9punkt - Die Debattenrundschau

Überreizt und unbeständig

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2017. Steht Frankreich vor dem Ende der Fünften Republik? Ein weniger überzeugendes Personal für die Präsidentschaftswahlen als in diesem Jahr hat die FAZ jedenfalls noch nie gesehen. Caroline Fourest fürchtet überdies in ihrem Blog, dass selbst in Frankreich die laizistische Linke auf dem Rückzug ist. Die Salonkolumnisten werfen einen Blick auf Donald Trumps gesundheitspolitische Vorstellungen und fürchten seine Nähe zu Impfgegnern.  Die taz setzt ihre Debatte über linke Identitätspolitik und "critical whiteness" fort.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.01.2017 finden Sie hier

Europa

Caroline Fourest steht in Frankreich für eine laizistische Linke - aber diese Idee ist auch in dem Land, das diesen Begriff erfunden hat, auf dem Rückzug. In ihrem Blog attackierte Fourest vor knapp einer Woche den sozialistischen Politiker Benoit Hamon, der sich ihrer Meinung nach von den Prinzipien des Laizismus entfernt - Hamon ist am Sonntag bekanntlich zum Kandidaten der Sozialistischen Partei für die Präsidentschaftswahlen gekürt worden. In einem neuen Blogeintrag erklärt sie ihre Kritik an Hamon: "Seit zwanzig Jahren kämpfe ich darum, dass die Linke laizistisch und antifundamentalistisch bleibt. Bis jetzt konnte ich im Ausland stolz sagen: 'Die französische Linke unterscheidet sich von den anderen, sie ist laizistisch geblieben, vor allem nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo.' Ich weiß nicht, ob ich es nach Sonntag noch sagen kann."

Zu den französischen Präsidentschaftskandidaten gehören nun also der Konservative François Fillon, der seine Frau vom Staat und politischen Freunden mit 100.000 Euro jährlich subventionieren ließ (wie der Canard enchainé herausgefunden hat), Benoit Hamon, der ein Grundeinkommen fordert, das den französischen Staat mit 400 Milliarden Euro belasten würde, der Linkspopulist (und Deutschlandhasser) Jean-Luc Mélenchon und die Rechtspopulistin Marine Le Pen. Hinzu kommt der Zentrist Emmanuel Macron. FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel rauft sich im politischen Leitartikel die Haare: "Frankreichs seit 1958 gewachsene Parteienlandschaft wirkt wie eine Welt von gestern. Die Anzeichen mehren sich, dass die politische Ordnung der V. Republik dem Untergang geweiht ist. Damit ist auch die Gewissheit von geordneten Machtwechseln dahin. Nie war Frankreich politisch so unberechenbar wie in diesem Wahljahr, nie das Wahlvolk so überreizt und unbeständig."
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Politik

Donald Trump ist fatal, wohin man blickt. Etwa in der Gesundheitspolitik, nicht nur wegen der geplanten Schleifung von "Obamacare", sondern weil er auch eine Affinität zu Impfgegnern hat, deren Papst Andrew Wakefield er 2016 und 17 mehrfach getroffen hat. Auch in seinen Tweets vertrat Trump die Verschwörungstheorie, dass bestimmte Impfungen Autismus auslösen. Die Impfprogramme werden in den USA von der Zentralregierung koordiniert. "Schon jetzt hat Trump in Sachen Impfung Schaden angerichtet", schreibt Ludger Weß bei den Salonkolumnisten: "Seine Äußerungen und Treffen legitimieren Verschwörungstheorien rund um das Impfen und verschaffen den 'Alternativmedizinern' Gehör bei Eltern, die verunsichert sind. Sollte sich das in sinkenden Impfraten niederschlagen, wird sich die Kindersterblichkeit in den USA messbar erhöhen und das Land wird wieder Seuchen erleben, die dort bislang als ausgerottet gelten."

Die liberale Linke muss "politisch robuster" werden, fordert die angesichts von Trumps Ungeniertheit fassungslose Soziologin Eva Illouz im Interview mit der FAS. Sie "muss ihr Vorgehen im politischen Spiel überdenken und erweitern. Das bedeutet nicht, dass sie auch die Regeln missachten soll, aber sie muss neue, kreative und wirkungsvolle Maßnahmen entwickeln, mit denen sie der völlig losgelöst wirkenden und agierenden Rechten begegnen kann. Das bedeutet etwa, zurück in die Viertel und Kommunen zu gehen und dort die Menschen zu organisieren - und in der politisch-medialen Arena knallhart zu agieren."

In der New York Times erklärt Paul Krugman, warum die Mexikaner ganz bestimmt nicht für eine Grenzmauer bezahlen werden und schon gar nicht über eine Grenzsteuer auf ihre Waren: "Wie Ökonomen schnell hervorhoben, werden Steuern nicht vom Exporteur bezahlt. Sie werden hauptsächlich vom Käufer bezahlt - das heißt, eine Steuer auf mexikanische Waren bezahlen am Ende die amerikanischen Verbraucher. Amerika, nicht Mexiko bezahlt also für die Mauer. Oops. Aber das ist nicht das einzige Problem. ... Unsere Regierung hat nicht immer das Richtige getan. Aber sie hat ihre Versprechen gegenüber Nationen wie Individuen gehalten. Jetzt steht all das in Frage. Jeder, von kleinen Staaten, die dachten, sie würden gegen russische Aggression geschützt, über mexikanische Unternehmer, die dachten, sie hätten garantierten Zugang zu unserem Markt bis hin zu den irakischen Dolmetschern, die dachten, ihre Dienste für die USA gewähre ihnen sichere Zuflucht, muss sich jetzt fragen, ob er behandelt wird wie ein kaltgestellter Auftragnehmer eines Trump Hotels. Das ist ein großer Verlust. Und möglicherweise unumkehrbar."
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Ideen

Christian Jakob untersucht in der taz-Debatte über linke Identitätspolitik die Ideologie der "Critical Whiteness", die im Namen einer Utopie des Antirassismus nur umso schärfere Abgrenzungen einführt: "Die Ohnmachtserfahrung vieler Nichtweißer leitet Critical Whiteness in einen ideologiestrengen moralischen Autoritarismus um. Die Antwort auf den zutreffenden Befund einer Welt ohne rassismusfreie Räume ist, einfach einem alternativen Diskursraum zu eröffnen. In dem werden die gesellschaftlichen Asymmetrien per moralischer Anrufung ausgeglichen: auf der einen Seite die weißen Täter, auf der anderen die sich selbst ermächtigenden Opfer. Die Sprecherposition wird zum entscheidenden Faktor. Recht hat hier, wer strukturell unterdrückt ist. Das weiße Täterkollektiv möge annehmen, was People of Color aus Rassismusbetroffenheit heraus äußern. Tun sie es nicht, ist es 'Derailing', Abwehr. Die Möglichkeit gemeinsamer politischer Organisation wird so verneint. Was eingerissen gehört, wird wieder aufgebaut."
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