eine bis dahin unbekannte Rohingya-Miliz, die mutmaßlich aus dem Ausland unterstützt wird, neun birmesische Grenzsoldaten tötete. Birmas Armee schlug brutal zurück. Laut Menschenrechtsgruppen wurden mehr als 1.200 Häuser abgebrannt, 86 Personen getötet, 450 verhaftet und zahlreiche Frauen vergewaltigt. 66.000 Rohingyas flohen nach Bangladesch. Das Militär blockierte Hilfe für die Opfer, derweil die Regierung den Rohingyas vorwarf, ihre Häuser selbst anzuzünden, um der Regierung zu schaden."
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Überwachung

Seit dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt wird immer wieder mehr Videoüberwachung gefordert. Aber Überwachungskameras stehen im ganzen Land - staatliche wie private, für die es keine Meldepflicht gibt. Bevor man also nach mehr Überwachung ruft, sollte man erst einmal eine Bestandsaufnahme der schon bestehenden machen, fordert der Grünen-Politiker Malte Spitz auf Zeit online: "Hat Anis Amri nur der Kamera im Bahnhof Zoo den Zeigefinger gezeigt oder auch der Kamera am Hoteleingang neben dem Breitscheidplatz? Ermittler wissen es in der Regel nicht. Statt einer Ausweitung der Videoüberwachung blind das Wort zu reden, brauchen wir zunächst eine Meldepflicht: Jeder Mensch und jedes Unternehmen, das öffentlich zugängliche Räume videoüberwacht, muss seine Kameras aktiv melden, bestehende und neue."
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Wissenschaft

Michael Wuliger hat als einer der ersten in der Jüdischen Allgemeinen darauf hingewiesen: Das Max Planck Institut für ethnologische Forschung in Halle hatte gestern den - offenbar nicht nur bei Nazis beliebten - Holocaust-Relativierer Norman Finkelstein eingeladen, der in seiner jüngsten Schrift - auf der Website des Instituts wird das brav weiterverbreitet - behauptet, dass die Hamas von Gaza keine Raketen auf Israel abfeuert und keine Tunnel gräbt. Über das "Märtyrertum" des Gaza-Streifens sollte er gestern auch reden. Wuliger dazu: "Falls die Ethnologen vom Max-Planck-Institut noch ein Thema für ihre nächste Veranstaltung suchen: Auch die 'herrschenden Darstellungen' des Berliner Lkw-Anschlags vom 19. Dezember 2016 beruhen bekanntlich auf Fehl- und gezielten Falschinformationen. Ein Video auf YouTube beweist es zweifelsfrei: Der Terroranschlag war ein Fake. Eingestellt hat es der User 'Lila Launebär'."  Mehr dazu von Alan Posener in der Welt.

Das Institut hat sich auf seine Website von der Einladung, die "von bestimmten Gruppen" kritisiert werde, ausdrücklich nicht distanziert. Die Mitteldeutsche Zeitung berichtet heute von Protesten gegen die Veranstaltung in Halle.
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Europa

In der FAZ glaubt die Ökonomin Waltraud Schelkle am heutigen Tag der Entscheidung des Supreme Court nicht, dass die Regierung May in Britannien die versprochene "Kontrolle" über ihr Land gewinnen wird: "Was diejenigen, die alles unter nationale demokratische Kontrolle bringen wollen, erfahren werden, ist dies: Keine anständige Demokratie ist durchgängige Herrschaft der Mehrheit. Natürlich gibt es Gründe, die Kontrolle der EU abzulehnen. Aber der Einfluss großer (ausländischer!) Arbeitgeber wird steigen. Nationale Gerichte werden auch dann nach geltendem Recht und Gesetz urteilen und nicht nach dem, was eine außer- oder innerparlamentarische Mehrheit grade gerne hätte."

Hier der Bericht des Guardian über die heute anstehende Entscheidung des Supreme Court.
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Stichwörter: Brexit, Supreme Court

Kulturpolitik

Im Tagesspiegel erinnert Bernhard Schulz angesichts wachsender Wohnungsnot in deutschen Großstädten daran, dass sozialer Wohnungsbau in Form von Hochhäusern mal eine Berliner Spezialität war: "Hier wurde schließlich mit dem Hansaviertel von 1957 ein bleibender Maßstab in städtebaulicher, architektonischer und sozialer Hinsicht gesetzt. Sich daran zu orientieren, wäre eine lohnendere Aufgabe für eine künftige Wohnungspolitik als das absehbar erfolglose Wüten gegen Immobilienfirmen und Bauspekulation."

Überall wird neu und modern gebaut, nur in Berlin bleibt die Städtebaupolitik ideenlos und provinziell, meint in der SZ der französische Journalist Christophe Bourdoiseau mit Blick auf die Schlossattrappe und weitere Bausünden: "Außerdem werden spannende Projekte totgespart. Der Hauptbahnhof war einer der mutigsten Architekturwürfe Berlins. Wie Gerhard Schröder sagte, ist aber diese 'Wurst' wegen Sparmaßnahmen 'abgebissen' worden. Der größte Kreuzungsbahnhof Europas verschwindet Jahr für Jahr hinter billigen Gebäuden, die an Autobahnhotels erinnern. Es wird hier kein spannendes Viertel mehr entstehen können. Der Berliner Politik ist es noch nicht mal gelungen, die Schätze der Neunzigerjahre zu nutzen. Die sogenannte 'Romantik der Ruine' war kein sinnloser Begriff. Sie hat Millionen Menschen angezogen und fasziniert. Lebendig ist nichts mehr geblieben."
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Internet

Correctiv-Chef David Schraven verteidigt gegenüber Stefan Winterbauer von Meedia das  - vorerst nicht bezahlte - Engagement des von einer Stiftung finanzierten Recherchedienstes bei Faceboook, wo es "Fake News" kenntlich machen soll: "Wir arbeiten nicht für Facebook, sondern auf Facebook. Wir kümmern uns darum, dass Lügen und Falschmeldungen als solche markiert werden. Das ist eine Kernaufgabe von Journalismus, vielleicht sogar der zentrale Kern." Definitionsschwierigkeiten hat er nicht: "Im Kern geht es aber darum, dass wir nicht nach Meinungen suchen, sondern nach nachprüfbaren Fakten. So etwas wie: Die Kirche wurde angesteckt. Das kann man nachprüfen und wenn die Kirche noch unbeschädigt da steht, war es eine Lüge."
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Medien

In The Nation überlegt Michael Massing, wie Medien auf Donald Trump reagieren sollen. Sein Vorschlag: Nicht nur über Donald Trump berichten, sondern viel mehr noch über Trumps America: "Nehmt jeweils einen Journalisten aus den Hochglanz-Ressorts - Stil, Reise, Essen, Immobilien, Kultur - und lasst sie über die vernachlässigten Regionen Amerikas berichten. Der Bible Belt könnte ein solches Revier sein. Wer ihm zugeteilt ist, würde regelmäßig über die rund 1.300 Mega-Kirchen berichten, sowie über die 200 kirchlichen Einrichtungen höherer Bildung, die über 1000 christlichen Sender und Dutzende von christlichen Verlagen, von deren Produkten viele auf den Bestsellerlisten auftauchen, ohne viel Aufmerksamkeit von den Medien zu erhalten. Ich würde auch ein Bluecollar-Team bilden, das sich die Welt der Fabrikarbeiter, der Zimmerleute, Klempner, Feuerwehrleute und Polizisten; ein Team für kleine Geschäftsleute, das Restaurants, Unternehmen, Kleinbauern, und Start-ups fern vom Silicon Valley im Blick behält."
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Stichwörter: Trump, Donald, Silicon Valley

Ideen

Isolde Charim will in der taz die Kritik an linker Identitätspolitik, die etwa von Mark Lilla vorgebracht wurde (unsere Resümees), trotz zutreffender Argumente nicht vollends unterstützen: "Frühformen linker Identitätspolitik, etwa Bürgerrechtsbewegungen in den 1960er Jahren, waren der Versuch, zum anerkannten Citoyen zu werden, sich in die abstrakte öffentliche Person einzuschreiben. Anders gesagt, diese Abstraktion so umzuformulieren, dass sie etwa auch die Frauen oder die Schwulen umfasst. Es war der Versuch, Teil dieser Abstraktion zu werden. Das war der Kampf um gleiche Rechte, um den Citoyenstatus. Erst dort, wo diese Auseinandersetzungen nicht funktioniert haben, wo sie an Grenzen gestoßen sind, ist jener Separatismus, jene Abgrenzung, jene Gettoisierung entstanden, die heute so viel gescholten wird."
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Religion

Auch die Aufklärung basiert auf dem Christentum, behauptet der katholische Priester und Ethikprofessor Martin Rhonheimer in der NZZ, ebenso wie die moderne Wissenschaft und die Erfindung des Individuums. Um den Islam zu integrieren, ist es jetzt notwendig, so Rhonhemer, dass der Westen "an seinem christlich fundierten Verständnis von Religion festhält und es unverrückbar allen Tendenzen entgegensetzt, die - im Namen falsch verstandener Religionsfreiheit und Toleranz - eine mit unserem Rechtsverständnis inkompatible Islamisierung der Gesellschaft zuzulassen bereit sind. Eine sich auf die religionsfeindlichen Aspekte der Aufklärung berufende Ächtung religiöser Heilsverheißungen als freiheitsfeindlich hingegen hätte totalitäre Züge. Sie würde indirekt den Staat überhöhen und eine säkular-freiheitliche politische Kultur untergraben."

In Frankreich ist ein "neuer Identitätskatholizismus" bereits feste im Anmarsch, notiert in der SZ Joseph Hanimann. "Ein Wort ist neuerdings besonders in den Vordergrund getreten: 'Sens commun', Gemeinsinn. So heißt eine 2013 entstandene politische Gruppierung, die sich mittlerweile der Partei 'Les Républicains' von François Fillon angeschlossen hat. Mit ihrer brillanten Sprecherin, der 27-jährigen Madeleine de Jessey, setzt sich die Gruppierung für die traditionelle Familie, klassische Geschlechterrollen, ein positives französisches Kulturverständnis ein und bekämpft In-vitro-Fortpflanzung oder das Fristenmodell bei der Abtreibung. Diese Identitätskatholiken hätten ihren Gramsci gelesen und begriffen, dass der Kampf auf der Ebene von Kultur und Gesellschaftsethik geführt werden müsse, stellen Beobachter fest."
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