9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Bild von frierenden Damen und Herren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2017. In der Welt macht Hamed Abdel-Samad auf die vielen Einreiseverbote in muslimischen Ländern aufmerksam.  Die Zeit erklärt zugleich, warum Saudi-Arabien und Ägypten zu Donald Trumps Einreiseverbot beflissen schweigen. Le Monde fragt sich nach weiteren Enthüllungen des Canard enchainé, wann sich François Fillon zu Ende demontiert hat. Die NZZ erzählt, wie der marokkanische König den Islam domestiziert. Und in der FR ruft Heinrich August Winkler die EU zum Handeln auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2017 finden Sie hier

Politik

Hamed Abdel-Samad will Donald Trumps Einreisestopp in der Welt nicht unbedingt unterstützen, aber er macht darauf aufmerksam, dass er sozusagen nur symmetrisch ist: "Natürlich ist dieser Erlass des US-Präsidenten diskriminierend, wenn er nur für Muslime gilt, während Christen, Bahai und Jesiden aus diesen Ländern ausgenommen werden sollen. Das ist eine Schieflage, an der nicht nur Trump schuld ist. Es sind auch nicht nur die sieben genannten Länder schuld, sondern die meisten muslimischen Staaten, die religiöse Minderheiten unterdrücken und schikanieren. Muslime können in anderen islamischen Staaten eine Zuflucht finden, solche Minderheiten dagegen sind auf den Westen angewiesen."

Martin Gehlen erläutert unterdessen in Zeit online, warum die beiden wichtigsten Länder der arabischen Welt, Saudi Arabien und Ägypten, fast gar nicht auf Trumps Einreisestopp reagierten - keineswegs aus Scham über Diskriminierung im eigenen Land: "Mit der innerarabischen Solidarität war es nie gut bestellt, obendrein dient Trumps provokantes Vorgehen ihren strategischen Machtinteressen. Denn der Visastopp zielt vor allem auf Intimfeind Iran und könnte dessen Annäherung an den Westen nach dem Atomvertrag wieder zunichtemachen. Zusätzlich sind mit Syrien, Irak und Jemen jene Länder betroffen, in denen die Islamische Republik wachsenden Einfluss ausübt. "

Najem Wali hat zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, aber das hilft nicht, wie er in der SZ schreibt: "Ich darf nicht nach Amerika einreisen, weil ich ein Muslim und Terrorist bin. Ein verrückter Staatspräsident legt fest, wer Terrorist ist und wer nicht. Das ist der größte Witz des 21. Jahrhunderts, wenn nicht gar aller Zeiten."
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Europa

In Frankreich demontiert sich der Präsidentschaftskandidat, der eigentlich den wichtigsten Damm gegen den Aufstieg Marine Le Pens bilden sollte, immer weiter selbst. Laut den neuesten Enthüllungen des immer am Mittwoch erscheinenden Canard enchainé hat Penelope Fillon, die Frau des konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon über die Jahre etwa 830.000 Euro aus der Staatskasse erhalten, ohne dass klar ist, wofür - plus 100.000 Euro von der Revue des deux mondes, die einem befreundetem Millionär gehört. Und Fillon findet keine Verteidigung, heißt es in einem resümierenden Artikel in Le Monde: "Seit der Skandal losbrach, hat der ehemalige Premierminister keine konsistente Argumentation gefunden. Jedes Mal, wenn er die Minen beiseite räumen will, in dem er etwa die Aufträge an seine Kinder, sein einziges Bankkonto oder die 'Frauenfeindlichkeit' der Enthüllungen ins Spiel bringt, wird er ungenauer, widersprüchlicher und ausweichender."

In Britannien werden derweil aus politischem Kalkül EU-Bürger drangsaliert, berichtet Sascha Zastiral auf Zeit online, mit Ausreiseaufforderungen und Abschiebedrohungen: "Unerwartet oft werden in diesen Tagen EU-Bürger festgenommen, in Abschiebehaft gesteckt und sogar ausgewiesen - und das wegen bisweilen lapidarer Vergehen. Der Independent berichtet, die Zahl der Betroffenen habe sich verfünffacht, seit die konservative Partei 2010 die Regierung übernommen hat."

Die britische Kulturszene wird nach dem Brexit-Schock langsam pragmatisch, berichtet in der NZZ Marion Löhndorf: "So etwa der Töpfer Grayson Perry, der 2003 den Turner Prize gewann; er hatte sich im Land umgesehen, um vorurteilslos und neugierig Fragen über Identität und Gesellschaft zu stellen. 'Die Leute sind es satt, von uns mit unseren schicken Häusern in Islington gesagt zu bekommen, wie sie fühlen und was sie denken sollen', sagte Perry nach dem Brexit-Votum. Er hatte für den Verbleib in der EU gestimmt, sieht das Resultat aber jetzt als Chance, ein neues Publikum zu erreichen - und als Auftrag für Künstler, mit denen ins Gespräch zu kommen, die sich vernachlässigt und ungehört fühlten." Auch Brian Eno hat im Guardian die selbstgefällige Haltung vieler Linker kritisiert, so Löhndorf.


Rührend und traurig liest sich Peter Schneiders FAZ-Bericht über die Reise einer Delegation des internationalen PEN zu einem Gefängnis nahe Istanbul, wo einige der 150 inhaftierten türkischen Schriftsteller und Journalisten festgehalten werden. Man kam nur bis zu einer Gefängnismauer, von wo aus man das Gefängnis gar nicht sehen konnte. Immerhin wurde "das anfangs verkündete Fotoverbot am Ende aufgehoben. Wir erhielten die Erlaubnis, uns im hinteren Teil des Platzes für ein Gruppenfoto aufzustellen; mitgebrachte Plakate mit der Aufschrift 'Ihr seid nicht allein!' durften wir allerdings nicht zeigen. So entstand denn - einziger sichtbarer Ertrag unseres Ausflugs - ein Bild von frierenden Damen und Herren, die im Schneegestöber auf einem kahlen Feld zu einem Foto im Nirgendwo zusammenrückten."
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Medien

Den fünf "W" des Journalismus - Wer, Was, Wann, Wo und Warum? - möchte Luke Burns im New Yorker zwei "A" hinzufügen: "Are you fucking kidding me?" und "Am I dreaming?".
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Religion

In Marokko hat Mohammed IV. einige Reformen hingelegt, die NZZ-Reporter Beat Stauffer höchsten Respekt abringen: So haben auf königliche Anordnung hin die Religionsgelehrten der "Ligue Mohammedia des Oulémas" anhand von sieben Begriffen den radikalislamistischen Diskurs "dekonstruiert", um islamistischem Fanatismus die religiöse Begründung zu entziehen. Und die Materialien für den Religionsunterricht an Schulen, die laut dem Schriftsteller Ahmed Assid oft "zu Hass und zur Ausgrenzung des Andersgläubigen aufrufen", wurden in kürzester Zeit reformiert. "Eine überwältigende Mehrheit der marokkanischen Zivilgesellschaft begrüßt diese Reform der islamischen Erziehung. Sie erblickt darin aber bloß einen ersten Schritt, dem weitere folgen müssten."
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Stichwörter: Religionsunterricht, Marokko

Geschichte

In Polen wird eine Datenbank mit allen Tätern aus Auschwitz online gestellt - 8.502 Personen. Erstellt hat sie der Historiker Aleksander Lasik, berichtet Sven Felix Kellerhoff in der Welt: "Im Laufe der Zeit weitete er sein zunächst auf Zetteln, seit 1988 elektronisch geführtes Verzeichnis auf das Personal anderer Konzentrationslager aus, meist, aber nicht immer auf von der Wehrmacht besetztem polnischem Gebiet. Insgesamt umfasst seine Sammlung Informationen zu rund 235.000 SS-Leuten, von denen 9686 in einer Verbindung zu Auschwitz standen. Die meisten davon, eben 8502, waren auch tatsächlich in Auschwitz-Stammlager, Birkenau oder Monowitz eingesetzt."
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Ideen

Die Amerikaner werden Trump schon Widerstand entgegensetzen, beruhigt der Historiker Heinrich August Winkler im Interview mit der FR. Aber die EU muss jetzt ebenfalls handeln: "Es geht im erster Linie um die vertiefte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU, die sich ohne Wenn und Aber an die Kopenhagener Beitrittskriterien gebunden fühlen. Das sind die Beitrittskriterien von 1993, die im Grunde nichts anderes als eine europäische Kurzfassung des normativen Projekts des Westens sind: Menschenrechte, Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit. Doch es ist evident, dass es auch Mitgliedsstaaten der EU gibt, die sich daran nicht halten, die sich als illiberale Demokratien definieren. Ich denke da an Ungarn und Polen. Dieses Problem muss die EU lösen, denn sie kann sich nicht mehr als Wertegemeinschaft bezeichnen, wenn es über die Einhaltung ihrer Gründungsbedingungen keinen Konsens ihrer Mitgliedsländer gibt."

Die Globalisierung und die damit verbundenen Umwälzungen und Unsicherheiten macht viele Menschen zu "erschöpften Wertnostalgikern" oder gar zu Fanatikern, meint der Psychologe Ernst-Dieter Lantermann in der NZZ. Doch was werden die Folgen sein? "Was kommt auf eine von Kompromiss, Verständigung, Solidarität und Fairness getragene, demokratisch verfasste Gesellschaft zu, wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürger im Fanatismus einen attraktiven Ausweg aus ihrer quälenden Ohnmacht und inneren und äußeren Heimatlosigkeit sehen?"

Weiteres: Im Westen breitet sich ein neuer autoritärer Irrationalismus aus, warnt in der NZZ Martin Booms von der Akademie für Sozialethik und Öffentliche Kultur in Bonn. Schuld daran sei auch der Liberalismus, der eine Kehrtwendung vollzogen haben: "von einem humanistischen zu einem funktionalistischen Liberalismus, der die Idee der Freiheit, der Autonomie im Wortsinne der 'Selbstgesetzlichkeit', von den Menschen auf die Systeme übertragen hat."
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