9punkt - Die Debattenrundschau

Wunden des Stolzes und der Zusammengehörigkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2017. In der NZZ geißelt Serhij Zhadan die europäische Indifferenz gegenüber der Ukraine. Die Zeit staunt über die unverdrossen demonstrierenden Rumänen. Nick Cohen analysiert im Observer, wie aus natürlichen Alliierten Europas Gefangene des Trumpismus wurden.  Das Spiegel-Cover mit Trump als köpfendem Taliban sorgt für Diskussionen bis in die Washington Post. NZZ, taz und SZ reagieren eher ablehnend. In Britannien wird über die Gewaltexzesse des Privatschulsystems diskutiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.02.2017 finden Sie hier

Europa

Drei Jahre ist die Revolution in der Ukraine her, drei Jahre, in denen sich die Beziehung der Ukrainer zu Europa verändert hat, bemerkt bitter der Dichter Serhij Zhadan in der NZZ: "Wir haben begriffen und erfahren stets aufs Neue, dass Begriffe wie Demokratie und Würde für viele EU-Bewohner längst zu etwas Abstraktem geworden sind, zu etwas Vergangenem, das höchstens noch etwas mit politikwissenschaftlichen Abhandlungen, nicht jedoch mit dem realen Leben zu tun hat. Was kennzeichnet heute die Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU? Kredite, Gängelei, Versprechen. Ein offenes Lächeln der Politiker und geschlossene Grenzen für die Menschen. Aufgescheuchte Politiker und endlose Spekulationen in den Medien über den ukrainischen Nationalismus und Radikalismus, die angeblich die ukrainische Gesellschaft dominieren. Es fehlt an einem Dialog auf Augenhöhe".

Die Rumänen zeigen uns gerade, was Demokratie und Würde sind! Gerade haben Hunderttausende Demonstranten eine geplante Lockerung des Antikorruptionsgesetzes verhindert. Aber es wird immer noch demonstriert: Die sozialdemokratische Regierung, die diese skandalöse Lockerung beschlossen hat, soll zurücktreten, berichtet Silviu Mihai auf Zeit online. "Selbst wenn die Regelung tatsächlich zurückgenommen wird, fürchten viele neue Manöver. Etwa, dass die Politiker zu einem späteren Zeitpunkt erneut versuchen könnten, sich durch weitere Gesetzesnovellen, etwa durch einen bereits dem Parlament vorgelegten Entwurf zur Begnadigung bestimmter Straftaten, selbst zu retten. Deswegen fordern die Protestierenden nach der Rücknahme der Eilverordnung auch den Rücktritt des Kabinetts."

Krsto Lazarević lässt sich für den Freitag von dem 26-jährigen Afghanen Mielad Achkazai durch das Gelände hinter dem Belgrader Busbahnhof führen, wo rund 1.500 Flüchtlinge feststecken: "Er führt durch die heruntergekommenen Lagerhallen, in denen 1.500 Menschen ausharren. Es ist eine reine Männerwelt, Frauen leben hier nicht. In den Ruinen steigt beißender Rauch auf, weil mit Holz aus alten Balken der Schienenanlagen, Müll und Plastik geheizt wird. Richtig warm wird es trotzdem nicht. Draußen liegt noch Schnee, die Temperaturen sinken auf bis zu minus 16 Grad. Die Lungen beginnen schon nach wenigen Minuten zu schmerzen und die Augen zu tränen."

In der FR berichten Olivia Kortas und Kasper Goethals über die Lage der Flüchtlinge in Bulgarien: "Zwölfmal griffen bulgarische Grenzpolizisten Niazi in dieser Gegend auf. Er erzählt, wie sie sein Geld stahlen, ihn schlugen und zurück in die Türkei jagten. 'Drei oder vier Männer trugen schwarze Masken. Sie prügelten uns mit Schlagstöcken', flüstert Niazi. 'Meistens ließen sie die Hunde auf uns los.' Erst beim dreizehnten Mal konnte er in Bulgarien bleiben. Fast alle Männer in Harmanlis Lager erzählen von diesen sogenannten Push-Backs. Wenn Grenzpolizisten Migranten zurückschicken, brechen sie internationales Recht. Jeder, der EU-Boden betritt, darf einen Asylantrag stellen. Doch stattdessen beißen Schäferhunde an der EU-Außengrenze Flüchtlinge zurück. Das bestätigt Majd Algafari, der lange zwischen Grenzpolizisten und Migranten übersetzte. Bis heute dränge die Grenzpolizei Migranten gewaltsam zurück."

EU-Hasser Nigel Farage, der Mann, der maßgeblich hinter dem britischen Brexit steht und Ex-Parteichef der rechtspopulistischen Ukip, hat nicht nur eine deutsche Ehefrau, sondern ist auch eng mit der französischen Ex-Kellnerin Laure Ferrari verbandelt, die er 2007 in einem Cafe in Brüssel kennengerlernt hatte und innerhalb von Monaten zu seiner PR-Chefin machte, berichtet die Daily Mail. 2014 trat Ferrari der - von der EU finanzierten! -  Alliance for Direct Democracy Europe (ADDE) bei, einer Koalition aus anti-EU-Parteien, die einen Think Tank betreibt, das Institute for Direct Democracy Europe (IDDE), dessen Geschäftsführerin sie 2015 wurde. Und es kommt noch besser: "Late last year Miss Ferrari became caught up in the scandal involving Ukip funding ahead of the Brexit poll and the 2015 General Election, in which Mr Farage unsuccessfully tried to become an MP. The European Parliament announced that, following an audit, it discovered that the ADDE and IDDE had mis-spent €534,478 (£461,658) of taxpayers' cash on political parties and election campaigns, much of it benefiting Ukip. European Union money is only meant to be spent on activities at a European level, not on domestic campaigning." Kurz, Farage hat einen Teil seiner Brexit-Kampagne mit EU-Geldern finanziert. Man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll: Die Dummheit der EU oder die Heuchelei der Rechtspopulisten.

In der NZZ zeichnet der Autor Giorgio Fontana ein erdrückendes Bild Italiens, in dem er einen stärker werdenden Hang zu Gehässigkeit und Verschwörungstheorien wahrnimmt: "Vor ein paar Jahren ergab eine Untersuchung, dass weniger als drei Prozent der Italiener ihren Landsleuten vollkommen vertrauen, hingegen waren rund 22 Prozent der Überzeugung, dass fast alle Steuerflucht begingen (in Frankreich demgegenüber glaubten dies bloß 7 Prozent). ... Das Problem ist struktureller Art und hat vielleicht auch mit einer sprachlichen Eigenheit der Italiener zu tun. Zu den vorherrschenden Redeweisen in unserem Alltag gehörten schon immer Formeln der Nachsicht gegenüber sich selbst, für die der grassierende Argwohn wiederum die notwendigen Rechtfertigungen lieferte. Gleichgültig, ob sie stichhaltig waren. Im Gegenteil, gerade ihre Unüberprüfbarkeit ließen sie umso überzeugender erscheinen."

Außerdem: In der Zeit porträtieren Georg Blume und Elisabeth Raether den französischen Außenseiter und Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron.
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Medien

Das Spiegel-Cover - Donald Trump köpft die Freiheitsstatue mit blutigem Schwert - macht viel von sich reden. Gezeichnet wurde es von dem aus Kuba stammende Künstler Edel Rodriguez, der 1980 als politischer Flüchtling in die USA gekommen war , erläutert Malte Göbel in der taz. In der Washington Post zitiert Cllum Borchers den Künstler: "Es ist eine Köpfung der Demokratie, die Köpfung eines heiligen Symbols', sagt Rodriguez, denn die Freiheitsstatue stelle die Vereinigten Staaten dar, die die Immigranten willkommen heiße. 'Und klar, zuletzt war es der 'Islamische Staat' der mit Köpfungen assoziiert war, da ist ein Vergleich... Beide Seiten sind Extremisten, darum vergleiche ich sie.'"

Göbel ist in der taz nicht einverstanden mit dem Cover: "Wie will der Spiegel aufmachen, wenn die Lage in den USA weiter eskaliert? (...) Ihren Kopf verloren hat sie ja schon. Und der Spiegel seinen offensichtlich auch." Auch Jochim Güntner sieht das Cover in der NZZ kritisch: "Es geht nicht ums Dürfen. Es geht um die publizistische Kultur und darum, ob der Spiegel gut beraten ist, mit plumpen Botschaften zur Vergiftung des politischen Denkens beizutragen." Güntner zieht das weniger brachiale Cover des New Yorker mit der verlöschenden Fackel der Freiheit vor. Streng auch Detlef Essinger in der SZ: "Wer sein Publikum mit Klötzen wie IS und Hitler zustellt, der hat keine Kapazitäten mehr, um sich gegen Trumps Bausteine zu wappnen. Er geht dessen Medientricks immer von Neuem auf den Leim. Gleichsetzungen und Dämonisierungen erleichtern ihm sogar das Handwerk." Mehr bei der Berliner Zeitung.
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Kulturpolitik

Wir brauchen ein Einheitsdenkmal, aber vielleicht nicht unbedingt in Form einer Wippe, meint Christine Käppeler im Freitag. Sei schlägt statt dessen einen Park zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz vor: "Es gibt eine Serie der Künstlerin Taryn Simon, für die sie Blumengestecke nachbaut, die bei wichtigen internationalen Abkommen als Tischschmuck dienten. Eine andere Künstlerin, Kapwani Kiwanga, bildet Blumengebinde nach, die überreicht wurden, wenn afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten. Diese Blumen spiegeln das Offizielle, Staatstragende der Anlässe: Gladiolen, Anthurien, Orchideen. Die Blumen der friedlichen Revolution waren sicher andere. Welche genau damals in den Fenstern der Leipziger Nikolaikirche standen oder bei der Demo am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz Polizisten überreicht wurden - das kann man herausfinden, indem man die fragt, die dabei gewesen sind. So könnte im Park der Deutschen Einheit ein Beet entstehen, als work in progress im wahrsten Sinne des Wortes."
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Gesellschaft

Gabriele Goettle porträtiert in ihrer monatlichen taz-Reportage die Mieteraktivistin Margit Englert, Diplom-Biochemikerin, die sich in Berlin gegen Zwangsräumungen einsetzt:  Es gibt deutschlandweit täglich weit über 30.000 Zwangsräumungen. In vielen Fällen ziehen die bedrohten Mieter schon während der Räumungsklage aus. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Es wird von Psychologen davon ausgegangen, dass der Verlust der Wohnung dem Tod eines nahen Angehörigen gleich kommt. Es gibt nach Schätzungen mindestens 350.000 Obdachlose in Deutschland." (Anmerkung der Redaktion: es dürfte sich wohl um 30.000 Zwangsräumungen jährlich handeln, s. Kommentare.)

Nebenbei gibt es in Britannien eine kleine Diskussionen über die Exzesse des Privatschulsystems, nachdem der Fall des Schulpredigers John Smyth, der seine Schüler mit sadistischer Gewalt bestrafte, nach Jahrzehnten bekannt wurde. Ähnliches sei ihm selbst an einer Elite-"Public School" widerfahren, erzählt Giles Fraser im Guardian, sein Schuldirektor hatte eine ganze Sammlung von Ruten und Stöcken in seinem Büro und vollzog seine Strafen in einem Flur nahe einer kleinen Kapelle, manchmal mehrfach in der Woche: "Das wichtigste war, nicht zu wimmern. Ich wollte diesen Bastarden nicht die Genugtuung geben, mich weinen zu sehen. Oft gingen wir mit blutigen Unterhosen zu Bett. Und in den Schlafsälen, die nach den Militärhelden des Direktors - Drake, Trenchard, Marlborough, Churchill - benannt waren, tauschten wir uns flüsternd über den Sadismus aus und verglichen die Striemen auf unsern Hintern als Wunden des Stolzes und der Zusammengehörigkeit."
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Politik

Das schlimmste an Trump sind seine Anhänger, findet Nick Cohen im Observer. Und "die leidenschafltichen Anhänger sind nicht nur Rednecks. Zu ihnen gehören so hochgestellte Persönlichkeiten wie die britische Premierministerin und ihr Kabinett. Vor dem EU-Referendum hätte eine May-Regierung auf die undenkbare Wahl eines Präsidenten, der die Nato bedroht und Putin verzeiht, reagiert, indem sie sich enger an die europäischen Alliierten geschmiegt hätte. Aber Brexit hat die europäische Allianz Britanniens in die Krise gestürzt. Also müssen englische Konservative ihre Zweifel betäuben und und mit verzweifelter Heftigkeit hoffen, dass der angebliche 'Pragmatismus' Donald Trumps über seinen tatsächlichen Extremismus siegt, ein Glaube, der bis dato so viel Grundlage hat wie der Kreationismus."

Ziemlich gute Insiderinformation haben die New York Times-Korrespondenten Glenn Thrush und Maggie Haberman über die ersten Tage des Präsidenten Donald Trump - bis hin zu seiner Feierabendgestaltung: "So gegen 18.30 Uhr, manchmal ein wenig später, zieht sich Trump in die obere Etage, die Residenz, zurück, um sich zu erholen, auszulüften und ab und zu ein Tweet abzusetzen. Da seine Frau Melania und sein Sohn Barron in New York geblieben sind, ist er fast immer allein, manchmal in der schützenden Präsenz seines imposanten Gehilfen und Sicherheitschefs Keith Schiller. Wenn Trump nicht in seinem Morgenrock fernsieht oder am Telefon mit Wahlkampfberatern spricht, geht er zuweilen herum, um sein unvertrautes neues Heim zu erkunden."

Außerdem: Auf der Zeit online porträtiert Norbert Finzsch den Trump-Berater Steve Bannon, den viele als den bösen Geist hinter Trump sehen.
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